Witze über Behinderte auf Tiktok: Perfides Mobbing auf ganz großer Bühne
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Bei einem neuen Tiktok-Trend machen sich Eltern über Behinderte lustig.
© Quelle: Liu Jie/XinHua/dpa
Hannover. Das Internet kann ein grauenvoller Ort sein – und dazu muss man nicht mal tief im Darknet graben. Ein Blick in die sozialen Netzwerke genügt: Wir alle wissen von dem Hass, der spätestens seit der Flüchtlingskrise auf Facebook salonfähig ist. Wir wissen von den rechtsextremen Verschwörungstheorien, die auf Youtube verbreitet werden. Wir wissen von den Drohungen und Beleidigungen, die Politiker, Aktivisten und Journalisten tagtäglich auf Twitter ertragen müssen.
Doch es gibt ein Netzwerk, in dem all das noch ein kleines bisschen perfider erscheint: Auf Tiktok geht seit einigen Tagen ein neuer, fragwürdiger Trend um. Mal wieder. Bei der sogenannten “New Teacher Challenge” zeigen Eltern ihren Kindern Bilder von körperlich behinderten Menschen, um sie zu erschrecken. Konkret läuft das so ab: Ein Elternteil gibt vor, er habe gerade die neue Lehrerin oder den neuen Lehrer des Kindes via FaceTime am Telefon. Dann zeigt es dem Kind das Bild auf dem Smartphone und wartet auf eine möglichst irritierende Reaktion. Erfolgt diese, fangen die Eltern nicht selten an, schallend zu lachen – und posten das Video auf Tiktok.
In einigen Fällen sind die Videos sogar ganz witzig: Manche Eltern zeigen ihren Kindern etwa Bilder von US-Präsident Donald Trump oder Hollywood-Bösewichten wie etwa Michael Myers. Ein Großteil der Challengeteilnehmer bedient sich aber offenbar an dem Google-Suchbegriff “Ugly Person”. Dieser zeigt mitunter Menschen mit entstellten Gesichtern, fehlenden Zähnen oder Übergewicht. Bilder, die allesamt im Rahmen der Challenge auch auf Tiktok auftauchen.
Nicht der erste Fall dieser Art
Was viele Eltern dabei offenbar vergessen: Hinter den schnell ergoogelten Fotos stecken in vielen Fällen echte Menschen. Die Aktivistin Lizzie Velasquez fand sich selbst in mehreren dieser Videos wieder. Sie wurde mit dem Marfan-Syndrom geboren, das sie auf einem Auge erblinden ließ und ihr Gesicht verformte. In einem Tiktok-Video appelliert Velasquez : “Wenn Sie ein Erwachsener sind, lehren Sie Ihren Kindern bitte nicht, dass es in Ordnung ist, Angst vor jemandem zu haben, der anders aussieht. Dies ist ein Trend, der aufhören muss. Weil wir Menschen sind. Wir haben Gefühle.”
Und es ist nicht der erste fragwürdige Trend dieser Art. In Deutschland verbreiteten sich vor einigen Wochen zahlreiche Videos, auf denen Tiktoker Obdachlose erschrecken, ärgern oder anderweitig herabwürdigen. Immer wieder finden sich auf der Plattform Videos, in denen anderen Menschen ungefragt gefilmt werden, weil sie komisch aussehen oder sich vermeintlich komisch verhalten. Die Videos erzielen zum Teil enorme Klickzahlen – und die Betroffenen dürften häufig gar nichts von ihrem Ruhm erfahren.
Schulhofmobbing auf ganz großer Bühne
Besonders perfide ist, dass solch diskriminierenden Inhalte gar nicht des Hasses wegen verbreitet werden – sondern zur Unterhaltung. Es sind nicht rechtsextreme Splittergruppen wie auf Twitter, die hier Menschen abwerten – sondern Leute wie du und ich. Eltern, Teenager, Influencer mit beachtlichen Reichweiten, die sich hier über andere erheben.
All das wirkt wie Schulhofmobbing, nur auf der ganz großen Bühne. Menschen werden vorgeführt, weil sie anders sind. Zur Belustigung der Masse, für möglichst viele Klicks und Likes. Was auf anderen Plattformen irgendwo am Rande versandet, wird auf Tiktok zum großen Viralhype hochgespült. Und das Korrektiv scheint komplett zu fehlen: Die Menge in den Kommentarspalten grölt und applaudiert. Die Akteure werden dadurch nur noch mehr angefeuert, während die wenigen Gegenreaktionen ungesehen verpuffen.
Warum ausgerechnet Tiktok?
Doch warum sind derartige Inhalte gerade auf Tiktok so erfolgreich? Ich möchte einfach nicht daran glauben, dass all das mit dem jungen Publikum der Plattform zu tun hat. Ja, die App wird vor allem von Teenagern genutzt. Man könnte argumentieren, dass die halt noch jung sind, dass die es schlichtweg noch nicht besser wissen. Doch so einfach ist es nicht. Schließlich wurde die “New Teacher Challenge” auch nicht von Teens initiiert, sondern von ihren Eltern.
Vielmehr dürfte das Problem mit der Infrastruktur der Plattform zu tun haben. Wer sich auf der Plattform ein, zwei “New Teacher Challenges” anschaut, wird vom Algorithmus in den kommenden Wochen praktisch dauerhaft damit beschallt. Die sogenannte “For you”-Startseite der App lernt ständig dazu, schlägt dem Nutzer immer das vor, was er sich gerne anschaut – und wenn es noch so menschenfeindlich ist.
Das gibt es in dieser Form zwar auch auf Plattformen wie Youtube und Instagram – doch das Durchscrollen der Tiktok-Startseite hat noch mal eine ganz andere Dynamik. Eine Stunde Tiktok-Konsum ist wie ein Sog, aus dem man nicht mehr entfliehen kann. Und im schlimmsten Fall ist es die eigene kleine Welt der Niedertracht, aus der es irgendwann kein Entkommen mehr gibt.
Tiktok reagiert vorbildlich
Zur Wahrheit gehört aber auch: Tiktok weiß von dem Problem – und ist bei der Behebung deutlich fortschrittlicher als so manch anderes soziales Netzwerk. Werden diskriminierende Videos auf der Plattform gemeldet, so schreitet hier zügig ein Moderationsteam ein. Manchmal werden sogar ganze Hashtags gebannt, etwa der der “Kulikitaka-Challenge”, bei der sich Nutzer einen Spaß daraus gemacht hatten, Tiere zu erschrecken.
Als das RND im Juli über die fragwürdigen Obdachlosen-Videos berichtete, verschwanden die Videos nur wenige Stunden später von der Plattform – einige Accounts wurden sogar komplett gesperrt. Erscheint ein kritischer Artikel über die Plattform, versucht die deutsche Pressestelle umgehend, die Wogen zu glätten. Man nehme das Thema “sehr ernst”, heißt es dann. Das gibt es bei anderen Netzwerken in der Form nicht.
Es scheint jedoch so, als käme man trotz guter Vorsätze seinen Nutzern kaum noch hinterher. Auch das könnte mit der Tiktok-Infrastruktur zu tun haben: Die starke Personalisierung sorgt dafür, dass unterschiedliche Nutzer die unterschiedlichsten Dinge in ihrem Feed sehen. Die großen Viralhypes starten zunächst in kleinen Filterblasen und werden erst dann als Problem bemerkt, wenn sie bereits mächtig Schaden angerichtet haben. Zugleich kann auf diese Weise praktisch jeder erdenkliche Inhalt viral gehen – solang er nur zur richtigen Zeit die richtige Filterblase trifft.
Gefahr für Minderheiten
Das hat zur Folge, dass einige Menschen mit Tiktok ein Netzwerk für sich gefunden haben, auf dem sie ihre Niedertracht ungestört ausleben können und auch noch dafür beklatscht werden – zumindest bis der Moderator davon erfährt. Wer sich die diskriminierenden Inhalte auf Tiktok anguckt, fühlt sich zeitweise gesellschaftlich um Jahrzehnte zurückgeworfen. Die Hoffnung, dass in den vergangenen Jahren doch alles irgendwie toleranter geworden sei, wird jäh zerstört, wenn man sich die Klickzahlen und Kommentare einiger Videos anschaut.
Der Tiktok-Algorithmus gibt seinen Nutzerinnen und Nutzern eine außergewöhnliche Macht – mehr als bei so manch anderem sozialen Netzwerk. Das können Kreative für sich nutzen, aber eben auch solche, die beim Schulhofmobbing hängen geblieben sind. Die größte Herausforderung für Tiktok ist es nun, “New Teacher” zu spielen und das zu unterbinden. Denn sonst wird die Plattform langfristig zu einer echten Gefahr für Minderheiten.