Der Missbrauchskomplex Münster: ein bundesweit agierendes Pädophilennetzwerk
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Tatort Gartenlaube: Die Holzhütte in einer Kleingartenkolonie am Stadtrand von Münster gehört der Mutter des Hauptangeklagten. Sie soll sie den Männern überlassen haben – wohlwissend, was dort geschah. Mittlerweile wurde die Laube abgerissen.
© Quelle: Marcel Kusch/dpa
Münster. Neben den Taten in Lügde und Bergisch Gladbach ist der Missbrauchskomplex in Münster einer der größten Fälle von Kindesmissbrauch der vergangenen Jahre in Deutschland. Die Polizei ist auf ein bundesweit agierendes Pädophilennetzwerk gestoßen. Was zunächst mit Ermittlungen gegen Adrian V. beginnt, weitet sich immer mehr aus. Seit Mai 2020 arbeitet die „Ermittlungskommission Rose“ an dem Missbrauchskomplex, der immer komplexer wird.
Mittlerweile sind mehr als 30 schwer sexuell missbrauchte Kinder gerettet und 44 Tatverdächtige ermittelt worden, von denen die meisten in Untersuchungshaft sitzen, fünf Männer sind bereits verurteilt worden, einer davon rechtskräftig.
Das auszuwertende Datenmaterial ist üppig: Beschlagnahmt wurden über 1.400 IT-Geräte wie Handys, Computer und Festplatten – mit einer riesigen Datenmenge von insgesamt 1,2 Millionen Gigabyte. Die komplex verschlüsselten und nur zum Teil ausgewerteten Daten zeigen den Ermittlern im Frühsommer 2020 schnell, dass es weitere mutmaßliche Täter und auch Opfer geben muss.
IT-Fachmann Adrian V. ist die Schlüsselfigur
Als Schlüsselfigur in dem Missbrauchskomplex gilt Adrian V., ein 27-jähriger selbstständiger IT-Mann aus Münster. Er ist kein unbescholtenes Blatt. Schon 2016 und 2017 ist er wegen des Besitzes von Kinderpornografie verurteilt worden – für Vergehen, die er viel früher begangen hat. Im April 2019 stoßen LKA-Beamte aus Nordrhein-Westfalen durch „Initiativermittlungen“ auf eine IP‑Adresse, die zum Arbeitsplatz von Adrian V. führt – jetzt gibt es einen Anfangsverdacht gegen ihn. Bei einer Wohnungsdurchsuchung stellen die Beamten zahlreiche Datenträger wie Handys oder Laptops sicher. Im Keller der Mutter von Adrian V. entdeckt die Polizei einen klimatisierten, hochmodernen Serverraum. Doch noch bleibt der Verdächtige auf freiem Fuß.
Erst rund ein Jahr später, im Mai 2020, wird einer der sichergestellten Laptops entschlüsselt – auf der Festplatte sind zahlreiche Dateien zu finden, die Missbrauchshandlungen „zum Nachteil des zehnjährigen Jungen aus dem häuslichen Umfeld des Beschuldigten“ zeigen, wie die Polizei Monate später mitteilt.
Nun, am 14. Mai 2020, wird Adrian V. in der Innenstadt von Münster festgenommen. Er ist derjenige, dem die meisten Taten zur Last gelegt werden, er soll unter anderem den Sohn seiner Lebensgefährtin immer wieder anderen Männern für schlimmste Gewalttaten überlassen haben. Er benutzte dabei auch den Messengerdienst „Signal“, um die Termine für den Missbrauch des zehn Jahre alten Kindes unter dem falschen Namen „Nick“ zu arrangieren.
Ein Tatort ist die Gartenlaube in Münster
Einer der Tatorte, wo sich verschiedene Männer an den Kindern vergehen, ist eine inzwischen abgerissene Gartenlaube in einer Kleingartensiedlung am Stadtrand von Münster. Die Holzhütte gehört Carina V., der Mutter von Adrian V., einer Kindergartenerzieherin. Sie soll sie den Männern überlassen haben – wohlwissend, was dort geschah.
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In dieser Gartenlaube in einer Kleingartenkolonie am Stadtrand von Münster fand der Missbrauch unter anderem statt. Die Hütte ist mittlerweile abgerissen worden.
© Quelle: Marcel Kusch/dpa
Die Polizei findet am 15. Mai 2020 in der Gartenlaube – in einer Zwischendecke versteckt – eine von Adrian V. gelöschte Festplatte. Experten gelingt es, diese wiederherzustellen. Die Beamten entdecken darauf Videomaterial von Missbrauchstaten, datiert auf den 25./26. April 2020. Die Männer, die dieses Video entlarvt, werden festgenommen: ein 30‑Jähriger aus Staufenberg bei Gießen, dessen fünfjähriger Sohn zu den Opfern zählt, ein 42‑Jähriger aus Schorfheide in Brandenburg und ein bereits vorher aufgefallener 35‑jähriger Mann aus Hannover. Auch die Mutter von Adrian V. wird festgenommen.
Am 12. November 2020 beginnt der Mammutprozess gegen die fünf Beschuldigten: den Hauptangeklagten Adrian V., die Mutter und Eigentümerin der Gartenlaube, sowie die drei Männer aus Schorfheide, Staufenberg und Hannover, die des Missbrauchs beim Treffen in der Gartenlaube überführt werden sollen.
Lebensgefährtin wird erst spät dingfest gemacht
Lange sieht es so aus, als hätten die Ermittler nicht genug Beweise, um auch die Lebensgefährtin von Adrian V. und Mutter des missbrauchten, heute elf Jahre alten Jungen dingfest zu machen. Bis zum Beginn dieses Jahres. Am 5. Februar 2021 kann die „EK Rose“ die 31‑jährige Sabrina K. festnehmen. „Es besteht der dringende Verdacht der Beihilfe (durch Unterlassen) zum schweren sexuellen Missbrauch von Kindern in einer Vielzahl von Fällen“, heißt es in einer Mitteilung der Polizei Nordrhein-Westfalen.
Das sind die Urteile, die bereits gefällt wurden
5. Dezember 2020: Ein 53-Jähriger aus Norderstedt muss drei Jahre und drei Monate ins Gefängnis. Er ist angeklagt, im August 2019 bei einem Besuch in Münster einen damals neun Jahre alten Jungen vergewaltigt zu haben. Bei dem Opfer handelt es sich um den Ziehsohn des Hauptbeschuldigten Adrian V. Der Angeklagte hatte die Tat gegenüber den Ermittlern gestanden und Hinweise zu weiteren Beschuldigten gegeben. In seiner Heimatstadt Norderstedt war er jahrelang Fußballtrainer für Kinder- und Jugendmannschaften.
12. Februar 2021: Zwei Männer aus Hannover werden zu Haftstrafen verurteilt. Ein 30‑Jähriger muss für neun Taten des schweren sexuellen Missbrauchs für sieben Jahre und neun Monate ins Gefängnis, ein 50 Jahre alter Mann für zwei Fälle für vier Jahre und drei Monate. Im Fall des älteren Mannes war eine Wohnung in Hannover der Tatort. Dort hat er nach Überzeugung des Gerichts den Ziehsohn des Hauptangeklagten im Herbst 2019 vergewaltigt. Im Fall des 30-Jährigen waren die Tatorte unter anderen in Münster, Hannover und auf Sylt.
9. März 2021: Das Landgericht Münster verurteilt einen 27‑jährigen Mann aus Aachen wegen mehrfachem schweren sexuellen Missbrauch von Kindern zu neun Jahren Haft. Der nicht vorbestrafte Student hatte im Prozess deutlich mehr Taten eingeräumt, als ursprünglich angeklagt waren. Verurteilt wird er für acht Taten des sexuellen und 13 des schweren sexuellen Missbrauchs. Nach Überzeugung des Gerichts missbrauchte er mehrere Kinder über drei Jahre hinweg an verschiedenen Orten, darunter auch den Ziehsohn des Hauptangeklagten. Die Verurteilung erfolgte zudem wegen Herstellens kinderpornografischer Schriften in sieben Fällen.
9. April 2021: Für den dreifachen schweren sexuellen Missbrauch eines Kindes hat das Landgericht Münster einen 45‑jährigen Mann aus Berlin zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Außerdem hat es das Landgericht nach Angaben eines Sprechers als erwiesen angesehen, dass der Mann in drei Fällen kinderpornografische Schriften besessen hat. Strafmildernd beurteilten die Richter, dass der nicht vorbestrafte Mann mit Zweitwohnsitz in Magdeburg ein Geständnis abgelegt und somit dem Opfer eine Zeugenaussage erspart hatte.
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Ein angeklagter Mann aus Berlin zu Prozessbeginn im Landgericht Münster.
© Quelle: Guido Kirchner/dpa
Das Urteil gegen den Hauptangeklagten wird im Mai erwartet
Nur eines der Urteile – das gegen den Mann aus Norderstedt – ist rechtskräftig. Bei den anderen Entscheidungen haben die Verurteilten oder die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Im Fall des verurteilten Studenten aus Aachen zu neun Jahren Haft muss der Bundesgerichtshof jetzt klären, ob noch anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet wird, wie von der Anklage gefordert.
Wie es mit Adrian V. weitergeht, wird sich bald zeigen. Im Hauptprozess gegen den 27 Jahre alten Hauptangeklagten, dessen Mutter und die drei weiteren Männern wird bis Anfang Mai ein Urteil erwartet. Adrian V. schweigt bislang zu den Vorwürfen, die Beweisaufnahme ist abgeschlossen.
Das jüngste Verfahren hat das Landgericht Neubrandenburg Mitte April begonnen. Vor Gericht muss sich ein 35‑Jähriger aus Ueckermünde (Vorpommern-Greifswald) wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes verantworten – auch dieser Fall steht im Zusammenhang mit dem Missbrauchskomplex von Münster. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Beschuldigten vor, einen neunjährigen Jungen zwischen Januar und Juli 2019 viermal auf schwere Art und Weise sexuell misshandelt zu haben. Die Taten, an denen auch Adrian V., der Stiefvater des Jungen, beteiligt gewesen sein soll, hätten sich in der Region Ueckermünde ereignet. Eine Gutachterin begleitet den Prozess – auch weil es um eine Unterbringung des Angeklagten in einer psychiatrischen Einrichtung geht. Das Urteil steht noch aus.
mit dpa