Musterschüler Benjamin von Stuckrad-Barre spielt mit seinem Meister
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/ZNBDSZIIBL4P2TJDWD6W5GZXWQ.jpg)
Benjamin von Stuckrad-Barre auf der Lit.Cologne.
© Quelle: Rolf Vennenbernd / dpa
Berlin. Im Mai 2012 fand im Berliner Axel-Springer-Haus vor 1000 Gästen eine denkwürdige Veranstaltung statt. Der 100. Geburtstag der Verlegerlegende wurde gefeiert. Konzernchef Mathias Döpfner machte dabei seiner Förderin Friede Springer ein ganz besonderes Geschenk: eine Revue mit dem originellen Titel „100 Jahre in 100 Minuten“. Axel Springer wurde darin vom Schauspieler Herbert Knaup verkörpert. Gastauftritte hatten Udo Lindenberg, Max Raabe und Wilhelm Wieben. Die Witwe war begeistert.
Mitautor dieser Geburtstagsüberraschung war Benjamin von Stuckrad-Barre, der seit 2008 als Springer-Musterschüler exklusiv für die Blätter des Verlags, vor allem aber für „Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „B.Z.“ schrieb und einst neben Udo Lindenberg und Walter Kempowski auch Axel Springer zu seinen Vorbildern zählte. Die Liaison hielt zehn Jahre, nicht zuletzt, weil Döpfner angetan war vom Wirken und Leben des ewigen Popliteraten. Die beiden galten als so etwas wie Buddies, wie der Schüler und sein Meister.
Das ist Schnee von gestern. Spätestens seit 2021 ist das Tischtuch zwischen dem Manager und Stuckrad-Barre zerrissen.
Beschwerde über Reichelt
Nach einer Beschwerde bei der Konzernleitung des Axel-Springer-Verlags über Fehlverhalten des damaligen „Bild“-Chefredakteurs Julian Reichelt gegenüber Mitarbeiterinnen wurden durch die „New York Times“ im Herbst 2021 private Whatsapp-Nachrichten von Döpfner an Stuckrad-Barre publik. In denen bezeichnete der Springer-Chef die Bundesrepublik wegen der Corona-Maßnahmen als „neuen DDR-Obrigkeitsstaat“ und verteidigte Julian Reichelt als den „letzten und einzigen Journalisten in Deutschland“. Der Ton ähnelt den jüngsten, zuerst von der „Zeit“ veröffentlichten Döpfner-Leaks.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/V7YXHUBSTNCSHO5GSKU7NXZPLA.jpeg)
Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Erst im Februar dieses Jahres musste das „Manager Magazin“ eine Richtigstellung zu einem großen Porträt des Springer-Chefs veröffentlichen. Darin stand ursprünglich, dass Stuckrad-Barre und Döpfner „gemeinsam gefeiert hätten, unter anderem in Döpfners Berliner Lieblingstechnoklub Berghain“. Das Magazin musste die Passage folgendermaßen korrigieren: „Tatsächlich war Herr von Stuckrad-Barre zu keinem Zeitpunkt mit Herrn Döpfner im Berghain“ und habe „dieses übrigens nach eigener Aussage auch nicht vor“. Autsch!
Vor diesem Hintergrund ist die Aufregung und das Geraune in der Medienwelt um Stuckrad-Barres seit Anfang April 2023 geschickt vermarktetes neues Buch „Noch wach?“ (Erscheinungstag 19. April 2023) durchaus verständlich. Im Februar hatte der Verlag Kiepenheuer & Witsch das Feuer geschürt: „Literarisch brillant, humorvoll und kompromisslos erzählt dieser Roman von Machtstrukturen und Machtmissbrauch, Mut und menschlichen Abgründen“, hieß es in einer Mitteilung.
Warten auf Schlüsselroman
Was alle erwarten: Benjamin von Stuckrad-Barre hebt pikante Interna über Döpfner auf eine fiktionale, erzählerische Ebene. Der Buchtitel selbst scheint sich auf Nachrichten zu beziehen, die der 2021 von Döpfner gefeuerte Reichelt an Mitarbeiterinnen geschickt haben soll.
Ist Stuckrad-Barre also ein „Schlüsselroman“ zum Verstehen der deutschen Medienbranche im Allgemeinen und toxischer Strukturen im Axel-Springer-Verlag im Besonderen gelungen, wie Kolleginnen und Kollegen in Vorabberichten vermuten, wünschen, hoffen? Zumindest wird der 48-Jährige nun als Autor wahrgenommen, der längst den Mantel des Popliteraten abgestreift hat, der ihn mit seinen Bestsellern „Soloalbum“ (1998), „Livealbum“ (1999) und „Blackbox“ (2000) verband. Da war Stuckrad-Barre gerade mal 25.
Es wird oft übersehen, dass der gebürtige Bremer, jüngstes von vier Kindern eines Pfarrers und einer Lehrerin, journalistisch mit allen Wassern gewaschen ist. Der Norddeutsche Rundfunk, die „Tageszeitung“, der „Rolling Stone“, „FAZ“, „Die Woche“, „Spiegel“ und „Stern“ nahmen ihm Texte ab. Er schrieb ebenfalls für die Harald Schmidt Show und probierte sich in eigenen TV-Formaten aus. 2013 erhielt Stuckrad-Barre gemeinsam mit Hajo Schumacher den „Deutschen Reporterpreis“ für ein brilliantes Doppelinterview in der „Welt am Sonntag“ mit Jürgen Flimm und Jörg Schönbohm. Titel: „Ohne unsere Frauen wären wir jetzt tot“.
Stuckrad-Barre: „Alkohol war nie das Problem“
Stuckrad-Barre war zu dieser Zeit nach eigenen Angaben sieben Jahre clean. Denn dem Aufstieg als Autor folgten schlimme Abstürze, wie die 2004 gesendeten Dokumentation „Rausch und Ruhm“ von Herlinde Koelbl mit verstörender Offenheit zeigte. Ein Arzt bescheinigte dem Mann, dass er mit seiner „Selbstabschaffung“ schon „ziemlich weit vorangekommen“ sei. 2012 resümierte er in einem Interview in Springers „Welt“: „Alkohol war bei mir nie so das Problem, es waren die Substanzen, die als harte Drogen bezeichnet werden, und in meinem Hirn ist das offenbar miteinander verknüpft; der eine Rausch würde, einmal hereingebeten, dem anderen mitteilen, wo der Schlüssel ist, und flugs würden die mir gemeinsam die Bude auf links drehen.“
Als 2016 sein Buch „Panikherz“ erschien, schrieb die Autorin Helene Hegemann (Axolotl Roadkill) im „Spiegel“ darüber: Der Roman sei „Stuckrad-Barres von Überbegabtheit, Sucht und Musik geprägte Autobiografie und dermaßen gut geschrieben, dass man trotz all der aufeinanderfolgenden Vollkatastrophen bei jedem Satz spürt, wie sich sein Elend am Ende doch noch bezahlt gemacht hat. Es ist perfide, einen Autor dafür zu beglückwünschen, Erfahrungen überstanden zu haben, an denen ein Großteil seiner Leser zugrunde gegangen wäre; er hat sich nicht für eine Überzeugung geopfert, sondern seinen eigenen Hedonismus überlebt, man kann ihm also leider nicht zum Inhalt seines Buches gratulieren, der sein eigenes Leben ist, denn das hätte er ja wirklich beinahe komplett vor die Wand gefahren.“
Grenzübertretungen
„Panikherz“ beschreibt in Stuckrad-Barres gewohnt lustvoller, aber zugleich lakonisch-nüchterner Art, welchen Preis er für seine Grenzübertretungen zahlen musste – gesundheitlich, sozial und finanziell. Es ist das Buch, dass ihm nicht nur Bewunderung, sondern auch Respekt einbrachte. Es ist aber vor allem der Text einer Selbstvergewisserung, dass man allen Unkenrufen zum Trotz noch da ist. Und stolz darauf. 2020 folgte mit „Alle sind so ernst geworden“ ein erwachsener Smalltalk mit dem Schweizer Schriftsteller Martin Suter in Buchform.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/FCACMA7ZGBB43OURDVGL2YOOTI.jpg)
Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt.
© Quelle: Getty Images
Noch wach? In Springers Chefetage konnten sie wahrscheinlich schon Tage vor dem Erscheinungstermin von Stuckrad-Barres „Sittengemälde unserer Zeit“ (O-Ton KiWi-Verlag) nicht mehr richtig schlafen. Darin trifft der Erzähler im Garten des „Chateau Marmont“ in Los Angeles – zufällig jene legendäre Herberge, in der auch Benjamin von Stuckrad-Barre Monate zubrachte – die Schauspielerin Rose McGowan. Sie wird zu einer zentralen Figur im Weinstein-Skandal von Hollywood, von wo aus sich die #MeToo-Bewegung um die ganze Welt verbreitet.
Schließt sich der Kreis zu Springer?
Schließt sich hier der Kreis zu Springer, Döpfner und Reichelt? Spielt der Schüler mit dem Meister? Stuckrad-Barres Erzähler jedenfalls findet sich laut Verlagsankündigung „nicht mehr nur als Liegestuhlbeobachter, sondern nun als Akteur mitten in einem unübersichtlichen Geschehen wieder, das ihn in einen tiefen persönlichen Konflikt stürzt“.
Im vergangenen Jahr erzählte Stuckrad-Barre seinem Kumpel Hajo Schumacher in einem Podcast der „Berliner Morgenpost“, dass er gerade an etwas arbeite, „was ich drei Jahre oder so selbst erlebt habe“. Beim Schreiben habe er die „schönsten emotionalen Ausschläge“ gehabt. Was auch immer das bedeutet ...