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PR-Aktion mit lesbischem Paar in Russland: Der Regenbogen zeigt sich nur kurz

Juma, Mila, Alina und Ksjuscha (von links) bei ihrem Auftritt auf der Wkuswill-Website.

Juma, Mila, Alina und Ksjuscha (von links) bei ihrem Auftritt auf der Wkuswill-Website.

Moskau. Die Fußballnationalmannschaft Russlands kämpfte bei der EM gerade noch um die Qualifikation fürs Achtelfinale, als der Meinungsstreit um die Regenbogenfarben in der EU ihren Höhepunkt erreichte. In dieser Debatte kam eine Spaltung Europas in West und Ost über die unterschiedliche Interpretation von Grundwerten in Bezug auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und weitere Geschlechtsidentitäten (LGBT+) zum Ausdruck, die auch Russland berührt.

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Doch Ende Juni war den meisten Russen das Weiterkommen ihrer „Sbornaja“ noch wichtiger als die Farben des Regenbogens, die in den früheren sowjetischen Satellitenstaaten Polen und Ungarn für Verdruss sorgten. Kaum ist Russland bei der EM nicht mehr vertreten, hat sich im Land nun auch eine Debatte über Menschen mit LGBT+-Hintergrund entzündet. Auslöser ist eine PR-Kampagne der Ökosupermarktkette Wkuswill (auf neudeutsch in etwa „Tasteville“, von russisch „Wkus“ gleich „taste“, und „Ville“ gleich „Stadt“).

„Sie stehen für die Werte und die Vielfalt“

In einer Serie namens „Anleitung für das Familienglück“ stellt der Filialist auf seiner Website Familien vor, die die Firma zu ihren Kunden zählt. Ende Juni präsentierte sich das lesbische Paar Juma und Alina mit den Töchtern Mila und Ksjuscha in einer Folge der Serie. Die vier Frauen bewarben Wkuswill-Hummus und japanische Reisklöße mit Pilzen und erzählten davon, dass sie sich vegan ernähren, fairen Handel unterstützen und LGBT+-Menschen beherbergen, die darum kämpfen, in ihren eigenen Familien Akzeptanz zu finden.

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Ein solches Kundenporträt würde in Deutschland kaum Aufsehen erregen, doch in Russland ist es erklärungsbedürftig: „Es gibt auch solche Familien, die bei uns einkaufen“, begründete vkusvill.ru-Contentmanager Roman Poljakow seine Entscheidung, mit dem lesbischen Familienglück zu werben. „Sie stehen für die Werte und die Vielfalt, für die wir uns einsetzen“, sagte er dem russischen Nachrichtenportal „MBCH News“.

Und zunächst fühlte sich Poljakow auch bestätigt. Denn bei den regelmäßigen Nutzern der Wkuswill-Website fiel die Resonanz erst positiv aus: „Am ersten Tag haben wir Hunderte zustimmende Reaktionen erhalten“, sagt Poljakow, „viele User brachten Dankbarkeit zum Ausdruck, und nur sehr wenige reagierten mit Ablehnung.“

Beschimpfungen und Todesdrohungen

Doch dann sprach sich das Testimonial in frauenfeindlichen und homophoben Kreisen herum, und plötzlich sahen sich sowohl Wkuswill als auch die vier Frauen einer gewaltigen Hasskampagne ausgesetzt. In den sozialen Medien wurden die Accounts der Supermarktkette und der einzelnen Familienangehörigen mit Tausenden Beschimpfungen bis hin zu Todesdrohungen überschwemmt.

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Schließlich sah sich das Management der Supermarktkette genötigt, die Anzeige zurückzuziehen und stattdessen eine Entschuldigung zu veröffentlichen: „Wir betrachten diesen Artikel inzwischen als Fehler, der durch das unprofessionelle Management einzelner Mitarbeiter zustandekam“, heißt es in der Mitteilung, die von Wkuswill-Gründer Andrej Kriwenko und elf weiteren Führungskräften unterschrieben ist. „Das Familienporträt hat die Gefühle einer großen Anzahl unserer Kunden, Mitarbeiter, Partner und Lieferanten verletzt. Zu keinem Zeitpunkt wollten wir zur Quelle von Unfrieden und Hass werden. Wir entschuldigen uns aufrichtig.“

Homophobes Netzwerk „Männlicher Staat“ applaudiert

Doch mit diesem Kniefall war die Angelegenheit nicht erledigt. Bei der antifeministischen Gruppierung „Männlicher Staat“ löste Wkuswills Entschuldigung zwar Triumphgeheul aus, die Sache siegreich zu Ende gebracht zu haben: „Nach unseren Protesten wurde der Beitrag über die Fem-Fuckers gelöscht“, applaudierte das homophobe Netzwerk auf seinem Kanal beim Instant-Messaging-Dienst Telegram, „und durch einen Bericht über eine normale patriarchalische Familie ersetzt. Gut gemacht, Jungs. Heil, Männlicher Staat.“

Bei russischen Aktivisten für die gleichgeschlechtliche Liebe machte sich wegen des Rückziehers der Ladenkette andererseits Frust breit: „Menschen mit LGBT+-Hintergrund stehen ihr Leben lang unter dem Druck einer homophoben Gesellschaft“, twitterte der Homosexuelle Kirill Gorjatschew, „und Wkuswill kann das nicht einmal für ein paar Tage aushalten.“

Ein Aktivist fragte auf dem Instagram-Account der Schwulenrechtsorganisation Russia for Gays: „Kann ich als normaler Kunde und als LGBT-Mensch meinen weiteren Aufenthalt innerhalb der Wände des Ladens als Fehler der Mitarbeiter betrachten, die mich reingelassen haben? Ich weiß es nicht.“

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Haftandrohung und Hausarrest für harmlose Zeichnungen

Der Vorfall und die sich anschließende Debatte sind symptomatisch für die Situation von Menschen mit LGBT+-Hintergrund in Russland. Acht Jahre nachdem das „Gesetz gegen homosexuelle Propaganda“ am 30. Juni 2013 in Kraft getreten ist, welches positive Äußerungen über Homosexuelle in Anwesenheit von Kindern unter Strafe stellt, ist ihre Lage paradoxer als damals.

Denn trotz des Gesetzes sind LGBT+-Menschen in den vergangenen Jahren in der russischen Gesellschaft sichtbarer geworden. Dass Wkuswill ihnen Gesichter gab, ist kein Zufall. Gleichzeitig hat sich die staatlich sanktionierte Homophobie verschärft. LGBT+-Russen sind regelmäßig Aggressionen ausgesetzt, die oft von den Behörden geschürt werden. Der lesbischen Künstlerin Julia Tsvetkova drohen momentan etwa bis zu sechs Jahre Haft – weil sie gleichgeschlechtliche Paare mit Regenbogenmotiven, nackte Frauen oder Vaginas malt und in sozialen Netzwerken postet.

Aktivistinnen der russischen Punkgruppe „Pussy Riot“ haben anlässlich des 68. Geburtstags von Kremlchef Putin im Jahr 2020 Regenbogenflaggen vor mehreren Verwaltungsgebäuden in Moskau aufgehängt.

Aktivistinnen der russischen Punkgruppe „Pussy Riot“ haben anlässlich des 68. Geburtstags von Kremlchef Putin im Jahr 2020 Regenbogenflaggen vor mehreren Verwaltungsgebäuden in Moskau aufgehängt.

Die 28-Jährige aus Komsomolsk am Amur im fernen Osten des Landes saß bereits monatelangen Hausarrest ab und musste Geldstrafen zahlen. Die Begründung des Gerichts: Sie schade mit ihrer Kunst Kindern, es handle sich um Pornografie. Zudem wird ihr „Homopropaganda“ im Sinne des Gesetzes von 2013 vorgeworfen.

Warum der Staat gegen eine offensichtlich harmlose und friedliche Frau mit solcher Härte vorgeht, erklären Beobachter zunächst mit der langen Tradition, die die scharfe Verfolgung von Schwulen in der Sowjetunion und in ihren Nachfolgestaaten hatte, die noch auf Stalin zurückgeht. Darauf wies kürzlich der Osteuropahistoriker Alexander Friedman, der aus Belarus stammt und jetzt in Deutschland lebt, gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) hin.

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Hinzu kommt, dass es zu einem dramatischen Anstieg der Homophobie in Russland in den Nullerjahren kam. Das „Gesetz gegen homosexuelle Propaganda“ sei ein populistisches Zugeständnis der Staatsmacht an die vielen Russen gewesen, schrieb die „New York Times“ seinerzeit, „die „Homosexualität als ein Zeichen von eindringender Dekadenz in einer globalisierten Ära“ empfinden.

Viele Russen hätten das Gefühl, dass sie sich gegen „diesen kulturellen Tsunami“ wappnen könnten, indem sie sich auf „traditionelle Werte“ beriefen, von denen die Ablehnung von Homosexualität die einfachste Kurzform sei. Für die Staatsmacht habe ihr Vorgehen gegen Menschen mit LGBT+-Hintergrund zudem den Vorteil, Applaus von der extrem nationalistischen Rechten und der russisch-orthodoxen Kirche zu bekommen.

Staatsnahe Medien rücken Schwule in negatives Licht

Da passt es ins Bild, dass die staatsnahen Medien Homosexuelle und Transgender in ihrer Berichterstattung systematisch in ein negatives Licht rücken, indem sie abwertende Formulierungen verwenden, indem sie etwa von „sexuelle Minderheiten“ sprechen. Ein Bespiel lieferte erst kürzlich die „Iswestija“, als die britische und die amerikanische Botschaft in Moskau im Pride Month Juni jeweils die Regenbogenflagge hissten. Die kremlnahe Tageszeitung ließ in dem Artikel Kreml-Sprecher Dmitri Peskow zu Wort kommen, der daran erinnerte, dass Propaganda für „nicht traditionelle sexuelle Minderheiten“ in Russland rechtlich nicht hinnehmbar sei.

Die Berichterstattung kommt manchmal schon Hasstiraden gleich, anderseits gibt es inzwischen auch Handreichungen, wie in russischer Sprache politisch korrekt über LGBT+-Themen berichtet werden sollte. Zu diesen gehört etwa ein Wörterbuch des Nachrichtenportals „Takie dela“ der Hilfsorganisation Nuschna Pomoschtsch (deutsch: Bitte helfen) oder ein kostenloses Nachschlagewerk, das von der Journalistin Sascha Kasantsewa und der Sankt Petersburger T-Action Trans Initiative Group herausgegeben wurde.

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Homophobie führt zu Zensur in Hollywood-Filmen

Eine direkte Folge der Gesetzgebung von 2013 sind Zensur und Selbstzensur. So schnitten die russischen Filmverleiher die schwulen Sexszenen aus dem Elton-John-Biopic „Rocketman“ von 2019 ebenso heraus wie aus dem Liebesdrama Supernova (2020), wodurch das schwule Paar im Film so erscheint, als ginge es um zwei männliche Freunde, die sich sehr nahestehen.

Selbst Weltmarken zensieren sich selbst, wenn es um den russischen Markt geht. In diesem Jahr brachte etwa Adidas einen Teil seiner „Pride“-Kollektion – genannt „Love Unites“ – in die russischen Läden. Anders als auf der nordamerikanischen Website des Unternehmens spuckt die Suchfunktion von adidas.ru allerdings keine Ergebnisse aus, wenn dort „Pride“ in englischer oder russischer Sprache eingegeben wird. Die Mitarbeiter in den Adidas-Filialen in Russland wurden angewiesen, den Kunden nichts über die Inspiration für die Kollektion zu erzählen und nur Fragen „zu den Details des Produkts selbst“ zu beantworten. Das Beispiel zeigt, wie couragiert die Werbeaktion von Wkuswill tatsächlich war.

LGBT-Menschen erleben immer wieder Gewalt

Ein weiteres Problem für Homo-, Bisexuelle und Transgender in Russland besteht in der Gewalt, die sie bis hin zum Mord besonders in Tschetschenien fürchten müssen. Aber auch außerhalb der islamisch geprägten Kaukasusrepublik leben Menschen mit LGBT+-Hintergrund in Russland nicht sicher. Für Aufsehen sorgte etwa ein Fall im Juni 2019, als ein junger Homosexueller mitten in Moskau am Kursker Bahnhof von einem Angreifer allein aufgrund seiner sexuellen Orientierung erstochen wurde. Die Staatsanwaltschaft klagte den Täter zwar an, doch das Gericht sprach ihn von allen Anschuldigungen frei.

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Allerdings gehen homophobe Hassverbrechen vor russischen Gerichten nicht immer zugunsten der Angeklagten aus. Im März dieses Jahres verurteilte das Frunsenskij-Gericht in Sankt Petersburg zwei Erpresser, die im Wissen um die Homosexualität von 18 Männern hohe Geldsummen von diesen gefordert hatten, zu Haftstrafen von sechseinhalb und vier Jahren.

Kremlchef Wladimir Putin weist immer wieder den Vorwurf einer homosexuellenfeindlichen Politik in Russland zurück. Menschen mit LGBT+-Hintergrund genießen aus seiner Sicht alle Freiheiten und Rechte wie die übrigen Bürger des Landes. Diese Auffassung trifft nur insoweit zu, dass homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen in der russischen Föderation nicht mehr verboten sind, wie es bis 1993 der Fall war.

Doch wer seine Geschlechtlichkeit jenseits der Heterosexualität in Russland ausleben will, dem bleibt vorläufig häufig nichts anderes übrig, als dies möglichst diskret und heimlich zu tun. Auch wenn es immerhin nun ein paar Tage lang lesbische Frauen als Werbeträgerinnen gab.

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