Erftstadts Bürgermeisterin Carolin Weitzel: „Schuldzuweisungen führen zu nichts“
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Carolin Weitzel (CDU), Bürgermeisterin der Stadt Erftstadt.
© Quelle: Marius Becker/dpa
Frau Weitzel, mehr als vier Wochen sind nach der Flut vergangen, die Teile von Erftstadt schwer getroffen hat. Was sind aktuell die drängendsten Aufgaben?
Tausende Betroffene haben vieles oder teilweise alles verloren. 31 Personen aus 13 Haushalten wurden durch die Flut obdachlos. Darüber hinaus hat das Hochwasser Teile der Infrastruktur in Erftstadt zerstört. Noch immer müssen wir den entstandenen Schutt und Müll entsorgen, das bedarf nach wie vor einer großen Kraftanstrengung. Im Mittelpunkt steht aber natürlich die Versorgung der Anwohnerinnen und Anwohner. Doch nicht nur Einzelpersonen sind betroffen, sondern auch kleine und mittelgroße Unternehmen, die ebenfalls vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Sie alle erhalten seelsorgerische Unterstützung und finanzielle Hilfe. Es ist meine Verantwortung, und das ist etwas, wofür ich tagtäglich kämpfe.
Die Stadt hat umgehend die Soforthilfe des Landes Nordrhein-Westfalen in Millionenhöhe verteilt. Ist es gelungen, das Geld unbürokratisch und schnell auszuzahlen?
Mittlerweile haben wir knapp 5,4 Millionen Euro an über 2000 Haushalte ausgezahlt, für Einzelpersonen gibt es 1500 Euro und für jede weitere Person des Hausstands noch einmal 500 Euro. Die Anträge konnten an Infopoints vor Ort gestellt werden und diese wurden in der Verwaltung direkt verarbeitet. Diese Finanzhilfen kamen also direkt an. Weiterhin haben wir Spenden in Höhe von mehr als 5,5 Millionen Euro erhalten, die wir verteilen werden. Dieses Geld kommt von Privatpersonen und Unternehmen aus dem ganzen Bundesgebiet und sogar aus dem Ausland. Vor allem den Bedürftigen soll damit geholfen werden, das war der ausdrückliche Wunsch derer, die gespendet haben.
Wie werden Sie darüber entscheiden, an welche Betroffenen der Hochwasserkatastrophe diese Spendengelder ausgezahlt werden?
Ich habe ein Spendenkonzept entwickelt, über das am 24. August in einer Ratssitzung entschieden wird. Die Kriterien sind öffentlich einsehbar. Mir ist wichtig, dass wir niederschwellige Hilfe anbieten können. Der Grenzwert liegt bei einem Schaden von mindestens 2000 Euro. Mit Peter Kamp haben wir einen Ombudsmann hinzugezogen, der schon bei der Ausarbeitung des Konzepts geholfen hat. Er ist ehemaliger Präsident des Oberlandesgerichts Köln und wird uns als Schiedsperson gerade bei Härtefällen mit seinem juristischen Sachverstand zur Seite stehen. Eines darf man aber nicht vergessen: Wir sprechen von Auszahlungen von 1000 bis maximal 10.000 Euro. Diese Nothilfe ist eine zusätzliche Hilfe bei akuten Notlagen von Privatpersonen. Da sollte es keine zu großer Erwartungshaltung geben.
Dafür haben Bund und Länder ein Hilfspaket von insgesamt 30 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Die Schäden in ganz NRW sollen sich auf 13 Milliarden Euro belaufen. Doch nicht nur die Infrastruktur soll damit wiederaufgebaut werden. Gibt es schon einen Zeitplan, wann die Betroffenen mit der Auszahlung aus diesem Topf rechnen können?
Wichtig ist, dass wir nun Gewissheit haben. Bei der Bund-Länder-Konferenz hat man sich auf den von Ihnen genannten Wiederaufbaufonds geeinigt, der am 7. September final per Bundesgesetz beschlossen werden soll. Auszahlungen sollen aber wohl schon im Vorfeld möglich sein. Dazu stehe ich regelmäßig in Kontakt mit den Ministerien. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich aber leider noch keine konkrete Aussage treffen. Die Stadt Erftstadt hat selbst 115 Millionen Euro geltend gemacht an Schäden der Gebäude und Infrastruktur. Dafür haben wir bereits Kontakt mit der NRW-Bank aufgenommen.
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Erftstadt wird von der Flutkatastrophe in Deutschland schwer getroffen.
© Quelle: Rhein-Erft-Kreis/dpa
Sie sprechen sehr klar darüber, was koordiniert und dringend erledigt werden muss. Dabei sind die dramatischen Ereignisse, die sich inmitten ihrer persönlichen Umgebung abgespielt haben, erst wenige Wochen her – eine spezielle Situation.
(überlegt lange) Meine Eltern etwa sind selbst betroffen. Das alles kostet sehr viel Kraft, ich fühle mit. Weil ich Blessem kenne und jeden anderen Ortsteil von Erftstadt, bin ich zutiefst erschüttert. Umso mehr möchte ich den Menschen mit viel Einfühlungsvermögen begegnen. Dabei bewegt mich besonders die Tapferkeit der Betroffenen, wie sie in dieser extrem belastenden Situation kämpfen, um ihr Hab und Gut wiederherzurichten. Darin erkenne ich immer wieder einen Funken der Zuversicht und Hoffnung.
Damit sprechen Sie einen Punkt an, der in dieser Frühphase der Analyse nach der Katastrophe wichtig ist: Hätte die Katastrophe verhindert werden können? Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat Ermittlungen gegen Ahrweilers Landrat Jürgen Pföhler eingeleitet.
Ich habe Verständnis für das Unverständnis und die Wut, das gehört auch dazu. Schuldzuweisungen führen aus meiner Sicht aber zu nichts. Experten sagen weitere schwere Unwetterkatastrophen voraus. Daher sage ich den Bürgerinnen und Bürgern, dass wir darauf schauen werden, was wir aus den Vorfällen gelernt haben. Das wird zu Recht erwartet. Da werden wir investieren, um noch besser vorbereitet zu sein. Alarmsirenen müssen autark funktionieren, also auch dann, wenn überall anders der Strom ausfällt. Es geht um Übungen von Katastrophenfällen und einen technischen Hochwasserschutz. Beides betrifft nicht nur Erftstadt, sondern den gesamten Kreis und die ganze Region. Die Zusammenarbeit sollte gestärkt werden. Außerdem müssen die Bürgerinnen und Bürger sensibilisiert werden. Die Warnsysteme über Apps, soziale Medien und Radio haben da offensichtlich nicht ausgereicht.
Diskutiert wird über Cell Broadcast, also ein flächendeckendes Warnsystem für alle Mobiltelefone, unabhängig von Katwarn, Nina und ähnlichen Anwendungen. In anderen Ländern gibt es das längst – und es hat etwa in den Niederlanden effektiv Leben gerettet.
Die Bundesregierung wird sich Gedanken machen und sicherlich auch Maßnahmen entwickeln, die wir hier umsetzen können. In meiner Verantwortung liegt aber erst einmal, weitere Hilfen und Verbesserungen anzumelden, die dann von Bund und Ländern kommen müssen. Ich will nicht verschweigen, dass es grundsätzlich Fehler gegeben hat. Bei alldem ist mir in der Analyse aber wichtig, dass in der akuten Notphase vieles richtig lief. Ich kann nicht oft genug betonen, wie froh ich bin, dass wir dank schneller Maßnahmen der Rettungskräfte und vieler freiwilliger Helferinnen und Helfer keine Schwerverletzten oder Todesopfer zu beklagen haben.
Was ist größer, wenn Sie zurückblicken und zugleich in die Zukunft schauen: der Schock nach den Geschehnissen oder die Angst vor weiteren Ereignissen dieser Art?
Das ist keine Abwägung, sondern ein Nebeneinander. Das gehört alles mit dazu. Der Rückblick ist erforderlich, um den Ausblick im besten Sinne zu gestalten. Wir müssen gleichermaßen aufarbeiten und so gestalten, dass es in diesem Ausmaß nicht wieder vorkommt.