1923: Als Hunderttausende Exilrussen in Berlin lebten
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Aufgrund der katastrophalen Auwirkungen der Geldknappheit stehen im Juli 1931 Tausende von Menschen vor dem Berliner Postscheckamt, um ihr Guthaben abzuheben.
© Quelle: picture-alliance / dpa
Berlin ist bunt, divers und ein bisschen verrückt – vor 100 Jahren war das nicht anders. Auch heutige Debatten erinnern an die 20er‑Jahre. Eine Art „Willkommenskultur“ für Kritiker des russischen Autokraten Wladimir Putin und Deserteure der russischen Armee wünscht sich der ehemalige Grünen-Politiker Ralf Fücks, Geschäftsführer der Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne, sowie der Linken-Politiker Jan Korte im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Fücks forderte von der Bundesrepublik eine „strategische Russlandpolitik“: „Berlin könnte zu einem Stützpunkt für die russische Opposition werden. Es wird Zeit, an ein Russland nach Putin zu denken.“
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Auslöser waren Berichte, dass bis Ende April 2023 lediglich 55 männliche russische Staatsangehörige im wehrfähigen Alter Asyl in Deutschland erhalten hätten.
Wenn auch ohne strategisches Konzept – Berlin war schon einmal ein „Hotspot“ für russische Migranten, genau 100 Jahre ist das her. Die Russische Revolution und der Terror der Bolschewiki gegen Andersdenkende von links bis rechts hatte damals für einen steten Zustrom russischer Migranten nach Berlin gesorgt, damals Hauptstadt der demokratischen Weimarer Republik.
Allein im Jahr 1923 kamen 360.000 Russen nach Berlin. Vordergründig war es die Freiheit, die Zarenanhänger, Nationalisten, Religiöse, Freigeister, Sozialisten und Anarchisten am Berlin der 20er‑Jahre schätzten. Zudem war die Stadt aufgrund ihrer geografischen Lage der erste Anlaufpunkt im Westen. Noch ausschlaggebender waren bei der Wahl des Exils aber niedrige Lebenshaltungskosten. Denn im Jahr der Hyperinflation konnte man mit ein paar Goldrubel, nicht wenige der Russen waren wohlhabend, im Deutschen Reich wochenlang überleben.
Flüchtlinge kamen mit Schmuck, Edelsteinen, Gemälden, Pelzen
Viele Flüchtlinge kamen mit Schmuck, Edelsteinen, Gemälden und Pelzen, konnten sich von den Erlösen in Charlottenburg, das alsbald in Charlottengrad umgetauft wurde, Wohnungen leisten, für die vielen Berlinern das Geld fehlte.
Ein russisches Branchenbuch aus dem Jahr 1923 verzeichnet 48 russische Verlage in Berlin und 24 Zeitungen. Die russische Kolonie zählte bald 400.000 Menschen bei vier Millionen Einwohnern, genaue Zahlen gab es nicht. Zwischen Monarchisten und Anarchisten lebte Berlins russische Community die Vielfalt, die es in ihrer Heimat nie gab und unter der Sowjetherrschaft weniger denn je geben sollte.
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Undatierte Aufnahme des Schriftstellers Vladimir Nabokov (1899–1977).
© Quelle: Dpa
Ein Who’s who von Geistesgrößen mit russischen Wurzeln gab sich an der Spree ein kurzes oder längeres Stelldichein: Die weltbekannten Schriftsteller und späteren Nobelpreisträger Boris Pasternak („Doktor Schiwago“) und Vladimir Nabokov („Lolita“) gehörten dazu, die Philosophen Nikolai Berdjajew und der rechtskonservative Iwan Iljin, den Wladimir Putin zu seinen Vordenkern zählt, die wohl bekanntesten russisch-sowjetischen Dichter Maxim Gorki und Wladimir Majakowski, der Regisseur Sergej Eisenstein, der Komponist Igor Stravinsky, Maler wie Wassily Kandinsky und Marc Chagall – aber auch der von den Bolschewiki gestürzte Ministerpräsident Alexander Kerenski.
Zaristische Offiziere als Taxifahrer
Berlin profitierte von dieser Zuwanderung. Maler, Architekten, Sänger, Schauspieler und Verleger prägten das Kulturleben der Emigranten und lieferten in vielen Bereichen des Berliner Lebens einen beachtlichen Beitrag. Auch kamen viele ehemalige Soldaten und Offiziere der von der Roten Armee geschlagenen Bürgerkriegsarmeen. Viele von ihnen lebten noch bis Ende der 20er‑Jahre in Flüchtlingslagern vor der Stadt. Ehemalige zaristische Offiziere arbeiteten als Taxichauffeure. Damen der Petersburger Gesellschaft entwarfen Modelle für die Berliner Modehäuser, um dem modisch zunächst etwas provinziellen Berlin ein wenig auf die Sprünge zu helfen.
Die verschiedenen Reichsregierungen sahen in dieser Massenmigration angesichts mangelnden Wohnraums, hoher Arbeitslosigkeit und leerer Kassen zwar eine Herausforderung, aber nicht eines ihr brennendsten Probleme. Öffentliches Geld stand den Migranten nicht zur Verfügung, an Integration war ohnehin nicht gedacht – und die meisten Russen hatte gar nicht die Absicht, in Berlin sesshaft zu werden.
Pasternak fand Berlin „vollkommen unnütz“
Denn glücklich wurden die wenigsten an der Spree. Pasternak fand Berlin „vollkommen unnütz“. Nabokov ließ acht Romane in Berlin spielen, keiner davon machte ihn weltberühmt. Vielleicht zog er auch deshalb in die USA weiter.
Anders als der wirtschaftlich unabhängige Nabokov hatten die meisten Russen jedoch gar keine Wahl. Mit der Stabilisierung der deutschen Wirtschaft und der Währung durch Einführung der Rentenmark wurde ihnen Berlin schlicht zu teuer. Viele zogen weiter nach Prag, Paris, Tel Aviv oder in die USA – einige wie der symbolistische Dichter Andrej Belyj, die Schriftsteller Alexej Tolstoj, Wiktor Schklowskij und Ilja Ehrenburg gingen 1923 zurück in die Sowjetunion.
Dort sorgte die von Lenin kurz vor seinen Tod propagierte Neue Ökonomische Politik (kurz NEP genannt) für eine vorübergehende politische Liberalisierung und wirtschaftliche Erholung, bevor ab 1927 unter dem neuen starken Mann Stalin alle Freiheiten jäh endeten.