Asselborn: “Deutsche müssen Grenzkontrollen schnell wieder aufheben”
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/EJF2XPZSFHRUEE5JZEYNAH7CPU.jpg)
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn.
© Quelle: Julien Warnand/dpa
Brüssel. Jean Assselborn, Chefdiplomat des Großherzogtums Luxemburg, ist Europas dienstältester Außenminister. Der 70 Jahre alte Sozialdemokrat ist seit 2004 Außenminister und seit 2014 auch Minister für Immigration und Asyl.
Herr Asselborn, Luxemburg setzt ein Zeichen und will zwölf minderjährige Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen. Wann kommen sie an?
In Zeiten des Coronavirus-Ausbruchs ist das alles sehr kompliziert. Wir können nur über Telefon und Videoschalten verhandeln. Eigenes Personal haben wir nicht in Griechenland. Ich hoffe aber, dass wir die zwölf Kinder und Jugendlichen nächste Woche nach Luxemburg fliegen können.
Werden sich jetzt auch Deutschland und Frankreich bewegen? Immerhin ist es schon mehr als einen Monat her, dass sich mehrere EU-Staaten bereit erklärt haben, insgesamt 1600 Kinder und Jugendliche aus den griechischen Flüchtlingslagern aufzunehmen.
Wenn wir das als kleines Land schaffen, dann sollte es in Deutschland und Frankreich auch gelingen, unbegleitete Minderjährige aufzunehmen. Wir reden von etwa zehn Kindern und Jugendlichen pro halbe Million Einwohner. Das sind nun wirklich Zahlen, die verkraftbar sind.
Dennoch warnen manche EU-Staaten weiter vor einem Pull-Effekt. Sie fürchten, dass solche Verteilungsaktionen neue Flüchtlinge anlocken.
Das Argument lasse ich nicht gelten. Es kommen momentan keine neuen Flüchtlinge in Griechenland an. Außerdem haben wir in den letzten Wochen wegen des Virusausbruchs 300.000 EU-Bürger aus der ganzen Welt in die Europäische Union zurückgeflogen. Da sollte es doch möglich sein, einige tausend Jugendliche aus humanitären Gründen aus Griechenland zu holen.
Muss der deutsche Bundesinnenminister Horst Seehofer denn warten oder könnte er Ihrem Beispiel folgen?
Ich habe Horst Seehofer keine Ratschläge zu geben. Ich hoffe aber, dass das Luxemburger Beispiel dazu führt, dass die großen Staaten ihre Zurückhaltung aufgeben. Wenn Luxemburg mit seinen 600.000 Einwohnern das schafft, sollte das Deutschland mit mehr als 80 Millionen Einwohnern auch schaffen. Unser Beispiel könnte motivierend sein.
Wie stark gefährdet der Coronavirus-Ausbruch den Zusammenhalt in der EU?
Wir müssen uns tatsächlich die Frage stellen, ob Europa immun ist gegen den Nationalismus, den wir seit drei Jahren beim US-Präsidenten Donald Trump kritisieren. Mich treibt die Sorge um, dass viele EU-Mitgliedsstaaten zu Beginn der Krise nur auf sich selbst geschaut haben. Menschen mussten zum Teil stundenlang in Transitbereichen von europäischen Flughäfen warten, wenn sie in ein anderes EU-Mitgliedsland fliegen wollten. Und denken wir nur an den anfänglichen Stopp von Lieferungen medizinischen Materials nach Italien. Das war für mich mit meiner Vorstellung von Europa nicht vereinbar.
Aber es ist doch besser geworden?
Ja, es gibt noch das Europa des Mitgefühls. Viele Staaten nehmen Patienten aus anderen Ländern auf. Das ist sehr schön und wichtig. Aber leider gibt es daneben noch immer dieses kalte Europa.
Meinen Sie damit die Grenzkontrollen, die in vielen EU-Staaten nach Ausbruch der Viruskrise eingeführt wurden?
Die Grenzkontrollen machen mir große Sorgen. Wir müssen höllisch aufpassen. Wenn der Schengen-Raum fällt, dann fällt auch das Europa der Bürger. Schengen ist die größte Errungenschaft der EU. Wir haben in unserer Region, also in Luxemburg, dem Saarland, in Rheinland-Pfalz, dem französischen Grand Est und der belgischen Provinz Luxemburg 25 Jahre ohne Grenzen gelebt. Das ist die europäischste Region in der ganzen EU.
Was sollte die deutsche Bundesregierung nun machen?
Ich hoffe sehr, dass die Deutschen ihre Grenzkontrollen schnell wieder aufgeben. Das bringt nur Ärger. Mir schreiben jeden Tag Menschen aus dem Saarland und aus Rheinland-Pfalz, die sich wegen der Grenzkontrollen beschweren. Außerdem besteht die Gefahr, dass die Menschen irgendwann einmal nicht mehr an das Konzept des europäischen Zusammenwachsens glauben. Wir sind aufeinander angewiesen. In der Eifel ist es schwer, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Die Leute pendeln also nach Luxemburg. Und wir in Luxemburg sind auf Pflegekräfte und medizinisches Personal aus Deutschland und Frankreich angewiesen.
+++Immer aktuell: Hier geht’s zum Corona-Liveblog+++
Was halten Sie von der Debatte um Corona-Bonds?
Ganz einfach: Entweder wir sind eine Union oder wir sind es nicht. Wenn also Länder wie Italien und Spanien mit Massenarbeitslosigkeit rechnen müssen, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass die EU sie fallen lässt. Die Menschen in diesen Ländern glauben noch an Europa. Sie stehen auf den Balkonen und singen Beethovens Neunte.
Also sind Sie für die Vergemeinschaftung von Schulden?
Langsam. Wir sollten auch nicht dramatisieren. Es gibt viele finanzpolitische Instrumente jenseits der so umstrittenen Bonds, die wir einsetzen können. Der Stabilitätspakt ist außer Kraft gesetzt worden. Das ist noch nie geschehen. Aber das ist auch gut so. Denn es geht um Leben und Tod. Außerdem hat die Europäische Zentralbank ein gigantisches Anleihekaufprogramm aufgelegt. Die Europäische Investitionsbank ist eingeschaltet. Und schließlich gibt es noch den Euro-Rettungsschirm. Wenn das alles reicht für die Bewältigung der Wirtschaftskrise, dann ist es gut. Wenn es nicht reichen sollte, dann muss man auch über Bonds reden und sie als ultimatives Instrument einsetzen. Ich hoffe aber inständig, dass es nicht soweit kommen wird.
Im Schatten der Coronavirus-Krise hat sich der ungarische Regierungschef Viktor Orbán mit einem Notstandsgesetz umfassende Vollmachten geben lassen. Wie gefährlich ist das?
Dieser Orbán. Er ist ja kein Anfänger in solchen Dingen. Seit zehn Jahren arbeitet er daran, aus Ungarn eine illiberale Demokratie zu machen. Das ist schon ein Widerspruch in sich. Aber, was er jetzt gemacht hat, dürfen wir in der EU nicht dulden. Die Grundsätze der Europäischen Union sind in Gefahr. Es darf nicht zu einer Orbánisierung der EU kommen. Wir müssen uns wehren. Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung dürfen auch in der Viruskrise nicht mehr als nötig eingeschränkt werden. Es darf kein Notstandsgesetz ohne Verfallsdatum geben. Das geht nicht. Wenn diese Rechte und Werte mit Füßen getreten werden, dann ist alles wieder möglich. Glauben Sie mir: Als Luxemburger weiß ich, wovon ich rede. Mein Land, das neutral war, ist im 20. Jahrhundert zweimal von den Deutschen überrannt worden. Verträge allein sichern den Frieden noch nicht.
Aber wie wehren? Die EU-Verträge lassen nicht zu, dass eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten Orbán zurechtweisen könnte.
Ich weiß um das Einstimmigkeitsgebot. Aber Orbán schert sich ja auch nicht um die Verträge. Wir können nicht noch einmal zehn Jahre das System Orbán dulden. Sonst gibt es irgendwann einmal keine Europäische Union mehr, wie wir sie brauchen. Das wäre eine Katastrophe für unsere Kinder und Kindeskinder.
Sollte die EU-Kommission Orbán ein Ultimatum setzen?
Ein Ultimatum wäre gut. Wir müssen einfach den Mut aufbringen, einmal einen Schlussstrich zu ziehen und Ungarn die Gretchenfrage zu stellen, ob das Land eigentlich noch Mitglied der EU bleiben will. Oder ob es einen Sonderweg außerhalb der Regeln und Verpflichtungen der Europäischen Union anstrebt.