Ans Ende der Welt – ein Jahr nach dem Feuer von Moria
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Das provisorische Zeltlager "Kara Tepe" war in Windeseile errichtet worden, nachdem das ursprüngliche Lager Moria bei einem Großbrand im September 2020 fast völlig zerstört worden war (Archivbild von Oktober 2020).
© Quelle: Panagiotis Balaskas/AP/dpa
Mytilini. Zwei Männer stützen Khaled Alafaat, als er aus seinem elektrischen Rollstuhl heraus die Stützstangen ergreift. Dann zieht sich der 95 Kilogramm schwere Mann hoch und zwingt einen Fuß vor den anderen. „Nur noch einen Schritt“, den Satz sagt der Syrer dabei wie ein Mantra auf.
Zwei Krankenschwestern und ein Helfer packen im Nebenzimmer der Physiotherapeutenpraxis von „Earth Medicine“ in der größten Stadt der griechischen Insel Lesbos, Mytilini, mit an, um die 61-jährige Afghanin Fatima Rezaie aus ihrem Rollstuhl heraus auf einer Liege abzulegen. Dem Körper der kleinen Frau fehlt nach einem Schlaganfall jede Muskelspannung. Er liegt völlig schlaff in den Armen der Helfer. Sie ächzen, als trügen sie schwer an einem Sack Zement. Die Afghanin ist seit dem Schlaganfall stumm. Sie hält während der Prozedur ihre Augen fest geschlossen.
Die Chilenin Fabiola Velasquez leitet das Therapeutenteam von „Earth Medicine“ in Mytilini. Sie will heute Alafaats Gliedmaßen vermessen. Velasquez sucht nach einem neuen Rollstuhl für den 33-Jährigen. Er lebt in dem in Deutschland Kara Tepe genannten Zeltlager für die obdachlosen Migranten aus dem vor einem Jahr niedergebrannten Camp Moria auf einem ehemaligen Schießgelände der griechischen Armee Mavrovouni am Strand von Lesbos.
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Der Syrer Khaled Alafaat vor der Physiotherapie-Praxis „Earth Medicine“ in Mytilini.
© Quelle: Cedric Rehman
Eine Bombe schlug 2012 in Alafaats Haus im Norden Syriens ein. Die Trümmer verletzten den Syrer am Kopf. Seine Beine verkrampfen sich seitdem in Spastiken. Alafaats Brüder trugen ihn 2019 in einem Leintuch auf ein Boot. Es brachte ihn von der türkischen Küste nach Lesbos. Seine Brüder schleppten Alafaat in dem Tuch wochenlang durch das Lager Moria. Dort lebten sie außerhalb des eigentlichen Lagers im sogenannten „Dschungel“. Den Mitarbeitern des Camps fiel der im Leintuch umhergeschleppte Syrer schließlich auf. Sie brachten ihn in das Lager für Familien und Kranke auf dem Hügel Kara Tepe.
Nachdem Moria in der Nacht vom 8. auf den 9. September 2020 in Flammen aufging, war es mit Alafaats Glück auch schon wieder vorbei. Die griechischen Behörden stampften das Zeltlager am Strand aus dem Boden. Die Behörden schlossen alle anderen Unterkünfte für Geflüchtete auf Lesbos und schickten alle Migranten in das neue Lager am Strand.
Es liegt auf abschüssigem Gelände. Duschkabinen und Toiletten liegen auf einer Kuppe über den Zelten. Sie sind mit einem Rollstuhl unerreichbar. Wieder hatte Alafaat Glück. Helfer organisierten ihm einen Elektrorollstuhl, der den Anstieg zu den Sanitäranlagen bewältigt. Aber der Kies scheuerte die Reifen auf und der Sand blockierte die Technik. Ein elektrischer Rollstuhl ist nicht für ein Leben am Strand gemacht.
Ihre Familien legen den Syrer Alafaat und die Afghanin Rezaie im Camp auf den Boden, um sie mit einem Eimer Wasser zu waschen. Sie hieven sie auf die Dixi-Klos. Alafaat verbrachte den Winter in seinem Wohncontainer. Der elektrische Rollstuhl wäre draußen im Schlamm stecken geblieben. Während der Hitzewelle im August verwandelte sich der Container in einen Backofen. „Helfer haben uns einen Ventilator gegeben, aber wir haben nur drei Stunden am Tag Strom im Lager“, sagt der Syrer. Bald könnten schon wieder Feuchtigkeit und Kälte der Familie den Schlaf rauben. Ohne Strom funktionieren auch keine Heizstrahler. „Ich habe große Angst vor dem Winter“, sagt der Syrer.
Fabiola Velasquez knetet und streckt in ihrer Praxis in Mytilini das verletzte Gewebe ihrer Patienten aus dem Zeltlager, damit es nicht völlig verkümmert. Sie könne angesichts der Lebensbedingungen dort keine Fortschritte erreichen. „Ich kann nur verhindern, dass es schlimmer wird“, sagt die Therapeutin. Sie blättert in ihrem Terminkalender. 70 Patienten kommen regelmäßig zu ihr in die Therapie. Wäre sie nicht auf Lesbos, würde sich niemand um die Rollstuhlfahrer von Kara Tepe kümmern, meint sie. Was tut der griechische Staat? Die Therapeutin zuckt mit den Schultern.
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Der Syrer Khaled Alafaat bekommt in der Physiotherapie-Praxis „Earth Medicine“ in Mytilini Hilfe von der Praxisleiterin Fabiola Velasquez. Alafaat sitzt im Rollstuhl.
© Quelle: Cedric Rehman
Ein meterhoher Zaun umgibt das neue Lager am Strand. Polizisten stehen in Kampfmontur und mit Schildern am Eingang. Sie kontrollieren, wer in das Camp hineingeht und wer es verlässt. Das Ausweichlager für 5000 ehemalige Moria-Bewohner nennt auf Lesbos niemand Kara Tepe. Das bedeutet „schwarzer Hügel“ und bleibt für die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen der Name der geschlossenen Familienunterkunft oberhalb des Strandes. Manche nennen das neue Camp am Meer einfach Moria 2.
Wer das abgeriegelte Lager besuchen will, braucht Helfer, die Risiken eingehen. Journalisten ist der Besuch des neuen Camps seit der Eröffnung nach dem Brand in Moria nicht gestattet. Sie mitzubringen ist auch verboten. Vor der Pandemie hieß es zur Begründung, es ginge um die Privatsphäre der Geflüchteten. Seitdem das Coronavirus auch in Griechenland umgeht, wird auf den Infektionsschutz verwiesen.
Schlimme Zustände im zweiten Lager
Handyvideos von Bewohnern und Helfern informierten im vergangenen Oktober die Öffentlichkeit darüber, dass das neue Lager im Schlamm versank. Niemand sonst hätte von dort berichten können. Die im Lager akkreditierten Nichtregierungsorganisationen müssen ihre Mitarbeiter anmelden. Aber das Personal der NGOs wechselt und wer sich unverdächtig verhält, zieht in der Mittagspause keine Aufmerksamkeit auf sich. Die Polizisten stehen am Eingang des Camps im Schatten ihrer Einsatzwägen und lassen Autos passieren, als ginge sie das nichts an.
Der SUV einer Hilfsorganisation braust über eine Schotterpiste entlang des Strandes an den Zelten des UN-Flüchtlingswerks vorbei. Der Kies auf den Wegen glänzt in der Mittagssonne weiß wie die Zeltplanen und die vom Wind aufgewirbelte Gischt des Mittelmeers. Die Böen geben einen ersten Vorgeschmack auf die bald Lesbos umtosenden Herbststürme. Sie wirbeln Staub in die Luft und blähen die zwischen den Zelten als Sonnenschutz gespannten Tücher auf. Der Wind weht immerhin den Geruch der Dixie-Klos für circa 5000 Menschen von den Zelten weg. Alles blendet und gleißt. Der Weg führt an einem weiteren Wachposten vorbei zu einer Insel von Containern in dem Meer aus Zelten. Hier leben die Versehrten wie Khaled Alafaat, denen ein Schlafplatz auf dem Boden eines Zeltes nicht mehr zuzumuten ist. Ein Mann humpelt an Krücken vorbei, als übe er in einem Feldlazarett seine ersten Schritte.
Die Bewohner meiden den Sturm und die Glut in der Mittagszeit. Einige Somalierinnen halten auf einem Pfad zwischen den Zelten im Wind ihre Kopftücher fest. Sie schützen mit den Händen vor der Stirn ihre Augen vor dem Sand. Ansonsten wirkt das Camp wie ausgestorben. Aus dem Dschungel von Moria ist eine Wüste geworden.
Die Gassen rund um den Hafen von Mytilini liegen vom Zeltlager Mavovrouni aus gesehen auf einem anderen Planeten. Auch hier brennt die Sonne und es weht eine Brise. Touristen schauen aber unter Markisen dem Eis in ihren Frappés beim Schmelzen zu. Sie ärgern sich vielleicht, wenn der Wind die Servietten vom Tisch weht.
Anders als zur Zeit des Lagers Moria laufen ihnen kaum noch Geflüchtete in Mytilini über den Weg. Sie brauchen in der Pandemie für jeden Schritt außerhalb des neuen Lagers eine Genehmigung. Nur eines von sieben Kindern aus dem Lager konnte nach Angaben der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ im vergangenen Jahr zur Schule gehen. Dabei ist ein Drittel der Campbewohner im schulpflichtigen Alter. Es sind auch viel weniger Migranten auf der Insel als vor dem Brand. 23.000 Migranten bevölkerten im März 2020 den „Dschungel“ von Moria. 12.600 waren es, als in der Nacht vom 8. auf den 9. September der Suche nach 35 Corona-Infizierten im Camp zuerst ein Tumult und dann Feuer folgte. Circa 5000 sind davon noch übrig. Wo ist der Rest geblieben?
Der deutsche Helfer Patrick Münz beißt in einem der Cafés in Mytilini, in dem Geflüchtetenhelfer noch freundlich bedient werden, in ein Sandwich. Münz arbeitet auf Lesbos für die Stuttgarter Hilfsorganisationen Stelp und die an der Luftbrücke nach Kabul beteiligte Gruppe #LeaveNoOne Behind. Er ging im vergangenen September stundenlang Schleichwege, um nach dem Feuer am griechischen Militär vorbei Essen und Wasser zu den Obdachlosen in der Straße vor dem Camp Moria zu bringen. Münz erinnert sich, dass die Geflüchteten in der Hitze Bewässerungsschläuche für Olivenbäume anritzten, um Plastikflaschen zu füllen. Die Behörden hätten nichts zum Trinken verteilt, berichtet er. „Neben der Straße liegt ein Lidl und niemand ist auf die Idee gekommen, da reinzulaufen und sich das Wasser einfach zu nehmen. Die Leute hatten viel zu viel Angst“, sagt Münz.
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Patrick Münz von der Hilfsorganisationen Stelp ist als Helfer in Mytilini.
© Quelle: Cedric Rehman
Die griechische Regierung habe nach dem Brand ihre Versprechen an die Bevölkerung der Inseln eingelöst, die überfüllten Camps zu leeren, erklärt der Helfer. „Sie haben in kurzer Zeit sehr vielen Menschen Asyl gewährt und sie aufs Festland gebracht, wofür sie früher unglaublich lange gebracht haben“, sagt Münz. Was wie eine gute Nachricht für die Geflüchteten klingt, sei aber keine. Denn bei der Ankunft im Hafen von Piräus erwarte die Geflüchteten von den Inseln nichts, erklärt er.
Der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi stellte im vergangenen Jahr klar, dass anerkannte Asylbewerber selbst für sich zu sorgen hätten. Ohne einen Cent in der Tasche und oft nicht eines Wortes Griechisch mächtig verlieren sich die Pfade Tausender Geflüchteter mit Schutzstatus auf den Plätzen und Straßen Athens. In den Lagern auf den Inseln bleiben die abgelehnten Asylbewerber zurück, in der Regel Afghanen. Sie sollen nach den Regeln des EU-Türkei-Abkommens zurück in die Türkei geschickt werden. Doch Ankara stellt sich stur.
Nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan gebe es für die Afghanen von Lesbos eher Anlass zur Ratlosigkeit als zur Hoffnung, meint Münz. „Afghanen müssen jetzt nachweisen, dass ihnen in der Türkei Gefahr droht“, sagt Münz. Die Griechen adeln nun ausgerechnet den Erzfeind als sicheren Drittstaat, um dorthin abzuschieben zu können. Der Migrationsminister reagierte auf den Einmarsch der Taliban in Kabul mit der Ankündigung, die Grenzanlagen zu verstärken.
Athen scheint vorzuplanen für einen neuen Migrantenstrom aus Afghanistan. Oder auch für das Scheitern aller Bemühungen, abgelehnte Asylbewerber wieder in die Türkei zu schicken. Ein Lager neuen Typs soll bis Ende des Jahres in einem dünn besiedelten Landstrich im Zentrum von Lesbos entstehen und das Zeltlager am Strand ersetzen. Auch auf anderen Inseln wird gebaut. Athen verspricht würdige Lebensbedingungen. Der deutsche Helfer glaubt dagegen, dass die neuen Lager die Geflüchteten so weit wie möglich aus dem Blickfeld der Griechen und Touristen verbannen sollen. Und das Camp am Strand von Lesbos ist noch nicht das Ende der Welt.