Jens Söring über sein erstes Jahr in Freiheit: „Dann weiß ich, dass ich richtig angekommen bin“

Jens Söring.

Jens Söring.

33 Jahre saß Jens Söring im Gefängnis, den Großteil davon in den USA – verurteilt wegen Doppelmordes an den Eltern seiner damaligen Freundin. Er hatte die Morde an Derek und Nancy Haysom im Jahr 1985 zunächst gestanden, später aber das Geständnis widerrufen und beteuert bis heute seine Unschuld. Seit Dezember 2019 ist der heute 55-Jährige nach seiner Haftentlassung wieder in Deutschland und hat das Buch „Rückkehr ins Leben“ über sein erstes Jahr in Freiheit geschrieben. Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) lacht Jens Söring, wenn er über seinen Lebensalltag in Freiheit spricht und wird ernst beim Thema Familie und Beziehungen.

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Herr Söring, als Sie Ende 2019 nach 33 Jahren aus der Haft entlassen wurden, war Ihr Gesicht in allen Medien. Wenn Sie heute Menschen kennenlernen, machen Sie sich Gedanken, ob Ihr Gegenüber Sie für einen Doppelmörder hält?

Ich habe bisher ausschließlich positive Reaktionen bekommen. Das kann sich natürlich noch ändern. Was kann man mir an den Kopf werfen? Man kann mich einen Doppelmörder nennen. Das bin ich seit Jahrzehnten genannt worden.

Sie werden nicht mehr juristisch die Unschuld, von der Sie überzeugt sind, beweisen können, weder hier noch in den USA.

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Ich kann meine Unschuld juristisch nicht beweisen. Aber ich kann beweisen, dass ich nie hätte verurteilt werden dürfen. Doch selbst wenn ich neue Beweise finde, wird es immer Menschen geben, die mich für schuldig halten und Doppelmörder nennen. Das bleibt.

Sie haben sich 33 Jahre in Haft für Ihre Freiheit eingesetzt. Wofür kämpfen Sie nun?

Als ich entlassen wurde, haben mir Freunde geraten, meinen Namen zu ändern und ganz anonym zu leben. Aber dann wären diese 33 Jahre eine verlorene Zeit, ein schwarzes Loch in meinem Leben. Mein nächstes Buch wird eine Art Resilienzratgeber sein. Ich will als Redner zu dem Thema auftreten. Wenn ich anderen dadurch helfen kann, bekommt diese Zeit wieder einen Wert.

Reichen die Einkünfte aus Ihren Büchern denn aus, um Ihren Lebensunterhalt zu bestreiten?

Im Moment kann ich durch die Einkünfte gut auf eigenen Beinen stehen. Bald möchte ich auch in eine eigene Wohnung hier in Hamburg ziehen.

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Hat der Alltag mittlerweile an Sensation eingebüßt?

Die ersten drei Monate waren am intensivsten. Ich habe aber immer noch erste Erlebnisse. Zum Beispiel war ich noch nie in einem Starbucks. Das liegt daran, dass ich immer noch die präzisen Unterschiede zwischen einem Americano, Espresso, Cappuccino und Latte Macchiato lernen muss. Früher gab es nur Kaffee.

Träumen Sie noch von der Haft?

Ich träume sowieso sehr selten. Aber vom Gefängnis gar nicht. Ich habe keine Schlafstörungen, keine Albträume.

Viele ehemalige Häftlinge sind nach langer Haft suizidgefährdet. Was hat Ihnen geholfen, einen anderen Weg zu gehen?

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Meine Freunde und meine Gastfamilie haben mir in dieser Zeit geholfen. Das hat mich auch 33 Jahre lang gerettet. Ich habe den Kontakt zur Außenwelt gesucht, obwohl das schmerzhaft war. Nach meiner Entlassung war ich dann nicht allein.

Sie hatten den Großteil Ihres Erwachsenenlebens kaum Zugang zu digitalen Medien. Wie haben Sie die sozialen Medien erlebt?

Ich hatte einen Shitstorm in den sozialen Medien. Danach habe ich alle meine Accounts gelöscht.

Welche Entwicklung in der heutigen Gesellschaft hat sie am meisten überrascht?

Es gab in den 80er-Jahren noch Leitmedien und so etwas wie Wahrheit. Durch die sozialen Medien gibt es aber keine objektive Wahrheit mehr. Menschen steigern sich in ihren Bubbles so sehr in ihre Meinungen hinein, dass sie sie für eine Wahrheit halten. Das zerreißt eine Gesellschaft.

Beziehungen sind ein schwieriges Thema für mich.

Jens Söring

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Die Beziehung zu Elizabeth Haysom, die ja ebenfalls Ende 2019 aus der Haft entlassen wurde, war Ihre erste. In der Haft konnten Sie nur wenig Erfahrungen in Sachen Liebe sammeln. Fällt Ihnen das nun leichter?

Ich habe die Hoffnung nicht verloren, dass sich da etwas in diesem Bereich meines Lebens entwickeln könnte und ich vielleicht sogar doch noch Kinder haben könnte. Aber Corona hat es nicht einfacher gemacht. Dating Apps sind für jemanden wie mich nicht so eine gute Idee. Beziehungen sind ein schwieriges Thema für mich.

Zu einer Beziehung gehören ja auch zwei Personen. Und eine nicht geringe Rolle spielt Vertrauen zu einem Selbst. Wie hat sich das bei Ihnen verändert?

Als Teenager war ich – wie viele andere – sehr unsicher. Ich habe versucht, das mit Arroganz zu überspielen. Mit 19 Jahren kam ich dann aber in Haft. Wenn man da unsicher auftritt, wird man sehr, sehr schnell zum Opfer. Man muss diese innere Festigkeit entwickeln. Das gibt mir in meinem neuen Leben auch eine Selbstsicherheit, dass ich mich nicht verirren werde. Und selbst wenn ich mich verirren sollte, habe ich Freunde, die mich zurückholen würden. Heute spreche ich immer alles durch mit meinen Freunden und Beratern. Das ist ein großer Unterschied zwischen dem heutigen Jens und dem von 1985.

Sie haben die Eltern Ihrer damaligen Freundin Elizabeth Haysom vor deren Tod einmal getroffen und beschreiben das gemeinsame Verhältnis als gut. Wie standen eigentlich Ihre Eltern zu Elizabeth Haysom?

Die haben sie nie getroffen. Ich habe gerade erst das Elternhaus verlassen und wollte ihnen nichts erzählen.

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Sie sprechen davon, dass Sie keine Familie mehr haben. Ihr Vater und Bruder leben aber noch. Konnten Sie wieder Kontakt aufnehmen?

Ich habe es zweimal seit meiner Entlassung versucht. Das letzte Mal vor einigen Wochen. Meine Stiefmutter war am Telefon. Mein Vater hat aber nicht zurückgerufen. Im letzten Jahr hat er mir einen Brief geschrieben, dass er kein Interesse am Kontakt hat. Das macht mich traurig. Aber ich kann das verstehen. Durch mein falsches Geständnis habe ich Ihnen Schlimmes angetan.

Hatten Sie besondere Angst vor dem unbekannten Coronavirus? Die Pandemie begann ja kurz nach Ihrer Ankunft hier.

Überhaupt nicht. Ich habe drei Jahre unter der direkten Androhung der Todesstrafe gelebt. Es gibt Schlimmeres als den Tod. Aber das ist doch echte Ironie des Schicksals: Ich habe 33 Jahre im Gefängnis verbracht, komme raus und nach zwei Monaten beginnt diese Pandemie. Trotzdem war Corona für mich in vieler Hinsicht auch ein Vorteil, weil das die Gesellschaft entschleunigt hat. Es wäre sonst sehr viel schwieriger für mich gewesen, anzukommen, wenn ich in vollem Tempo hätte mitmachen können.

Sie haben kurz nach Ihrer Ankunft im Interview mit dem „Spiegel“ gesagt: „Ich denke, das wird ein schöner Moment sein, wenn ich endlich wieder halbwegs normal sein werde.“ Ist der Moment eingetroffen?

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Ich bin zunehmend normal, mit einer Ausnahme: Ich mag die Deutsche Bahn. Die mag ja eigentlich kein Deutscher. Aber irgendwann werde auch ich es schaffen, über die Deutsche Bahn zu meckern. Dann weiß ich, dass ich richtig angekommen bin.

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