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Mobbing, Machtmissbrauch, Sexismus

Toxisches Arbeitsklima: Schwere Vorwürfe gegen Führungsduo des weltweit größten NS-Dokumentenzentrums in Hessen

11.12.2018, Hessen, Bad Arolsen: Das neue Logo mit dem Schriftzug "Arolsen Archives" ist in einem Flur des Bürogebäudes vom International Tracing Service (ITS) zu sehen. Der ITS ist ein Archiv und Dokumentationszentrum über NS-Verfolgung und die befreiten Überlebenden. (zu dpa «International Tracing Service ITS» vom 02.01.2019) Foto: Swen Pförtner/dpa

11.12.2018, Hessen, Bad Arolsen: Das neue Logo mit dem Schriftzug "Arolsen Archives" ist in einem Flur des Bürogebäudes vom International Tracing Service (ITS) zu sehen. Der ITS ist ein Archiv und Dokumentationszentrum über NS-Verfolgung und die befreiten Überlebenden. (zu dpa «International Tracing Service ITS» vom 02.01.2019) Foto: Swen Pförtner/dpa

Berlin. Die Leitung des weltweit größten NS-Dokumentenzentrums Arolsen Archives mit Sitz im hessischen Bad Arolsen muss sich nach Vorwürfen wegen Mobbings, Machtmissbrauchs und Sexismus einer externen Untersuchung durch eine Berliner Anwaltskanzlei stellen. Die Vorwürfe werden von mehr als 25 aktiven und ehemaligen Mitarbeitenden ausschließlich gegen Direktorin Floriane Azoulay und den stellvertretenden Direktor, Steffen Baumheier, erhoben.

Die im Mai eingeleitete Untersuchung wurde vom aus elf Länder bestehenden Internationalem Ausschuss (IA), dem Aufsichtsgremium der Arolsen Archives, in Auftrag gegeben. Sie geht auf ein Schreiben des deutschen Rechtsanwalts Daniel Vogel vom 6. März 2023 an die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsministerin Claudia Roth (Grüne), zurück, das dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vorliegt. Der Jurist agiert als Sprecher der Gruppe.

Die Sonnenkönigin und der Bluthund

Die Arolsen Archives sind das größte NS-Dokumentationszentrum weltweit. Die Werte: Respekt, Vielfalt, Demokratie. Mitarbeiter jedoch berichten von einem Klima der Angst, von Mobbing und Zermürbung. Einblicke in eine Institution in der Krise.

Nach Darstellung der früheren und aktiven Forschenden sowie Angestellten herrsche vor allem im wissenschaftlichen Bereich und auf der Führungsebene nahezu seit Amtsantritt von Direktorin Azoulay im Jahr 2016 eine „toxische Arbeitsatmosphäre“ aufgrund einer „Kultur der Angst“. Mehrere Personen berichteten dem Anwalt laut dem Schreiben an Roth von dauerhaften Angstzuständen, Schlafstörungen und Panikattacken infolge ihrer Erfahrungen am Arbeitsplatz.

Arolsen Archives: Vorwürfe wegen übergriffigen Verhaltens

Das Verhalten der Französin, heißt es in dem Brief, werde als „manipulativ“ bis „narzisstisch“ beschrieben. Gleichzeitig hätten Betroffene von unprofessionellem und übergriffigem bis sexistischem Verhalten des stellvertretenden Direktors Baumheier berichtet. Wutentbrannte Aussagen wie: „Die provoziere ich so lange, bis sie etwas Falsches sagt.“ oder „Ich mache dir das Leben zur Hölle!“ seien bei ihm üblich.

Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives (Archivfoto).

Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives (Archivfoto).

Anwalt Vogel schreibt an Staatsministerin Roth von „wiederkehrenden Mustern im Verhalten der Direktion seit deren Amtsantritt 2016″: Personen würden aufgrund von persönlichen Präferenzen oder Launen der Direktorin, Kritik an ihrem Führungsstil oder Infragestellung ihrer inhaltlichen Entscheidungen in Ungnade fallen. „Diese Personen werden sodann Opfer von Repressionen, Mobbing und Zermürbungstaktiken.“ Wiederholt führe dies zu Krankheit, Depressionen und anhaltenden Angstzuständen bei betroffenen Mitarbeitenden.

„Am Ende der meisten Fälle steht die Beendigung der jeweiligen Arbeitsverhältnisse, auch wenn diese unbefristet waren“, schreibt Vogel. „Die Personalfluktuation von über 25 vorzeitig beendeten Arbeitsverträgen von hochqualifizierten und engagierten Menschen seit Amtsantritt der aktuellen Direktion spricht für sich.“ Viele Mitarbeitende warnen vor ernstzunehmendem Schaden an der Institution Arolsen Archives durch diesen „Brain-Drain“.

Das RND hat mit einem Dutzend aktiven und ehemaligen Mitarbeitenden gesprochen, darunter auch Abteilungsleitenden. Alle bestätigten ausnahmslos die Schilderungen aus dem Brief anhand ihres Falles.

Originalakten liegen in den Arolsen Archives (Archivfoto).

Originalakten liegen in den Arolsen Archives (Archivfoto).

Eine junge Frau sagte dem RND: „Den Umgang mit mir habe ich als diskriminierend und unmenschlich empfunden.“ Ihr wurde die zugesagte Entfristung ihres Vertrags verweigert, weil sie ihre Schwangerschaft mitteilte. Baumheier schrieb ihr in einer Mail: Glückwunsch, aber für die Übernahme in ein unbefristetes Anstellungsverhältnis „ist das nun natürlich nicht so gut“. Als sie ihrem Team davon erzählte, wurde ihr in einem Disziplinargespräch vom Vizedirektor mitgeteilt, sie störe den Betriebsfrieden.

Ein heute 35-Jähriger, der aus der Organisation gedrängt wurde, sagte dem RND, dass er als Historiker häufig herabgewürdigt und diskreditiert worden sei, hätte viel in ihm zerstört. 2022 schaffte er den Ausstieg mit einem neuen Job, so formuliert es der Mann. Seine 15 Jahre andauernde Laufbahn als NS-Forscher war damit jedoch beendet. „Es ging einfach nicht mehr. Was mit Menschen bei den Arolsen Archives passiert, ist skandalös.“

Staatsministerin Claudia Roth und das Auswärtige Amt ließen Mittwoch über einen Sprecher mitteilen, dass sie die Vorwürfe „sehr ernst“ nehmen und den Betroffenen über Rechtsanwalt Vogel deutlich gemacht hätten, „sie mit einem geeigneten Verfahren zu untersuchen und aufzuklären“.

Der Sprecher äußerte sich auch zu möglichen Folgen für die Arolsen-Führung: „Auf Grundlage des Abschlussberichts und etwaiger Zwischenberichte der Kanzlei wird der Internationale Ausschuss über mögliche arbeitsrechtliche Konsequenzen während und nach der Untersuchung beraten und diese wenn nötig beschließen.“

Der amtierende Präsident des Internationalen Ausschusses, der französische Diplomat Nicolas Chibaeff, teilte dem RND am Dienstag auf Nachfrage mit, dass sich der Ausschuss „der Ernsthaftigkeit des Themas und der Notwendigkeit bewusst ist, die Vorwürfe mit der gebotenen Strenge und unter uneingeschränkter Achtung der Rechte jeder Partei zu klären“.

Chibaeff sagte, es sei heute schwer vorherzusagen, wie lange die Untersuchungen durch die beauftragte Kanzlei dauern würden. Gefragt, ob der Verbleib von Azoulay und Baumheier in ihren Positionen vom Ergebnis des Berichts abhängen würde, antwortete der Diplomat: Es sei Angelegenheit des IA, „welche geeigneten Entscheidungen zu treffen sind“.

Die PR-Chefin der Arolsen Archives, Anke Münster, teilte dem RND Dienstabend mit, die „anonym erhobenen Vorwürfe nehmen wir sehr ernst“. Die Arolsen Archives würden es begrüßen, dass der Internationale Ausschuss eine Rechtsanwaltskanzlei mit einer Untersuchung zur Aufklärung des Sachverhalts beauftragt hat. „Die Direktion ist gehalten, nicht zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, bis die laufende Untersuchung hierzu abgeschlossen ist“, so Münster.

Betriebsratsmitglied spricht von fehlender Kontrolle

Fragen des RND zu Details der Vorwürfe gegen Azoulay und Baumheier, einzelnen Fällen, der personellen Fluktuation im Wissenschaftsbereich sowie sexistischen Äußerungen beantwortete die Sprecherin nicht. „Wir bitten Sie daher um Verständnis, dass wir Ihre Fragen zu diesem Zeitpunkt nicht beantworten können.“

Der Betriebsrat der Arolsen Archives fordert in einem dem RND vorliegenden Brief an den IA, Staatsministerin Roth und das Auswärtige Amt als Vertreter Deutschlands im IA die Aufarbeitung der Vorwürfe, die Einrichtung einer unabhängigen Anlaufstelle für alle aktuellen und ehemaligen Mitarbeitenden sowie die Schaffung von Strukturen, die auch in Zukunft verlässliche, externe Ansprechpartner ermöglichen.

Eine Mitarbeiterin sprach gegenüber dem RND von fehlender Kontrolle. „Weder die Mitarbeitenden noch der Betriebsrat haben Kontakt zum Internationalen Ausschuss. Das läuft alles ausschließlich über das Direktorium.“

Die Arolsen Archives sind das Dokumentenzentrum für sämtliche Papiere, die die deutschen Nationalsozialisten von 1933 bis 1945 in Archiven, Personalakten, Unterlagen in Arbeits- und Vernichtungslagern, in Befehlen von SS oder Gestapo, in Krankenberichten und Protokollen medizinischer Versuche an Menschen hinterließen. Die Alliierten haben sie 1946 in Bad Arolsen zentral sammeln lassen.

In den 30 Millionen Dokumenten über Opfer des Holocausts tauchen die Namen von insgesamt 17,5 Millionen Menschen auf. Die Arolsen Archives, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Internationaler Suchdienst International Tracing Service ITS) für Überlebende der NS-Verfolgung und deren Suche nach Familienangehörigen begannen, gelten als bedeutendstes NS-Dokumentationszentren weltweit. Es steht für unerbittliche Aufarbeitung von Geschichte, demokratische Werte und Menschlichkeit.

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