Ein bisschen Frieden: Bittersüße Erinnerung an den Eurovision Song Contest 2017 in Kiew

Imre Grimm erinnert sich an die Tage des Eurovision Song Contest 2017 in Kiew.

Imre Grimm erinnert sich an die Tage des Eurovision Song Contest 2017 in Kiew.

Seit 1998 berichte ich über den Eurovision Song Contest. Kaum ein ESC hat mich so bewegt wie der Wettbewerb 2017 in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Am 14. Mai 2016 – zwei Jahre nach der russischen Krim-Annexion – hatte die ukrainische Sängerin Jamala den ESC in Stockholm gewonnen. Ihr Siegerlied „1944“ war eine schmerzhafte, dramatische Ballade über das grausame Schicksal ihrer krimtartarischen Urgroßeltern, die vom sowjetischen Diktator Josef Stalin nach der Rückeroberung der Halbinsel Krim von der deutschen Wehrmacht durch die Rote Armee nach Zentralasien deportiert worden waren – wie Tausende andere Krimtartaren auch. Im darauffolgenden Jahr war Kiew Gastgeber des ESC. Ich erlebte die Stadt nur wenige Jahre nach der „Orangefarbenen Revolution“, nach den Aufständen auf dem Maidan-Platz und der Befreiung vom Machthaber Viktor Janukowitsch als offene, klar prowestliche, fröhliche Metropole, die vom EU-Beitritt träumte. Doch ich spürte auch, dass unter der Oberfläche tiefe Konflikte liegen. Hier ist die Reportage, die ich im Mai 2017 aus Kiew nach Deutschland schickte:

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Sie wollten doch nur einen Regenbogen malen. Mitten auf ein 60 Meter hohes, aschgraues Sowjetmonument in den Hügeln am Dnjepr-Ufer, 1982 errichtet als Symbol der russisch-ukrainischen Brüderlichkeit. „Sieh her, Europa!“, sollte die Botschaft lauten. „Alles friedlich hier, wir sind offen, bunt und tolerant.“ Aber ein XXL-Symbol der internationalen Schwulenbewegung im Herzen ihrer Hauptstadt? Darunter die Bronzeskulptur eines russischen und eines ukrainischen Arbeiters quasi in homoerotischer Eintracht? Das war zu viel für Teile der Volksseele.

Halb bunt, halb grau: Das Sowjetmonument in den Hügeln am Dnjepr-Ufer sollte zum Eurovision Song Contest komplett in Regenbogenfarben erstrahlen – Nationalisten waren dagegen.

Halb bunt, halb grau: Das Sowjetmonument in den Hügeln am Dnjepr-Ufer sollte zum Eurovision Song Contest komplett in Regenbogenfarben erstrahlen – Nationalisten waren dagegen.

Ukrainische Nationalisten griffen die zuständige Agentur an. Und überhaupt: Der Bogen hat nur fünf Streifen, der Regenbogen sieben. Es fehlten Rot und Blau. Nach heftigen Debatten ist jetzt ein Teil des Bogens grau und ein Teil bunt. Es sieht unentschlossen aus.

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Ein unfertiger Regenbogen. Das perfekte Symbol für das Ringen dieses Landes, in dem sich der Kampf um Europa wie in einem Brennglas bündelt. Widersprüchlich wie das Mütterchen, das an der U-Bahn-Station Teatralna für ein paar Cent Maiglöckchen verkauft, während schwarze SUVs mit getönten Scheiben vorbeibrausen. Wie die letzten morschen Blechkioske mit knittrigen Postkarten im globalisierten Einheitsshoppingmix von Samsung, Victoria’s Secret, Gucci und Timberland.

Ein dreistündiges Bewerbungsgespräch für die EU

Der Eurovision Song Contest ist in der Stadt. Das Discoraumschiff ist gelandet. Und Kiew mit seinen drei Millionen Einwohnern aus 130 Nationen lässt keinen Zweifel daran, dass man sich diese Chance nicht wird entgehen lassen. Riesige Buchstaben auf dem Maidan formen das Wort „Eurovision“. Die Boulevards sind flächendeckend bewimpelt mit Zehntausenden Fähnchen. Überall leuchtet das ESC-Motto „Celebrate Diversity“. 10.000 Polizisten, 7000 Kameras, Hunderte Betonpoller an den wichtigsten Plätzen. Wenn am Sonnabend um 21 Uhr im International Exhibition Center am Dnjepr-Ufer die Deutsche Levina und ihre 24 Konkurrenten um die Krone des europäischen Pop singen, dann ist das für die Ukraine mehr als eine Fernsehshow mit 200 Millionen Zuschauern. Es ist ein dreistündiges Bewerbungsgespräch für die Europäische Union.

„Wir sind bereit“, sagt Zahar Davydenko. Er arbeitet als Maître d’hotel im Restaurant „Ostannya Barykada“ (Die letzte Barrikade) direkt am Maidan. Der Name ist Programm: Aus der noch frischen Erinnerung an die blutigen Tage im Winter 2014 hat das junge Team ein gastronomisch-historisches Bekenntnis zur Heimat geformt, mit warmem Holz und nacktem Beton hinter einer düsteren „Geheimtür“. An den Wänden: orangefarbene Schals von der Revolution 2004, Schutzhelme von Euromaidan. Auf der Speisekarte: nur ukrainische Produkte. Wer rein will, muss das Passwort kennen („Fight and you will win“). Makaberes Marketing? Natürlich tanzt die „letzte Barrikade“ mit diesem Konzept auf der Grenze von der Heldenverehrung zum kommerziellen Revolutionskitsch. Aber die Absicht ist ehrbar. „Wir sagen: Hört auf zu kämpfen! Genießt! Esst! Feiert!“, sagt Davydenko (28). „Wir sind offen, wir sind bereit, wir gehören zu Europa. Der ESC ist eine großartige Gelegenheit, das allen zu zeigen. Unser Problem ist ja, dass der Rest der Welt die Ukraine kaum von Russland unterscheiden kann.“

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„Wir sind offen, wir sind bereit, wir gehören zu Europa“: Ein großer Eurovision-Schriftzug steht 2017 am Maidan-Platz in Kiew.

„Wir sind offen, wir sind bereit, wir gehören zu Europa“: Ein großer Eurovision-Schriftzug steht 2017 am Maidan-Platz in Kiew.

Das hat Gründe. Sie liegen weit vor der Sowjetzeit. Vor 1000 Jahren war Kiew die Hauptstadt der Kiewer Rus, eines mittelalterlichen Großreichs auf dem Gebiet des heutigen Westrusslands, Weißrusslands und der Ukraine. Dieses goldene Zeitalter befeuert bis heute die Überzeugung stolzer Ukrainer, nicht bloß Europäer, sondern die eigentlichen Russen zu sein. Junge ukrainische Historiker sind überzeugt: Moskau, die Zaren, der Kreml, Peter der Große haben sich die Kiewer Rus „angeeignet“, um sich selbst eine ruhmreiche Vergangenheit anzudichten. Oder kurz: Russland hat der Ukraine die Identität gestohlen. Es ist der Kern des Konflikts. „Wenn wir die Ukrainer verlieren, verlieren wir unseren Kopf“, soll Lenin 1918 gesagt haben.

„Die Sowjets eliminierten den Genozid aus Zeitungen, Schulbüchern und Kunst“

Besatzer kamen und gingen. Mongolen, Litauer, Polen, Deutsche, Russen. Die Grenzen wanderten hin und her auf der schwarzen Erde der Ukraine, dem angeblich besten Ackerboden der Welt. Stalins Kollektivierung kostete Millionen das Leben, ukrainische Bauern aßen 1932 und 1933 Gras, Blätter, Rinde, Schnecken und Hunde, um nicht zu verhungern. Ganze Dörfer starben aus. Niemand baute mehr Särge. Niemand läutete die Glocken. Es war niemand mehr da. Historiker sprechen von sieben bis zehn Millionen Toten. Erst vor wenigen Jahren lichtete sich der Schleier über dieser Katastrophe.

„Die Sowjets eliminierten den Genozid aus Zeitungen, Schulbüchern, Kunst, Musik und Alltag“, heißt es in der 2009 errichteten Gedenkstätte für den „Holodomor“ genannten Völkermord – „aber nicht aus der Erinnerung des ukrainischen Volkes“. Draußen steht die Skulptur eines ausgemergelten Mädchens mit Ähren in der Hand. Frische Blumen zu ihren Füßen. Es regnet leicht.

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Am Gewerkschaftshaus, das im Februar 2014 ausbrannte, hängt das pompöse Bild einer zersprengten Kette mit einem Satz in ukrainischer Sprache: „Freiheit ist unsere Religion.“ Die Pflastersteine, die entschlossene Babuschkas stundenlang auf dem Maidan in der Eiseskälte herausklopften und den Kämpfern reichten, sind ersetzt, die Rußspuren beseitigt. Aber am Straßenrand erinnern welke Nelken und bleiche Fahnen an die „Himmlischen Hundert“, die Toten vom Maidan, die längst Märtyrer sind. Überall Kerzen, ein Stapel Autoreifen, ein Stahlhelm mit Einschussloch vor dem blumenumkränzten Porträt eines Opfers an einem Baum. Ein Stück weiter: Lebkuchenherzen mit der Aufschrift „I love Eurovision“.

„Die Kiewer sind Feuer und Flamme für den Song Contest“: Zwei Kiewerinnen fotografieren sich im Stadtzentrum vor dem Eurovisions-Schriftzug.

„Die Kiewer sind Feuer und Flamme für den Song Contest“: Zwei Kiewerinnen fotografieren sich im Stadtzentrum vor dem Eurovisions-Schriftzug.

Spätestens mit der orangenen Revolution 2004 dämmerte Moskau, dass die Hinwendung der seit 1991 unabhängigen Ukraine zum Westen wohl unumkehrbar sein würde. Russische und ukrainische Sprache, Kultur, Denkweise – bisher zu einem kulturellen Amalgam verwirbelt – begannen sich zu trennen wie Öl und Wasser. Die 94-tägige Euromaidan-Revolte entzündete sich dann am 21. November 2013, als Präsident Viktor Janukowitsch sich weigerte, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Tausende hielten bei klirrender Kälte vor Feuerfässern aus, sangen und beteten für Meinungsfreiheit, Frieden und Würde.

Der Euromaidan wurde zu einem „magischen Ort“

Der Euromaidan wurde zu einem „magischen Ort“, wie sich Nina Garenetska im Magazin „Intro“ erinnert, Sängerin der ukrainischen Neofolkband Dakhabrakha. „Alles war möglich.“ Aber dann quollen Janukowitschs Schläger aus ihren Lastwagen „wie schwarzer Kaviar“. Die Bilder der Steinewerfer mit Motorradhelmen vor Bergen brennender Autoreifen gingen um die Welt. Am 18. Februar eskaliert der Konflikt, allein am 20. Februar starben 80 Menschen. Der französische Intellektuelle Bernard-Henry Lévi hielt eine Rede, die zum Manifest des demokratischen Aufbruchs wurde, es ist die Essenz der Europasehnsucht der jungen Kiewer. „Ihr seid das Herz Europas“, rief Lévi, „Kiew ist heute seine Hauptstadt, und die Zivilgesellschaft Europas ist seine Schwester.“

Janukowitsch floh nach Moskau, doch der Krieg verlagerte sich bloß: in den Osten, den Donbass. Und auf die Krim, das alte russische Schwarzmeer-Ferienparadies, das in Kiew heute offiziell „Zeitweise besetztes Territorium der autonomen Republik Krim“ heißt. Die alten Abgrenzungsmythen beherrschen die Propaganda auf beiden Seiten: Russland warnt vor den „Faschisten“ in Kiew, Kiew sieht sich als Bollwerk gegen ein nach Westen drängendes Despotentum. Die Liebe zum ESC spiegelt auch die Sehnsucht, dafür eines Tages vom Westen belohnt zu werden.

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Der russisch-ukrainische Bruderzwist dringt bis auf die ESC-Bühne

Vom Krieg ist hier nichts zu spüren. Aber der russisch-ukrainische Bruderzwist dringt bis hinauf auf die glamouröse Bühne des Song Contests: Es ist das Schicksal ihrer Urgroßeltern, dass die Ukrainerin Jamala bei ihrem ESC-Sieg in Stockholm in ihrem Klagegesang „1944“ beweinte: Josef Stalin ließ die Krimtartaren 1944 als angebliche Nazikollaborateure deportieren. „Fremde kommen in dein Haus und töten dich“, sang Jamala im Refrain. „Ihr denkt, ihr seid Götter, aber es sterben alle.“ Ein politisches Statement im grellbunten Popzirkus? Schon. Aber allgemein genug gehalten, um von der Europäischen Rundfunkunion (EBU) durchgewunken zu werden.

Dass die Ukraine freilich Russlands ESC-Kandidatin Julia Samoilowa die Einreise verwehrte, weil sie auf der Krim gegen Grenzauflagen verstoßen hatte, nahmen die EBU-Verantwortlichen sehr übel. Ebenso, dass Russland sich jedem Kompromiss – Ersatzkandidatin, Videoschalte – verweigerte. „Die Situation ist sehr schwierig und speziell“, räumte ESC-Supervisor Jon Ola Sand am Mittwoch in Kiew ein. Über Sanktionen will die EBU aber erst nach der Show entscheiden. Russland boykottiert den Wettbewerb und zeigt ihn auch nicht im Fernsehen. Das bedeutet nach den Regularien: Teilnahmeverbot 2018. Ein politisches und ökonomisches Desaster.

Scharnier zwischen zwei Welten: Zwei Nationalgardisten laufen an Betonsperren am Eurovision Village in der Nähe des Maidan-Platzes in Kiew vorbei.

Scharnier zwischen zwei Welten: Zwei Nationalgardisten laufen an Betonsperren am Eurovision Village in der Nähe des Maidan-Platzes in Kiew vorbei.

Kiew, dieses Scharnier zwischen zwei Welten, an dem es knirscht und reibt, ist nicht so reich, wie es tut, und nicht so westlich, wie es gerne wäre. Korruptionsvorwürfe, intransparente Ausschreibungsverfahren, Planungschaos und Finanzstreit beherrschten die Vorbereitung des ESC. Ein Roma-Dorf wurde kurzerhand geräumt und niedergebrannt. Der Chef des staatlichen Fernsehens NTU warf im Frühjahr hin, weil die Regierung ihn zwang, von seinem Jahresetat von 42,8 Millionen Euro fast die Hälfte allein für den ESC auszugeben. Die EBU hielt sich gar einen Notfallplan warm – mit Berlin aus Ausweichort. „Es war das reinste Chaos“, sagt einer der Deutschen, die zum Produktionsteam gehören. Von den 60.000 Tickets für neun ESC-Shows (drei Sendungen plus öffentliche Proben) blieben 30 Prozent liegen. Selbst Finaltickets gab’s zuletzt für 15 Euro.

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„Die Jugend ist aufgewacht“

Hat sich politisch also nichts geändert? Doch, sagt Heike Maria Johenning, deutsche Autorin und Kiew-Expertin. „Die Jugend ist aufgewacht.“ Ihre eigene Leidenschaft für das flächenmäßig größte Land Europas begann, als ein noch unbekanntes, boxendes ukrainisches Bruderpaar 1996 in Hamburg beim deutschen Universum-Boxstall vorstellig wurde. Beide sprachen kein Wort Deutsch. Johenning wurde die Deutschlehrerin von Vitali und Wladimir Klitschko. Die Freundschaft hält bis heute. Das Ukrainische, sagt sie, erlebe eine gewaltige Renaissance. Die Stadt ist im Aufbruch. „Die Kiewer sind Feuer und Flamme für den Song Contest“, sagt sie. „Sie hoffen auf eine Annäherung an Europa.“

Es geht um Europa: Eurovisions-Teilnehmer 2017 auf der großen ESC-Bühne in Kiew.

Es geht um Europa: Eurovisions-Teilnehmer 2017 auf der großen ESC-Bühne in Kiew.

Die Klitschkos. Die Glamourbrüder vom Dnjepr. Vitali (45) ist Bürgermeister von Kiew, Wladimir (41) im Spätherbst seiner Boxkarriere. Nationalhelden. Legenden. Und unbescheiden genug, um sich im Olympiapark ein eigenes kleines Museum einzurichten, das den Bruderkult befeuern soll. Aber heute ist nichts los. „Wollen Sie rein?“, fragt ein Wächter. Er knipst das Licht an. WM-Gürtel in Vitrinen, die Originalboxmatte von Wladimir Klitschkos Kampf gegen David Haye im Juli 2011 in Hamburg. Darauf der Slogan des Sponsors: „Einfach gut aussehen.“ Ein bisschen geht es bei Klitschkos immer auch darum.

„Politik ist gefährlicher als Boxen“, hat Vitali Klitschko mal gesagt

Im Klitschko-Souvenirshop kostet das „Dr. Steelhammer“-Kuschelkissen umgerechnet knapp sechs Euro. „Politik ist gefährlicher als Boxen“, hat Vitali Klitschko mal gesagt. „Beim Boxen gibt es klare Regeln und Millionen Zuschauer – in der Politik geschieht das Meiste hinter verschlossenen Türen, ohne Regeln.“ Er hat Street-Art-Künstler nach Kiew geholt, Radwege bauen lassen, träumt von einer „Smart City“ mit flächendeckendem WLAN, in der coole Start-ups wie Pilze aus dem Boden poppen.

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Für einen Mann, dessen Ehefrau gerade vor Publikum ein Lied singt, wirkt Vitali Klitschko etwas abgelenkt. Er sieht auf sein Handy. „Wieso bist du nicht gekommen? Ich habe auf dich gewartet“, singt Natalia Klitschko gerade, es ist ein ukrainisches Volkslied. Der deutsche Botschafter in Kiew hat zum Empfang geladen. Der Bürgermeister ist da, die deutsche ESC-Teilnehmerin Levina ist da, es gibt Luftballons und Fingerfood. Frau Klitschko singe gerne, heißt es. Herrn Klitschko belustige das gelegentlich. „Happy wife, happy life!“ antwortet er gern auf die Frage, ob er ihr größter Fan sei. Und dann schlägt seine Stunde.

„Wir sind grün, wir sind sauber, wir sind gastfreundlich“

„Laaaadies and Gentlemeeeeen …!“, dröhnt er. Das klingt nach Boxring, und das soll es auch. Er weiß, wie das geht. „Herzlich willkommen in Kiew! Manche mögen Boxen, manche mögen Fußball – aber Musik mögen alle.“ Für Klitschko, den Bürgermeister, ist der Eurovision Song Contest, der heute Abend vor 200 Millionen Zuschauern in seiner Heimatstadt über die Bühne geht, vor allem eines: eine große Gelegenheit.

„Jeder, der hier war, wird automatisch Botschafter von Kiew“: Vitali Klitschko, ehemaliger Boxprofi und Bürgermeister von Kiew bei einer Pressekonferenz 2020 vor seiner Wiederwahl als Bürgermeister.

„Jeder, der hier war, wird automatisch Botschafter von Kiew“: Vitali Klitschko, ehemaliger Boxprofi und Bürgermeister von Kiew bei einer Pressekonferenz 2020 vor seiner Wiederwahl als Bürgermeister.

Er wirbt, er scherzt. Er erinnert an die Errungenschaften der Ukraine. Der Hubschrauber wurde hier erfunden. Das größte Flugzeug der Welt wurde hier gebaut. „Wir sind grün, wir sind sauber, wir sind gastfreundlich – jeder, der hier war, wird automatisch Botschafter von Kiew.“ Levina nickt, sie hat ihm eine CD signiert. „Ich drücke dir meine Daumen“, will Klitschko sagen. Stattdessen sagt er „Fäuste“. Lachen im Saal. Am Ende geht’s bei Klitschko noch immer um die Fäuste.

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„Putin versucht alles, um unseren Erfolg zu verhindern“

Wir treffen uns zum Gespräch in einem Nebenraum der Deutschen Botschaft. Vitali Klitschko ist bester Laune. Was bedeutet der Eurovision Song Contest für die Ukraine und für Kiew, Herr Klitschko? „Wir sehen unsere Zukunft in der europäischen Familie“, sagt er. „Deshalb hieß der Aufstand vom Maidan vor drei Jahren ja auch Euromaidan. Der ESC ist ein wichtiger Schritt für uns auf diesem Weg nach Europa. Wir sind Europäer – mit unserer Geschichte, unserer Mentalität, unseren Werten.“

Ist denn der Westkurs der Ukraine stabil und unumkehrbar? „Nein“, sagt Klitschko klar. „Er ist in Gefahr. Unser westlicher Nachbar Russland ist sehr daran interessiert, die Ukraine zu destabilisieren. Deshalb auch dieser sinnlose Konflikt in der Ostukraine. Wofür kämpfen die Menschen? Wir verstehen das nicht. Ohne die Waffenlieferungen, ohne die finanzielle Unterstützung, ohne die Propaganda der Russen würde dieser Konflikt niemals stattfinden. Das ist künstlich aufgebaut. Genau wie in Abchasien, Transnistrien, Berg-Karabach. Es ist immer dasselbe Muster. Und deshalb ist der Westkurs der Ukraine in Gefahr. Die Russen und Präsident Putin versuchen alles, um unseren Erfolg zu verhindern und uns zu diskreditieren.“

Ein Paradies aus den kindlichen Träumen eines Despoten

Ist Klitschko ein guter Bürgermeister? „Klitschko ist ein guter Boxer“, sagt Slawek (38) trocken, geborener Kiewer, seinen Nachnamen will er nicht verraten. Auch er harrte 2014 auf den Barrikaden aus. „Hier stand ich“, sagt er am Europaplatz. Dann kamen die Wasserwerfer und die bezahlten Schläger. „Sie haben auf Frauen und Kinder eingeschlagen.“ Slawek hat zwei Jobs, die Preise steigen, die Löhne nicht. Die Landeswährung Griwna ist im freien Fall. Slawek füllt im Hauptjob Kerosin in Flugzeugtanks und arbeitet nebenbei als Chauffeur. Ob Janukowitsch irgendwann vor einem ukrainischen Gericht stehen wird? Er lacht bitter. „Nein“, sagt er. „Der nicht“.

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Janukowitschs Traumschloss inmitten eines 137 Hektar großen Parks am Dnjepr-Ufer in Meschyhirja vor den Toren Kiews ist zur Touristenattraktion geworden, ein architektonisches Mahnmal für Betrug am eigenen Volk: Golfplatz, Jachthafen, eine nachgebaute spanische Galeere, polierte Ritterrüstungen, Fitnesstempel, Sauna mit Salzgrotte, Vogelvoliere mit Straußen, Kranichen und Fasanen, 70 sowjetische Oldtimer, Wasserfälle, Fischteiche, Springbrunnen, ausgestopfte Löwen, vergoldete Abwasserrohre, eine Bibliothek mit kostbaren Erstausgaben, ein Indoortennisplatz, ein eigenes Jagdgebiet und ein weißer, von John Lennon handsignierter Flügel.

Es ist ein Paradies aus den kindlichen Träumen eines Despoten, erbaut auf den Schultern seines Volkes, viele Hundert Millionen Dollar teuer. Kein Wunder, dass die Staatskasse leer war. Sie ist es heute noch, und auch der ESC wird nichts daran ändern, fürchtet Zahar Davydenko vom Restaurant „Die letzte Barrikade“. Kaffee? Gerne. „Kaffee ist das Einzige bei uns, was nicht aus der Ukraine kommt.“

Am Ende geht es um Europa

„Alle, die hier herrschten, überlagerten mit Stein und Blut das, was sie vorfanden“, schrieb die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko. Kiew – das ist für sie „eine bunte und chaotische Ansammlung von sich gegenseitig überschreienden und nicht selten halb erstickten kulturellen Zitaten“. Es klingt, als gehe es nicht bloß um diese Stadt. Sondern um Europa.

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