11. September 2001 – kein Tag, der die Welt veränderte?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/HU4BAQFFGVARNJZQUP2D4XMPJQ.jpeg)
Die Anschläge vom 11. September 2001 haben die Skyline von Manhattan verändert. Doch welchen Einfluss hatte der Terrorakt auf die Weltgeschichte?
© Quelle: Keith_Meyers/AFPI/THE_NEW_YORK_T
Zum 20. Jahrestag der verheerenden Terroranschläge in New York am 11. September 2001 titeln noch immer viele Dokumentationen, Beiträge und Texte: „Ein Tag, der die Welt veränderte.“ Zeitzeuginnen und -zeugen erinnern sich, dass nach diesem Ereignis nichts mehr so gewesen sei, wie es einst war. Dem widerspricht Amerikanistin Dr. Birte Christ von der Universität Gießen in einem Buch, das sie gemeinsam mit ihren Kollegen Michael Butter und Patrick Keller 2011 herausgebracht hat. Die These: Es war kein Tag, der die Welt veränderte. Warum sie dieser auf den ersten Blick gegenläufigen Meinung ist, erklärt sie im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND):
Frau Christ, Sie haben vor zehn Jahren mit Ihren beiden Kollegen Michael Butter und Patrick Keller das Buch „9/11. Kein Tag, der die Welt verändert hat“ herausgebracht. War der Tag also bedeutungslos für die Weltgeschichte?
Mit diesem Buch wollten wir erklären, dass der Tag der Anschläge keine völlig neuartige Dynamik zeigt, sondern die Folge langjähriger Entwicklungen ist. Natürlich hat der 11. September das Leben vieler Menschen, der Angehörigen der Opfer, der Bevölkerung in Afghanistan oder im Irak, stark verändert. Natürlich ist dieser Tag in diesem Sinne eine Zäsur. Die USA wurden ebenso gezwungen, sich plötzlich in einem anderen Licht zu sehen. Aber er ist keine Zäsur in dem Sinne, dass internationale Terroranschläge, Präventivkriege oder imperialistische Tendenzen der USA etwas völlig Neues gewesen wären.
Wir reden zehn Jahre nach Veröffentlichung dieser These, 20 Jahre nach den Anschlägen. Welche Aussagen müssen Sie nun noch einmal revidieren?
Ich würde fast sagen keine – auch wenn durch die Trump-Präsidentschaft eine Verschiebung im internationalen Machtgefüge entstanden ist und die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan zeigen, dass sich die Positionierung der USA global verändert hat. Präsident Biden hat nun Trumps Rückzug in Afghanistan übernommen, ebenso wie den Rückzug aus internationaler Verantwortung und den Organisationen.
Der Einmarsch in Afghanistan war von der Administration George W. Bushs ein letzter Versuch von Nation Building, also die Etablierung demokratischer freiheitlicher Strukturen über eine militärische Intervention zu betreiben. Afghanistan und Irak sind die Bestätigungen dafür, dass durch militärische Macht und Gewalt langfristig solche Strukturen nicht zu etablieren sind. Al Qaida wurde zerstört, dafür hat sich nach dem Abzug der Allianz aus dem Irak der IS formiert. Der unterscheidet sich zwar von Al Qaida, aber der internationale islamistische Terrorismus wurde durch die Kriege nicht ausgerottet.
Mit dem Buch wollten wir aufzeigen, dass der 11. September in langfristige Dynamiken eingebettet war – und die Frage stellen, inwieweit man in Zukunft anders reagieren könnte.
Haben die USA denn aus den Konsequenzen des 11. Septembers gelernt?
Die USA übernimmt nun nicht mehr international die Rolle des militärisch aggressiven Hegemon. Das ist ja vielleicht auf der einen Seite positiv, aber auf der anderen Seite ist kein friedliches Alternativkonzept entstanden, wie Nation Building betrieben werden könnte, wie man nicht demokratischen und fundamentalistischen Nationen sowie nicht staatlichen Akteuren begegnen kann.
Unmittelbar nach den Anschlägen schrieben viele Kommentatoren, dass 9/11 ein Tag gewesen sei, der alles verändern wird, dass nichts mehr so sein wird, wie es mal gewesen ist. Warum hat sich diese Einschätzung in 20 Jahren geändert?
Die Visualität des Ereignisses hat einen ikonischen Status angenommen. Die Bilder, die uns am 11. September erreichten, sahen fast so aus, als wären sie nach einem Hollywooddrehbuch entstanden. Dadurch ist dieser nachhaltige Eindruck der Einzigartigkeit entstanden. Auf der anderen Seite war für die Amerikaner die Tatsache, zum ersten Mal seit 1812 auf dem eigenen Boden angegriffen zu werden, besonders traumatisch.
Gleichzeitig hat die Bush-Administration das Ereignis instrumentalisiert, um die Kriege in Afghanistan und im Irak zu legitimieren. Dafür musste die Einzigartigkeit ebenfalls herausgehoben werden. Auf der anderen Seite hat aber die Essayistin Susan Sontag schon am 24. September im „New Yorker“ geschrieben, dass die Anschläge eben nicht aus dem Nichts kämen und damit nicht neu oder einzigartig, sondern eine Reaktion auf die Cold-War-Politik und den Imperialismus der USA seien.
In der Literatur sind in den ersten fünf Jahren vor allem Vergleiche gezogen worden, die dazu dienen, die Einzigartigkeit herauszustellen, zum Beispiel zum Holocaust. Der Eindruck der Bilder nimmt aber mit der Zeit auch ab und die Einordnung der Anschläge relativiert sich und wird in ein größeres Gefüge von Weltgeschichte eingepasst. Die Ereignisse werden zu einem Bild des Leidens der Menschheit an sich. Es gibt dann viele Romane, die die Anschläge aufgreifen, um zu sagen, dass dies nur ein Bild des Leidens sei, das auf täglicher Basis von vielen Menschen auf der ganzen Welt erlebt wird.
Direkt nach den Anschlägen und den Folgejahren wurde in der öffentlichen Debatte auch viel über die Angst vor Terror im Alltag gesprochen. Wie hat sich das in den ersten Jahren und dann später Jahrzehnten verändert?
Die überwältigenden Bilder des 11. Septembers konnten nicht endlos nachwirken und andere Themen traten in den Vordergrund. De facto sind aber durch Anschläge des IS seit Mitte der Zehnerjahre 70.000 Menschen ums Leben gekommen. Natürlich wird das immer wieder wahrgenommen, vor allem, wenn auf einen Schlag viele Menschen ums Leben kommen wie bei den Anschlägen beim Ostergottesdienst in Sri Lanka vor einigen Jahren. Aber ich glaube, dadurch, dass wir nie wieder ein solches visuelles Spektakel hatten, tritt auch die Angst etwas zurück. Das ist natürlich völlig irrational. Politisch symbolische Bilder haben nicht unbedingt etwas mit Rationalität zu tun.
Wie sähe die Welt denn dann aus, wenn 9/11 nicht gewesen wäre?
Ich glaube, die Welt sähe nicht so viel anders aus. Wie Sie wissen, gab es in den Neunzigerjahren schon eine große Reihe von Terroranschlägen von Al Qaida. Die Frage ist, ob die USA dann in der Lage gewesen wären, Kriege in Afghanistan oder den Präventivkrieg mit einer Allianz von 48 anderen Staaten gegen den Irak zu führen. Ich denke, dass es dennoch zu ähnlichen Entwicklungen gekommen wäre, vielleicht aber langsamer.
Welche Themen wurden durch den 11. September überlagert?
9/11 war ein solch traumatisches Ereignis, dass es viele Dinge von der Bildfläche verschwinden ließ. So zum Beispiel auch den Klimawandel, der im Wahlkampf von Al Gore und George W. Bush 2000 noch der größte Streitpunkt war. Ohne die große Symbolkraft und Reichweite des 11. Septembers wäre das Problem Klimawandel nicht so weit in den Hintergrund geraten. Gerade in der zweiten Amtszeit von George W. Bush wurde ein großer Teil an Umweltschutzmaßnahmen zurückgerollt. Das wäre nicht so unter dem Radar der Öffentlichkeit passiert und hätte auch nicht so argumentiert werden können, hätte es 9/11 nicht gegeben, hätte es nicht diese Idee gegeben, dass man sich gegen den internationalen Terrorismus verteidigen muss und nicht gegen die Erderwärmung. Ähnlich ist es auch bei der Armutsbekämpfung verlaufen. Die schlimmeren Folgen des 11. Septembers sind eigentlich, dass man bestimmte Probleme, wie eben den Klimawandel oder die auseinandergehende ökonomische Schere, aus dem Blick verloren hat.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/2RJLEFPVP5BIBBPLLY2OAXKUMY.jpg)
Die Amerikanistin Dr. Birte Christ von der Universität Gießen.
© Quelle: privat
Hätte sich aber denn überhaupt die extreme Stärkung der Exekutive und der Strafverfolgungsbehörden wie die NSA oder das Gefangenenlager Guantanamo Bay ohne den 11. September durchsetzen lassen?
Vielleicht nicht. In dem Sinne ist die Größe des Ereignisses und die visuelle Inszenierung, die gut instrumentalisiert werden konnte, zentral.
Inwieweit steht das Phänomen Trump in Verbindung mit dem 11. September?
9/11 und die darauf folgenden Kriege haben die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft vorangetrieben, später kamen die sozialen Medien mit ihren Echokammern hinzu. Mit dem Irak-Krieg standen sich in der US-amerikanischen Gesellschaft zwei Fraktionen, zwei Pole unversöhnlich einander gegenüber. In den USA gibt es eine Entfremdung von der Politik. Menschen fühlen sich abgehängt und nicht vertreten, ebenso geschieht dies auf globaler Ebene, wodurch fundamentalistische Kräfte erstarken. Das führt dann in der US-amerikanischen Gesellschaft zu einer Spaltung und wird vorangetrieben durch soziale Medien. In dem Sinne ist Trumps Präsidentschaft durchaus ein Erbe der politischen Folgen des 11. Septembers.