Alltag in Entbindungsklinik in Pokrowsk

Kampf ums Leben frühgeborener Babys an den ukrainischen Frontlinien

Das Neugeborene Timur wird nach seiner Geburt im Perinatal-Krankenhaus in Pokrowsk in der Region Donezk in der Ostukraine zum ersten Mal gewogen. Die Ärzte bestehen darauf, dass das Krankenhaus geöffnet bleibt, weil die Reise nach Westen in eine Entbindungsklinik außerhalb des Kriegsgebiets zu riskant wäre.

Das Neugeborene Timur wird nach seiner Geburt im Perinatal-Krankenhaus in Pokrowsk in der Region Donezk in der Ostukraine zum ersten Mal gewogen. Die Ärzte bestehen darauf, dass das Krankenhaus geöffnet bleibt, weil die Reise nach Westen in eine Entbindungsklinik außerhalb des Kriegsgebiets zu riskant wäre.

Pokrowsk. Das Schreien der kleinen Veronika hallt durch die Korridore der Geburtsklinik im ostukrainischen Pokrowsk. Das Mädchen wurde fast zwei Monate zu früh geboren und wiegt gerade mal drei Pfund. Ein Nasenschlauch versorgt den Winzling mit Sauerstoff, und ultraviolette Lampen im Brutkasten behandeln seine Gelbsucht. Die Ärztin Tatjana Myroschnytschenko schließt vorsichtig die Schläuche an, die Veronika benötigt, um mit der aufbewahrten Brustmilch ihrer Mutter gefüttert zu werden.

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+++ Alle Entwicklungen zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++

Vor Beginn der russischen Ukraine-Invasion am 24. Februar gab es in den von der Regierung kontrollierten Gebieten der vom Krieg zerrütteten Donezk-Region drei Krankenhäuser mit Einrichtungen für die Betreuung frühzeitig geborener Babys. Eines wurde von einer russischen Rakete getroffen, und das andere musste aufgrund der Kämpfe schließen. Jetzt ist nur noch die Entbindungsklinik in der Kohlebergbau-Stadt Pokrowsk in Betrieb.

Russische Angreifer halten rund die Hälfte des Donezk-Gebietes besetzt

Myroschnytschenko, die einzige verbliebene Ärztin für Neugeborene der Einrichtung, lebt jetzt in der Klinik. Ihr dreijähriger Sohn verbringt hier ebenfalls einen Teil seiner Woche, den anderen daheim mit seinem Vater, einem Bergbauarbeiter. Die Ärztin erklärt, warum es ihr unmöglich ist, die Klinik zu verlassen: Selbst wenn die Luftschutzsirenen heulen, können die Babys auf der Inkubationsstation nicht von ihren lebensrettenden Maschinen abgekoppelt werden. „Veronika in den Schutzkeller zu bringen, würde fünf Minuten dauern. Aber diese fünf Minuten könnten für sie kritisch sein“, sagt Myroschnytschenko.

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Klinikvertretern zufolge hat sich Anteil der vorzeitigen Geburten beziehungsweise mit Komplikationen dieses Jahr im Vergleich zu vergangenen Zeiten etwa verdoppelt. Das wird auf Stress und die sich rapide verschlechternden Lebensbedingungen der werdenden Mütter in der Region zurückgeführt.

Die russischen Angreifer und von Moskau unterstützten Separatisten halten jetzt rund die Hälfte des Donezk-Gebietes besetzt. Pokrowsk etwa 60 Kilometer westlich der Frontlinien befindet sich weiter unter Kontrolle der ukrainischen Regierung.

Auf den Entbindungsstationen der Klinik wird das Thema Krieg vermieden. „Alles was außerhalb des Gebäudes geschieht, kümmert uns natürlich, aber wir sprechen nicht darüber“, sagt Myroschnytschenko. Die Hauptsorge gelte den Babys.

„Ich fürchte um das Leben der Kleinen“

Krieg herrscht in der Donezk-Region schon seit 2014, da begannen die moskautreuen Separatisten mit ihrem Kampf gegen die Regierung in Kiew und übernahmen die Kontrolle über Teile des Gebietes. Aber erst jetzt ist es so weit gekommen, dass frisch gebackene Mütter längere Zeit im Krankenhaus behalten werden, weil es wenig Möglichkeit für ihre Betreuung gibt, sobald sie die Einrichtung verlassen haben.

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Inna Kyslytschenko aus Pokrowsk wiegt sanft ihre zwei Tage alte Tochter Jesenja. Die 23-Jährige erwägt, sich wie viele andere Einwohner in Donezk vor ihr auf den Weg in die sicherere Westukraine zu machen, wenn ihre Zeit in der Klinik vorbei ist. Lebenswichtige Dienstleistungen in den von der Regierung kontrollierten Donezk-Gebieten wie die Versorgung mit Strom und Wasser sind beeinträchtigt, weil russische Bomben die Infrastruktur beschädigt haben. Und die Lebensbedingungen werden sich noch weiter verschlechtern, wenn der Winter kommt.

Mord an Darja Dugina: Russland macht Ukraine für Attentat verantwortlich

Kiew hatte zuvor schon zurückgewiesen, etwas mit der Ermordung von Darja Dugina in der Nacht zum Sonntag zu tun zu haben.

„Ich fürchte um das Leben der Kleinen, nicht nur, was unsere (Tochter) betrifft, sondern um das Leben aller Kinder, um die ganze Ukraine“, sagt die junge Mutter.

Nach UN-Angaben sind bereits mehr als zwölf Millionen Ukrainer vor dem Krieg aus ihren Heimatorten geflohen, ungefähr die Hälfte halten sich woanders im Land auf, der Rest ist in andere europäische Länder gezogen. Aber die Geburtsklinik aus Pokrowsk zu verlegen, ist keine Option. „Wenn das Hospital anderswo angesiedelt würde, müssten die Patienten weiter hier bleiben“, sagt Chefarzt Iwan Zyganok, der auch dann weiter gearbeitet hat, als die Stadt von den Russen unter Beschuss genommen wurde. „Babys auf die Welt zu bringen ist nichts, das gestoppt oder verschoben werden könnte“, sagt er.

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Die nächstgelegene aktive Entbindungsklinik befindet sich in der benachbarten Region Dnipropetrowsk, eine dreieinhalbstündige Autofahrt auf Nebenstraßen entfernt - eine Reise, die als zu riskant für hochschwangere Frauen gilt.

In der vergangenen Woche sind der 24-jährige Andrij Dobrelja und seine 27-jährige Frau Maryna aus einem nahe gelegenen Dorf in die Klinik gekommen. Sie waren angespannt und sagten wenig, während die Ärzte eine Reihe von Tests durchführten und Maryna dann für einen Kaiserschnitt in einen Operationsraum brachten.

Zyganok und sein Team wechselten eilig ihre Kleidung und bereiteten sich auf die Prozedur vor. 20 Minuten später waren die Schreie eines neugeborenen Babys zu hören - ein Junge namens Timur. Nach einer ersten Untersuchung wurde der Kleine in einen Nebenraum gebracht, um Bekanntschaft mit seinem Vater zu machen. Fast zu ängstlich um zu atmen küsste Andrij Dobrelja zärtlich Timurs Köpfchen und flüsterte ihm etwas zu. Als sich das Neugeborene an seiner Brust entspannte, traten Tränen in Andrijs Augen.

Wie geht es mit der Klinik weiter? Nach nunmehr schon sechs Monaten Krieg sagen Zyganok sowie seine Kollegen und Kolleginnen, dass sie einen hoffnungsvolleren Grund zum Bleiben haben. „Diese Kinder, die wir in die Welt bringen, werden die Zukunft der Ukraine sein“, sagte der Chefarzt. „Ich glaube, ihr Leben wird anders als unseres sein. Sie werden außerhalb von Krieg leben.“

RND/AP

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