Gottschalks Revival: bodenständig, verlässlich – und manchmal peinlich
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Nationalspielerinnen auf dem „Wetten, dass..?“-Sofa: Giulia Gwinn (l.), Alexandra Popp und Thomas Gottschalk am Samstag (19. November) in Friedrichshafen.
© Quelle: Getty Images
Was neu ist? Überleg. Überleg. Nun, es ist die erste „Wetten, dass …?“-Show, die Thomas Gottschalk mit kurzen Haaren moderiert. Das lässt den 72-Jährigen erwachsener wirken. Naja, nicht wirklich, er trägt dazu einen roten Anzug mit Leopardenfellmuster, redet – etwas langsamer als früher und mit dezentem Nuscheln – den üblichen Mix aus peinlicherweise-einfach-mal-ohne-nachzudenken-drauflos-Quasselei und (gelegentlich) witzigen Pointen. Wer wettete, dass „Wetten, dass..?“ 2022 sein würde wie immer, behielt recht.
Bei „Wetten, dass..?“ muss sich nichts mehr ändern
Es muss sich aber auch nichts mehr verändern bei dieser Sendung. Es muss nur wie gewohnt sein. Dies gleich vorweg, der Kanzler schaut nicht vorbei an diesem Samstagabend in der Friedrichshafener Messehalle. Der Höhepunkt der Show ist somit (am Ende kurz vor halb zwölf – 20 Minuten werden überzogen) ein Cancan des Kölner „Moulin Rouge“-Musicaltrosses, bei dem die Schauspieler und Filmemacher Christoph Maria Herbst und Bully Herbig im roten Tütü die Beine in die Höhe werfen.
Die beiden, die auf dem Showsofa Werbung für ihre zweite „Hui Buh“-Gespensterkomödie machten, schauten entgeistert drein, als Baggerführerin Sandra mit der Schaufel ihres auf einer Raupe balancierenden Kolosses das fünfte Ei unzermatscht in den Eierstecher drückte. Wer hätte das gedacht?
Wer Baggervideos kennt, hätte auf Sandra vertraut
Nun, wer Videos diverser Baggerhersteller kennt und weiß, was man mit den klobigen Baufahrzeugen alles an Zartheiten anstellen kann, hätte Sandra vertraut. Die Frau an den Hebeln ließ sich auch durch die Plattitüden von Gottschalks in Pink gewandeter Assistentin Michelle Hunziker nicht irritieren („Auch Frauen können Bagger fahren“, „Das ist wirklich toll. Ein Bagger!“), und das Stahlmonstrum hatte in der Verschraubung der Schaufelzinken so viel Spiel, dass der Coup gelang. Alle anderen Wettpaten vertrauten auf das Können ihrer Patenkinder.
Im vorigen November hatte Gottschalk die Show wieder aufleben lassen. Der Erfolg gab dem Nostalgieprojekt recht. 13,9 Millionen Zuschauende waren dabei, als „Wetten, dass..?“ zum ersten Mal seit sieben Jahren wieder den Samstagabend im ZDF illuminierte. Und die sogenannte werberelevante Gruppe der 14 bis 49-Jährigen (also die, bei denen nicht für Galama, Hörgeräte und Doppelherz geworben werden muss) machte dabei 50,2 Prozent aus. 45,7 Prozent Marktanteil. Das schafft der coolste „Tatort“ nicht.
Von Ausschüttgeräuschen und Fingerabdrücken – die Wetten waren spannend
Die Wetten am Samstag waren durch die Bank spannend. Da war der Mann, der (erfolgreich) alle „Spiele des Jahres“ am Ausschüttgeräusch erkannte. Und die Zwillingsschwestern, die (ebenfalls erfolgreich) fünf willkürlich ausgewählte von 200 äußerlich völlig gleich wirkenden Stoffteddybären namentlich benennen konnten. Beeindruckend war ein Mann, der mit einer Schieltechnik einen neuen Fingerabdruck erkannte, der unter 1000 Fingerabdruckbildchen geschmuggelt wurde (noch ein Gewinner, der schließlich Wettkönig wurde und die erworbenen 50.000 Euro für den Erhalt von Lützerath spenden will, einem vom Tagebau Garzweiler bedrohten Dorf).
Bei der Außenwette scheiterten zwei junge Männer, die sich bei einer Geschwindigkeit von 127 Stundenkilometern in einer Achterbahn im Freizeitpark Rust Handys zuwarfen – nur das erste wurde gefangen.
Robbie Williams zählt zu Gottschalks Showfamilie
Und die Showpferde? Robbie Williams war am Bodensee. Immer ein Garant für Applaus. Zum ersten Mal war der Brite mit dem Eroberungsgrinsen 1994 mit seiner Boygroup Take That in der Show gewesen, solo trat er 1999 erstmals auf die große ZDF-Bühne. Den neuen Song „Lost“ hat er mit Guy Chambers verfasst, der für zahllose Williams-Klassiker steht, aber der Song ist blass, der Sänger singt zudem „out of tune“.
Das Publikum feiert Robbie trotzdem enthusiastisch und bekommt dafür als Zugabe den weit aparteren Klassiker „Angel“. Die 18-jährige Tate McRae wird für „She‘s All I Wanna Be“ vor allem vom jungen Studiopublikum gefeiert. Nicht zu fassen: Der redselige Gottschalk beantwortet seine Fragen an die Newcomerin allesamt selbst – die Kanadierin hat gerade noch Zeit „Ja“ und „Danke“ zu sagen. Abgang.
Grönemeyer singt einen Hoffnungssong für Krisenzeiten
Herbert Grönemeyer am Ende. Neuer Song, Versprechen eines neuen Albums im Frühjahr 2023. Ein weiterer gefühlter „Wetten, dass..?“-Hausbarde, der sogar schon zu Elstners Zeiten auf der Gesangbühne der Show gestanden hatte. 1984 in Ravensburg war er der Deutschrock-Hottie der Saison gewesen. „Wann ist ein Mann ein Mann?“, fragte er damals zu nervösen Beats und ließ die „Flugzeuge im Bauch“ balladesk kreisen – damals noch ein Popsuperstar-to-be, den man zuvor im Kino im „Boot“ von Wolfgang Petersen auf Tauchgang hatte gehen sehen.
„Hoffnung ist gerade so schwer zu finden“, grönemeyert Bochums Bester in der Nacht zum Sonntag zu Fingerschnippen und Schleppbeat einen Ermutigungssong. „Gemeinsam auf Räuberleitern höher steigen wir im Team“, singt er im gepressten Gröni-Style. Allen „Ichs“ empfiehlt der Sänger das „Wir“. Ein Slowgroover über Brückenschweißen, Handreichen. Der Song zu Corona, Isolation, Klimawandel, Kriegsangst. „Deine Hand ist meine Wand“. Ein gutes Statement ist – auch wenn‘s kein neues ist – immer besser als keins. Aber ein konkretes ist auch besser als ein vages.
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Als Wettpate ist Grönemeyer auf der Seite von Patenkind Felix Kaiser, der mit dem Fahrrad Kisten erklimmt – bis auf drei Meter Höhe. Seinen Wetteinsatz, einen Monat lang für die Tafel in Berlin alle Betriebs- und Unterhaltungskosten zu zahlen, spendiert der Popstar trotzdem.
Von Abba bis Zappa – Gottschalk brachte den Babyboomern Pop und Rock
Gottschalk fragt nach dem Song, und Grönemeyer äußert sich über Krisen und Krieg, über Kraft und Zusammenrücken. „Wir sind eine sehr humanitäre Gesellschaft. Wir schaffen das“, sagt er. Ein kleines Gag-Pingpong noch zu Grönemeyers Tanzkünsten, und man weiß wieder, warum man Gottschalk trotz aller Moderationsmalaisen verbunden bleibt – wegen der Musik. Schließlich war Thommy der Mann, der bayrischen Babyboomern ab 1977 wochentags im Rundfunk auf Bayern 3 bei „Pop nach 8″ die Populärmusik vorbuchstabierte – von Abba bis Zappa. Und er war renitent, ein Rebell, musste immer wieder zum Intendanten.
Thomas Gottschalk: Der Showmaster ist musikalisch nicht mehr auf Zeitenhöhe
Triumph, dann: Bei „Wetten, dass..?“ saß kurz nach der Gottschalk-Übernahme Paul McCartney live am Piano und spielte seine Ballade „Once Upon a Long Ago“. Gefühlt alle großen Popheldinnen und ‑helden waren in „Wetten, dass..?“ . Gottschalks zuletzt geäußertes Bedauern freilich, es gebe keine Superstars mehr wie früher, lässt sich mit Ed Sheeran, Billie Eilish, Pink, Beyoncé, Drake, Adele, Shawn Mendes und vielen anderen widerlegen.
Wäre heute 1977, hätte Gottschalk sich ein paar von denen in die Show geholt, dazu als Schmankerl Wilco mit „Story To Tell“ und Weyes Blood mit „Grapevine“. Mit seinem blamablen Klagegesang „Whatever Happened To Rock ‘n‘ Roll“ hatte der Moderator allerdings schon 2005 gezeigt, dass er nur noch zurückblickte. Und so hat er nun auf Robbie und Herbie zurückgegriffen. Zwei Nummern sicher. Warum nicht noch Bruce Springsteen, der noch nie in der Sendung war, zurzeit Soul-Oldies covert und mit „Only the Strong Survive“ oder „Nightshift“ prima gepasst hätte?
Gelegentlich grottenpinlich, gelegentlich großartig
Nein, man findet Gottschalks hüftsteif gewordenen Chauvi-Charme gegenüber den sympathischen Fußballnationalspielerinnen Alexandra Popp und Giulia Gwinn gewiss nicht gelungen. Und wünscht sich, er würde Veronica Ferres‘ Arm nicht so oft berühren und ihre Tochter Lily Krug nicht beleidigen, wenn er von anderen Müttern erzählt, die ihren Nachwuchs noch hübscher fänden als sie. Oder die 21-Jährige doch bitte nicht fragen, was Mama Veronica sagt, wenn sie einen Kerl anschleppt. „Wetten, dass..?“ war punktuell grottenpeinlich, aber gelegentlich eben auch großartig. Und immer unterhaltsam – im Guten wie im Schlechten.
„Bleibt alles anders“, hatte Grönemeyer 1998 das Lied von der Beständigkeit des Wandels gesungen. In Friedrichshafen war anders – wie bereits erwähnt – nur der Haarschnitt Gottschalks. Verlässlichkeit aber kommt gut in Zeiten, in denen man sich verlassen fühlt, in denen der Zug nie pünktlich kommt, in denen man keine Coca-Cola, kein Whiskas und keinen Snickers mehr im Supermarkt kriegt und der Apotheker den Saft für fiebernde Kinder selbst anmischen muss. In denen nichts mehr billig und nichts mehr heilig ist und auch nichts mehr sicher scheint. „Wetten, dass..?“ ist da die „Räuberleiter“ für die Massen.
Es ist, um noch mal Grönemeyer zu zitieren, „Zeit, dass sich was dreht“. Zeit für das ZDF, anzukündigen, dass es wieder fünf-, sechsmal im Jahr „Wetten, dass..?“ gibt.