So riecht der Sommer
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/YTJZF2T2OGNVZATG66QWYUTGG4.jpg)
Der Duft nach dem Chlorwasser im Schwimmbecken: Ein Geruch, dessen bloße Wahrnehmung schon Erfrischung offenbart – und der sich für viele tief ins Gedächtnis eingeprägt hat.
© Quelle: efekurnazi/Unsplash
Hannover. Man könnte meinen, der Lavendel blüht nur auf dem Cover des Reiseführers. So malerisch und perfekt kann eine Landschaft doch eigentlich gar nicht mehr wirklich sein. Die Erfahrung zumindest hat es uns gelehrt: Sobald sich das Auge auf die Schönheit der Umgebung einlässt, schiebt sich ein Gewerbegebiet ins Bild, eine Autobahnraststätte oder gar ein Atomkraftwerk.
Doch dann ist er plötzlich da, der Duft, den wir sonst nur aus dem Lavendelsäckchen im Kleiderschrank kennen. Er schleicht sich still und leise durch die Klimaanlage ins Auto, während die anderen schlafen und der Fahrer konzentriert auf die Fahrbahn schaut.
Und plötzlich, ganz unvermittelt, duftet es nach Lavendel. Der Blick nach links schließlich offenbart, was wir nicht zu hoffen gewagt hatten: Ein Lavendelfeld liegt da neben uns, weit und schön, gerade so wie aus einem Bilderbuch.
Der Sommer riecht für jeden anders
Später prägen den Urlaub noch andere Eindrücke: Die Abgase von Mofas, die sich mit der Hitze zu dem typischen Geruch einer südeuropäischen Stadt verbinden, der Duft von Pinien, salziger Luft und der vergessenen Abfalltonne, die bei fast 40 Grad im Schatten einen für uns unglaublichen Gestank entwickelte.
Doch dieser eine Augenblick auf der Autobahn, als der Duft von Lavendel unseren Blick auf die Landschaft abseits der Fahrbahn lenkt, prägt sich ein. Vielleicht bleibt er für immer in unseren Erinnerungen. Es ist der Duft des Sommers 2019.
Der Sommer riecht für jeden anders, und es kommt natürlich auch immer darauf an, wo man gerade ist. Der Sommer kann nach Schweiß in ungelüfteten Straßenbahnen riechen, oder nach Red Bull und überfüllten Festivalklos.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/JZFZT6SXXYADHSC3LRIHPJVWC4.jpg)
Ein Duft, der sich einprägt: Ein Lavendelfeld in der Sommersonne.
© Quelle: Leonard Cottec/Unsplash
Und dann ist da natürlich noch das Freibad: Der Duft nach dem Chlorwasser im Schwimmbecken. Ein Geruch, dessen bloße Wahrnehmung schon Erfrischung offenbart, und der so gar nichts gemein hat mit dem moderig-muffelnden Chlorgeruch eines Hallenbads.
Und schließlich gehört zum Sommer-Freibad-Duft noch die Portion Pommes frites mit viel Ketchup oder Mayonnaise oder beidem, ein Fastfood-Gericht, das niemals sonst so gut schmeckte wie damals, als wir noch klein waren und gefühlt den ganzen Sommer einen unbeschwerten Tag nach dem anderen im Schwimmbad verbrachten.
Der Duft des Sommers ist aber nicht nur ein romantischer Mythos, sondern ein ernsthafter Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Denn das, was wir als Sommergeruch abspeichern, ist von unserem individuellen Erleben und unserer Lebensumgebung geprägt und tief in der unbewussten Erinnerung verwurzelt.
Den „Madeleine-Moment“
Gerüche dringen sofort und ohne große Umwege in einen für Emotionen wichtigen Teil des Gehirns, das limbische System. Riechen wir sie wieder, kehren die Erinnerungen zurück.
Forscher nennen das den „Madeleine-Moment“: Was Marcel Proust in seinem berühmten Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ beschreibt, als sein Held ein Stück Madeleine-Gebäck in Lindenblütentee taucht und durch die spezielle Melange aus Duft und Geschmack von Kindheitserinnerungen überflutet wird, passiert im Grunde uns allen.
„Wie wir das jedoch für uns bewerten, hängt davon ab, ob angenehme oder unangenehme Situationen damit verknüpft sind“, sagt Prof. Hanns Hatt, vielfach ausgezeichneter Zellphysiologe an der Ruhr-Universität in Bochum und einer der renommiertesten Geruchsforscher weltweit.
Im Sommer riecht alles stärker, schwerer, wärmer
Deshalb können sogar Schweiß, auf dem Grill angebrannte Würstchen oder vom heißen Asphalt verbrannte Reifen positive Gefühle wecken. „Das sind erlernte Prozesse. Wenn wir Düfte mehrmals hintereinander mit bestimmten Situationen und Emotionen verbinden, dann riecht genau das für uns nach Sommer“, sagt Hatt. Neben dem Kindheitssommergeruch kann es dann auch andere, später erlernte Sommergerüche geben – etwa, wenn man irgendwann vom Dorf in die Stadt zieht.
Soziologen und Botaniker bieten Kurse über den Geruch des Sommers an. Natürlich sind da die Blütenaromen an vorderster Stelle, es folgen die Beeren, der pilzig-schattige Waldboden, das gemähte, saftige Gras nach einem sonnigen Tag, der unglaublich duftende Heuhaufen. Im Sommer riecht alles stärker, schwerer, wärmer.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/SSDRTBKS5T6WKCHA3SMX6IJHZM.jpg)
Eine typische Sommererinnerung: Die Abgase von Mofas, die sich mit der Hitze zu dem typischen Geruch einer südeuropäischen Stadt verbinden.
© Quelle: Davide Raguso/Unsplash
Doch können wir im Sommer eigentlich auch intensiver riechen? „Die Nase ist bei Wärme etwas besser durchblutet, ja, aber viel wichtiger ist die Tatsache, dass bei wärmeren Temperaturen mehr Duftmoleküle in der Umwelt freigesetzt werden“, sagt Geruchsforscher Hatt.
An dieser Stelle kommt dann auch der Sommerregen ins Spiel. „Im Regen selbst sind nicht viele Duftmoleküle enthalten“, erklärt der Experte. Aber das Wasser löst die zahlreich vorhandenen Duftmoleküle auf, sodass man sie intensiver wahrnehmen kann. Pflanzenausdünstungen, der modrig-erdige Duft von Bodenbakterien und Steinstaub gehören dazu.
Hinzu kommt: Nicht nur die individuellen Geruchserlebnisse, sondern auch der Kulturraum ist wichtig für das, was Menschen mit dem typischen Duft des Sommers verbinden. Denn: In Afrika oder Asien riecht der Sommer anders als etwa in Mitteleuropa, in Kroatien und Italien noch einmal anders als in Deutschland und Schweden.
Die Sehnsucht haben auch Parfümhersteller erkannt
Die Sehnsucht, diesen beruhigenden, schönen Duft immer wieder zu erleben, haben mittlerweile auch Parfümhersteller erkannt. Die Berliner Manufaktur Frau Tonis Parfüm interpretiert den Sommer bei einer ihrer Nuancen so: Iris trifft auf fruchtige Orangenblüten und Ylang-Ylang. Begleitet wird die Kombination von Rosenblüten und Bergamotte, Sandelholz und Vanille.
Auch bestimmte sommerliche Grünnoten versuchen Duftkreateure in die Bouquets solcher Sommerparfüms einzuflechten. „Sommerdüfte riechen leicht und blumig. In den letzten Jahren auch mehr mediterran geprägt, mit einer fruchtigen Note. Nach Citrus oder Bergamotte“, sagt auch Marc vom Ende. Er arbeitet als Parfümeur für das Unternehmen Symrise und ist dem ultimativen Sommerduft sozusagen hauptberuflich auf der Spur.
Um das Erlebnis von Sommer, Sonne, Strand und Meer nach dem Urlaub in den Alltag hinüberzuretten, hat der Kosmetikhersteller Baiersdorf unter dem Dach seiner Marke Nivea vor Kurzem ein Eau de Toilette entwickelt, das riecht wie die After-Sun-Lotion der Dachmarke.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/BMB7RSJ54MKY4YHYFSMGYE3XUI.jpg)
Gegen das frisch gemähte Gras im Garten der Großeltern zieht jedes Parfüm den Kürzeren.
© Quelle: Daniel Watson/Unsplash
Der ikonische Duft wurde bereits im Jahr 1994 vom Parfümeur Jean-Paul Pons entwickelt und kommt anders als andere Sonnenpflegeprodukte ohne Kokosöl aus, dafür sollen Nuancen von Blumen, Cumin, Zitrus und Holz den sogenannten „Strandeffekt“ vermitteln.
Und die Sehnsucht nach Sommer ist offenbar groß: Das Eau de Toilette war in vielen Geschäften schnell vergriffen. Doch gegen das frisch gemähte Gras im Garten der Großeltern oder den Chlor-Pommes-Geruch aus unbeschwerten Sommertagen in der Kindheit zieht ein Parfüm sowieso den Kürzeren.
Also atmen wir noch einmal tief ein. Die Blüte der Sommerblumen neigt sich dem Ende. Die Pflaumen und Äpfel sind längst reif und geben einen ersten Hinweis darauf, dass der Herbst naht. Vielleicht ziehen wir schon bald die letzten Bahnen im Freibad. Der Sommer neigt sich dem Ende. Was bleibt, ist die Erinnerung.
Von Dany Schrader und Andrea Barthélémy