Inflation befeuert Abstiegsangst

Im Sog der Sorgen: Wie die Angst vor Armut auch die Mittelschicht lähmt

Die Sorgen nehmen in diesen Tagen bei vielen Menschen zu.

Die Sorgen nehmen in diesen Tagen bei vielen Menschen zu.

Hannover. Es sind Wörter, die schmallippig klingen, kalt und technokratisch: „Kinderzuschlag“, „Regelbedarfsstufe“, „Teilhabepaket“, „Eingliederungsvereinbarung“, „Mitwirkungspflicht“, „erwerbsfähige Leistungsberechtigte“. Nach Knute und Kontrolle klingen diese Elendswörter aus dem Sozialgesetzbuch, diese eisigen Vokabeln der sozialen Not. Für viele Millionen Menschen in Deutschland sind sie Alltag. Sie stehen in den Briefen, die auf ihren Küchentischen liegen. Sie fallen in den Gesprächen bei der Arbeitsagentur.

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Hinter diesen Wörtern steht ein System. Es ist dieses System, das mit darüber entscheidet, ob Jonas (elf) mit auf Klassenfahrt kann. Ob Mia (sechs) ein Fahrrad bekommt. Ob Manuels (14) Schulfreunde ihn auslachen, weil sein Handy Tasten hat. Ob sein Mittagessen wieder nur aus Nudeln mit Maggi besteht, weil heute schon der 23. September ist und der Monat fast zu Ende. Und ob seine Mutter sich schämt, eine Freundin zu sich nach Hause einzuladen, weil die Kaffeemaschine schon seit Monaten kaputt und das Sofa durchgesessen ist.

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Jahrzehntelang hat die deutsche Mittelschicht alles dafür getan, auf Abstand zu gehen zu dieser Welt, bloß nicht in Berührung zu kommen mit diesem System aus Ämtern und Tafeln, dieser Welt aus Abhängigkeiten, Hoffnungslosigkeit und Bedürftigkeit. Reflexhaft schützte man sich mit herablassender Abgrenzung nach „unten“, lästerte über die armen Hascherl mit ihren gekachelten Couchtischen, die bei RTL II vorgeführt wurden. Im Kern wollte die Mehrheitsgesellschaft lieber nichts wissen vom knüppelharten Alltag von Millionen Deutschen. „Die da unten“, hieß es stattdessen, kriegten halt den Hintern nicht hoch. Selber schuld. „Unsere Leistungsgesellschaft ist von dem Mythos geprägt: Wer etwas leistet, wird mit Wohlstand belohnt“, sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge im „Stern“. „Wer faul ist, wird mit Armut bestraft.“

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Wir müssen uns ehrlich machen und sagen: Wir werden den Wohlstand, den wir jahrelang hatten, erst mal verlieren.

Rainer Dulger,

Arbeitgeberpräsident

Doch dieser Mythos bröckelt nicht nur. Er zerbirst. Und zwar nicht nur dort, wo man den letzten Groschen zweimal umdrehen muss. Sondern auch mitten im Bürgertum. Die Abgrenzung nach unten ist so schwierig wie kaum jemals zuvor. Ein Gespenst geht um in Deutschland. Es ist das Gespenst des sozialen Abstiegs. Es packt auch jene, die sich sicher wähnten, eingelullt vom alten Wohlstandsversprechen. Die dachten, gewisse Grunderrungenschaften der Moderne seien in unserem Alltag unwiderruflich: Wenn wir den Hahn aufdrehen, läuft warmes Wasser. Wenn wir die Heizung aufdrehen, wird es warm. Zwei Einkommen reichen für ein Häuschen im Grünen. Das Klima ist mild und übersichtlich. Die EU garantiert Frieden. Im Supermarkt gibt es immer günstig Nahrung. Und wohnen soll nicht mehr kosten als ein Drittel des Monatsnettos.

ARCHIV - 06.01.2022, Berlin: Hubertus Heil (SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales, spricht beim dpa-Interview im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). Deutschland muss sich nach Einschätzung von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) auf eine längerfristige Aufnahme vieler ukrainischer Kriegsflüchtlinge einstellen. Foto: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

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Wer soll das alles bezahlen? Und: Wo endet es?

Plötzlich aber wankt das System. Und worunter von Armut Betroffene schon immer leiden, das wird zum Mehrheitsphänomen auch für Millionen Menschen aus der Mittelschicht: Es ist die lähmende, nagende Ungewissheit in allen Fragen der eigenen Existenz. Die Unplanbarkeit des Lebens. Die Angst vor der nächsten Rechnung. Der ständige Kampf: Wie soll es weitergehen? Wer soll das alles bezahlen? Und: Wo endet es? „Wir stehen vor der größten Krise, die das Land je hatte“, sagt Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger in der „Süddeutschen Zeitung“. „Wir müssen uns ehrlich machen und sagen: Wir werden den Wohlstand, den wir jahrelang hatten, erst mal verlieren.“

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Sozialforscher beobachten mit Sorge, dass die Angst vor existenzieller Not in die Mittelschicht kriecht wie Frost in ein ungeheiztes Haus. Es ist ein leiser Abstieg. Es brennen keine Ölfässer in Deutschland. Es ziehen keine Gelbwesten durch die Innenstädte. Es ist eher ein ungläubiges Staunen. Nur auf Twitter formiert sich ein viraler Aufstand der Armen, die unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen ihr Schicksal schildern. Es ist, als wolle das Land so lange wie möglich ignorieren, welcher massive Umbruch sich da ankündigt – weg vom Exportweltmeister der rauchenden Schlote, hin zur Krisennation.

Leiser Abstieg eines Landes: Gespendete Lebensmittel in gepackten Tüten liegen in der Ausgabestelle der Tafel Potsdam bereit.

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Denn es geht in der vielschichtigen aktuellen Krise um viel mehr als die Frage, ob Raumtemperaturen von 16 Grad in der Nacht gefälligst reichen sollten oder nicht (und was eigentlich die Stewardess dazu sagt, die nachts um 3 Uhr von der Arbeit kommt). Es geht um die schleichende, bittere Erkenntnis, dass das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft auf Teilhabe und Aufstieg bei akkurater Lebensführung und tugendhaftem Fleiß wahrscheinlich für einige Generationen nicht mehr erfüllbar sein wird. Und zwar auch für Menschen, die bisher keine Reichtümer hatten, aber mit ordentlichem Lohn oder Gehalt über die Runden kamen.

„Die Befunde sind erschütternd“

Ein Mensch gilt nach EU-Definition als „armutsgefährdet“, wenn er oder sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. 2021 lag dieser Schwellenwert für eine alleinlebende Person in Deutschland bei 15.009 Euro netto im Jahr (1251 Euro im Monat), für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 31.520 Euro netto im Jahr (2627 Euro im Monat). Laut dem Paritätischen Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent einen neuen Höchststand erreicht. „Die Befunde sind erschütternd“, sagt Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider. „Noch nie wurde ein höherer Wert gemessen, und noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet.“

Paritätischer Armutsbericht: 13,8 Millionen Menschen in Deutschland leben in Armut

Viele Menschen merken zurzeit, dass ihr Geld im Vergleich zu den Monaten zuvor einfach nicht reicht.

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In den Jahren zwischen 2014 und 2017 rutschte in Deutschland laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung jeder Fünfte in Deutschland aus der mittleren in die untere Einkommensschicht ab (zur Mittelschicht zählen jene, deren Einkommen nach Steuern und Transfers zwischen 75 und 200 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland liegt). Das Phänomen der zerbröselnden Mittelschicht ist nicht neu. Aber es beschleunigt sich. Und wer in Deutschland einmal aus der Mittelschicht herausfällt, hat es heute viel schwerer als früher (und als anderswo), wieder aufzusteigen. Es ist ganz simpel: Wenn auf absehbare Zeit die Inflation bleibt, aber die Einkommen nicht steigen, gerät das Sozialgefüge gefährlich ins Wanken.

Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, für ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ zu sorgen. Zum 1. Januar stieg der Regelbedarf für Alleinstehende aber nur um 0,7 Prozent. Die Inflation dagegen lag damals schon bei 4,9 Prozent. Inzwischen sind es 7,9 Prozent. Immerhin: Das neue Bürgergeld ab 2023 verspricht etwas mehr Luft zum Atmen. Die Telefonseelsorge aber berichtet von immer mehr Anrufern, die verzweifelt weinen. Die Tafeln mussten zeitweise einen Aufnahmestopp verfügen, weil es für zu viele Bedürftige zu wenig Lebensmittel gab. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt laut Kinderhilfswerk in Armut – 2,8 Millionen von knapp 13 Millionen Kindern. „Einige leiden sogar Hunger.“ Die Zahlen freilich stammen aus der Zeit vor Energiekrise und Inflation.

Kindergarten und Feuerwehr verlassen geteiltes Gebäude in Helsinghausen: Wie geht es dort weiter?

Das eine sind die Zahlen, das andere sind die Menschen: Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen.

Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass es bei der Grundversorgung um mehr geht als Essen und Wohnen. Der Mensch „als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen“, heißt es. Was bedeutet das? Menschen müssen atmen, essen, trinken, schlafen. Dann bleibt ihr Körper am Leben. Doch auch die Seele hat Bedürfnisse, und auf der Wunschliste der emotionalen Grundversorgung steht Sicherheit ganz oben, fast gleichauf mit Teilhabe. Auf materielle Armut aber folgt fast immer auch soziale und kulturelle. Und das betrifft nicht nur Kinder aus migrantischen Familien, die sich verloren fühlen zwischen zwei Welten. Wer kaum Zugang zu Kulturangeboten mit positiven Vorbildern hat, vergisst, was eine Biografie bieten kann. Er verliert schleichend das Bewusstsein dafür, dass ein anderes Leben überhaupt möglich ist. Er verliert den Anspruch an das eigene Leben.

Unsicherheit erzeugt neue Angst – und umgekehrt

Die Zukunft halbwegs planen zu können, keine plötzlichen Gefahren fürchten zu müssen, Frieden und Stabilität zu erleben, geborgen zu sein und gleichzeitig die Freiheit zur Selbstentfaltung zu verspüren – das sind Voraussetzungen für Momente des Glücks. Doch all das stellt die Gegenwart bei immer mehr Menschen infrage. Das setzt eine Angstspirale in Gang, ganz im Geiste des britischen Philosophen Bertrand Russell, nach dessen These sich Menschen mehr vor der Unsicherheit fürchten als vor der Gefahr selbst. Denn Unsicherheit erzeugt neue Angst – und umgekehrt. Und selbstverständlich verändert diese Pandemie der Abstiegsangst die Gesellschaft.

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Menschen mit wenig Geld sind nicht sozial schwach. Sie sind wirtschaftlich schwach. Oft sind eher die wirtschaftlichen Starken die sozial Schwachen.

Hagen Rether,

Kabarettist

Das eine sind die Zahlen. Das andere sind die Menschen. Ein Elternabend in Norddeutschland. Es geht um die Frage, wie viel Geld jede Familie in die Klassenkasse einzahlen soll. Die meisten Mütter und Väter überbieten sich mit großzügigen Summen. 20, 30, 40 Euro? Nur eine Mutter sitzt blass am Fenster. Und schweigt.

„Armut ist wie ein Löwe: Kämpfst du nicht, wirst du gefressen“

Der Historiker und Publizist Paul Nolte – der im Bemühen gegen kulturelle Verwahrlosung einst den Begriff „Unterschichtenfernsehen“ prägte – spricht, was die Leistungen des Staates angeht, gern von „fürsorglicher Vernachlässigung“. Die Mittel- und Oberschicht haben das Armutsproblem aus Selbstschutz ausgeblendet. Armut aber verändert ein Land. „Armut ist wie ein Löwe: Kämpfst du nicht, wirst du gefressen“, lautet ein Sprichwort aus Tansania.

„Armut ist wie ein Löwe: Kämpfst du nicht, wirst du gefressen“: Eingang zur Agentur für Arbeit in Bremerhaven.

„Armut ist wie ein Löwe: Kämpfst du nicht, wirst du gefressen“: Eingang zur Agentur für Arbeit in Bremerhaven.

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Der tägliche zermürbende Kampf um die eigene Existenz, die Scham, der chronische Frust, die Schuldgefühle, die Verzweiflung über die eigene Ausgrenzung – all das hat die „Zeit“-Journalistin Anna Mayr, Tochter zweier Langzeitarbeitsloser, in ihrem bitterklugen Buch „Die Elenden“ eindrücklich geschildert. „Sie stehen unter andauerndem Stress. Sie wollen überleben. Sie wollen niemandem zur Last fallen. Deshalb rauchen Sie. Deshalb essen Sie ungesund, und deshalb trauen Sie sich nicht, zum Arzt zu gehen. Mit denen da draußen haben Sie keine Berührungspunkte mehr. Mit denen, die in Cafés sitzen und an Kulturveranstaltungen teilnehmen. Wahrscheinlich fühlen Sie sich klein und machtlos, und kein gesellschaftlicher Diskurs über Verteilungsgerechtigkeit kann Ihnen da raushelfen. Es geht nicht mehr um Sie da draußen.“

Armut ist kein individuelles Versagen

Was also tun? Ein erster Schritt wäre, damit aufzuhören, Armut als individuelles Versagen zu diskreditieren, sondern sie als strukturelles Problem von höchster Dringlichkeit anzunehmen. Armut ist nicht unvermeidlich. Armut hat Ursachen und Bedingungen, die sie begünstigen. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) nennt Kinderarmut „eine Schande für ein so reiches Land wie Deutschland“. Sie plant eine Kindergrundsicherung, die staatliche Leistungen bündeln und entbürokratisieren soll. Doch mit der Einführung ist frühestens im Jahr 2025 zu rechnen.

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Es würde schon helfen, bei der Sprache sensibel zu sein. „Menschen mit wenig Geld sind nicht sozial schwach“, hat der Kabarettist Hagen Rether mal gesagt. „Sie sind wirtschaftlich schwach. Oft sind eher die wirtschaftlichen Starken die sozial Schwachen.“

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