Katastrophengebiet Erftstadt: „Jetzt läuft das gesamte Wasser des Flusses in die Grube“
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Eine Drohnenaufnahme zeigt das Ausmaß der Zerstörung nach dem Unwetter.
© Quelle: David Young/dpa
Die Not ist groß – und der Schock. Wie an vielen anderen Orten sind auch die Menschen im nordrhein-westfälischen Erftstadt fassungslos angesichts des Ausmaßes der Katastrophe. Erftstadt hat gut 50.000 Einwohner, die Stadt hat es besonders hart getroffen, viele Einwohner haben bei dem Hochwasser alles verloren. Ihnen sei nichts geblieben außer „ihrer Hoffnung“, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. „Und diese Hoffnung dürfen wir nicht enttäuschen.“ Tröstende Worte vom ersten Mann im Staate.
Aufrichten, was zerstört ist
Steinmeier appelliert vor laufenden Kameras an die Deutschen. „Jeder kann was tun, um den Opfern der Flutkatastrophe zu helfen.“ Auch im Kleinen. Spendenaktionen seien angelaufen. Jetzt gehe es darum, aufzurichten, was zerstört worden sei, sagte er am Samstagmittag vor dem Feuerwehrstützpunkt von Erftstadt. Zusammen mit Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hat sich der Bundespräsident vor Ort ein Bild von der Lage gemacht.
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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD, links) und Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Kanzlerkandidat, besuchen die Feuerwehrleitzentrale.
© Quelle: Marius Becker/dpa
Das Wasser der Erft läuft in die Grube
Drei Männer aus dem Stadtteil Blessem schauen sich die improvisierte Pressekonferenz aus der Distanz an. Einer von ihnen hat schon Ideen für den Wiederaufbau. „Wir müssen die Erft einbetten, einen Graben bauen. Anders geht das nicht“, meint er. In Blessem hat es einen heftigen Erdrutsch gegeben. Häuser sind eingestürzt. Eine gigantische Grube ist entstanden – ein riesiger Krater klafft in dem Ort. „Jetzt läuft das gesamte Wasser der Erft in die Grube“, erläutert der andere Mann. Hinter der Grube sei der Fluss trocken.
Zumindest der untere Teil von Blessem, der direkt am Fluss liegt, müsse bestimmt neu aufgebaut werden, sagt der Dritte. Das Wasser habe die Straßen unterspült. Da seien Hohlräume entstanden. Die Straßen seien bestimmt einfach weggespült worden.
Wie es in seinem Heimatort zu dieser Stunde tatsächlich aussieht, weiß das Trio nicht. Der Stadtteil ist, wie alle anderen von Erftstadt, hermetisch abgeriegelt. Keiner kommt mehr rein, zu groß ist die Gefahr, dass viele Häuser noch einstürzen könnten.
Die drei Familienväter sind bei Freunden und Verwandten untergekommen. Wann sie wieder zurück in ihre Häuser dürfen, wissen sie nicht. Die Schätzungen schwanken zwischen ein paar Wochen und einem halben Jahr. Verlassen mussten sie den Stadtteil ganz schnell. Wann das war, kann keiner sagen, ihnen allen ist das Zeitgefühl verloren gegangen. Es muss Donnerstagvormittag gewesen sein.
Keine Chance, zu den Eltern zu kommen
„Wir haben gesehen, wie das Wasser plötzlich total schnell gestiegen ist“, sagt der Mann, dessen Eltern direkt am Fluss wohnten. Er selbst fuhr noch schnell tanken. Als er zehn Minuten später nach Blessem zurückkehren wollte, war die Hauptstraße zu einem reißenden Fluss geworden. „Keine Chance, zu den Eltern durchzukommen“, sagt er. Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu. „Wir mussten sie zurücklassen.“ Stunden später, als die Flugwelle abgeflaut war, wurden die Senioren von einem Radlader gerettet. Das Haus? „Das war ein Fertighaus. Das ist bestimmt weg.“
In Blessem ist man viel Regenwasser aus der Eifel gewohnt. Überschwemmungen habe es immer wieder gegeben, sagen die alteingesessenen Erftstädter. Doch was am Donnerstag kam, überrascht und schockiert jeden. Vielleicht sei das überlastete Regenrückhaltebecken für die Situation verantwortlich, mutmaßen Einwohner. Ein Sprecher des Rhein-Erft-Kreises kann das nicht bestätigen. „Wir haben von vielen Menschen gehört, dass das Wasser sehr schnell kam, wir wissen aber noch nicht, was die genaue Ursache dafür war“, so der Sprecher.
Warnungen vor der Flutwelle am Donnerstagmorgen gab es keine, sagen die drei unisono. Aber sie räumen auch ein, dass es kaum Zeit dafür gegeben hätte.
Kaum jemand ist gegen Naturkatastrophen versichert
Die drei Männer aus der Kleinstadt sind am Samstagnachmittag mit den Fahrrädern in den Stadtteil Blessem gekommen. Es geht ihnen aber nicht darum, den Bundespräsidenten oder ihren Ministerpräsidenten zu sehen, die in die Stadt nahe Köln mit großer Wagenkolonne gekommen sind, um unter anderem mit Einsatzkräften zu reden. Vielmehr sind die drei unterwegs, um sich im Rathaus die Soforthilfe von 200 Euro zu holen, die es pro Kopf für alle Betroffenen gibt.
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In Erftstadt-Blessem sind Häuser massiv unterspült worden und einige eingestürzt oder in eine nahe Kiesgrube gestürzt.
© Quelle: imago images/Future Image
Einen Steinwurf vom Feuerwehrstützpunkt entfernt hat sich vorm Erftstädter Verwaltungssitz eine gut 100 Meter lange Schlange gebildet – nicht wegen des hohen politischen Besuchs. Den Menschen ist schnelle Hilfe jetzt wichtiger. Eine Frau in Gummistiefeln und schlammverschmierten Jeans will die 200 Euro nicht für sich, sondern für die alte Nachbarin, die nebenan gewohnt hat. „Sie wohnt im Erdgeschoss – und das ist „komplett abgesoffen“, sagt sie. „Die alte Frau hat alles verloren.“ Was von ihrem eigenen Hab und Gut zerstört ist, kann sie noch nicht überblicken.
Solche Geschichten machen unter den Leuten in der Warteschlange die Runde. Es wird über Versicherungen diskutiert, und darüber, dass kaum jemand die Zusatzversicherung gegen Naturkatastrophen fürs Haus abgeschlossen habe, weil das für Häuser, die am Fluss stehen, sehr teuer sei. Die Bewohner wissen, dass sie ihre Schäden kaum ersetzt kriegen werden.
Patienten werden in letzter Minute gerettet
Wie schnell das Wasser kam, auch darüber wird gesprochen „Ich habe noch meinen Mann gewarnt, dass wir rausmüssen“, sagt die Frau in Gummistiefeln. Da habe es knöcheltief in der Küche gestanden. Fünf Minuten später sei es bis zu den Knien gegangen. Eine Krankenschwester berichtet von der Evakuierung des örtlichen Krankenhauses. „Ich habe es wirklich mit der Angst bekommen.“ In buchstäblich letzter Minute seien die Patienten und Patientinnen gerettet worden.
Während Armin Laschet und Frank-Walter Steinmeier im Feuerwehrstützpunkt mit Einsatzkräften reden, fährt draußen ein riesiger Traktor vor. Das schwere Fahrzeug kommt nicht durch, weil auch die Autos der Wagenkolonne den Weg versperren. Minuten vergehen, dann klappt es endlich doch. Der Trecker soll bei der Bergung eines Feuerwehrautos helfen. Kurz darauf rennen Feuerwehrleute los, die gegenüber dem Stützpunkt gewartet hatten. Mit Blaulicht und Martinshorn geht es in den Einsatz. Wohin, weiß auch der Sprecher des Rhein-Erft-Kreises nicht. Eine Staubwolke steht noch länger in der Luft. Die Straßen von Erftstadt sind von getrocknetem Schlamm bedeckt.
RND