Von „Herzblatt“ bis „Glücksrad“

Retrohype im Fernsehen: Flucht in die gute alte Zeit

Jörg Pilawa bringt die Kultshow „Herzblatt“ zurück, die künftig allerdings „Dating Game“ heißt.

Jörg Pilawa bringt die Kultshow „Herzblatt“ zurück, die künftig allerdings „Dating Game“ heißt.

Hannover. Der Vorspann der Kuppelshow „Herzblatt“ ertönt – und das Studio­publikum ist kaum noch zu halten. Fast ausnahmslos Seniorinnen und Senioren sitzen auf den Rängen, bereit für äußerst schlüpfriges Entertainment. Hera Lind, heute den meisten wohl eher als Bestseller­autorin bekannt, beginnt mit der Vorstellung der heutigen Kandidatinnen.

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Da wäre etwa Christina, Arzthelferin aus Eschborn, zu deren Tätigkeiten „Blutabnahme, Belastungs-EKGs und spritzen“ gehört, wie sie sagt. Oder Carolina aus Ofterschwang am Schweineberg, die als Hotelfachfrau arbeitet und keine Kühe mag. Und Kathi aus Hamburg, die als Kranken­schwester auf einer gynäkologischen Station arbeitet.

Die drei Frauen müssen sich mit besonders anzüglichen und doppeldeutigen Anmach­sprüchen Michael aus Stuttgart anbiedern, der sein Herzblatt sucht und sich selbst als „leider ziemlich egoistisch“ aber auch „arg schneegeil“ beschreibt. Die potenziellen Liebes­partnerinnen und ‑partner können sich nicht sehen – zwischen ihnen steht eine Wand.

Die Fragen und Antworten der Kandidaten sind traditionell unter jeder Gürtellinie und ausnahmslos auswendig gelernt. Und gerade, als man sich fragt, wie so etwas jemals im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ja überhaupt jemals im Fernsehen laufen konnte, ist die Spielrunde auch schon wieder vorbei. Susi Müller, die „erotischste Stimme Deutschlands“, fasst die Begegnungen noch einmal zusammen.

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Die Neuauflage des „Herzblatts“

All das sind Szenen einer Kuppelshow, gesendet irgendwann Mitte der Neunzigerjahre in der ARD. Hera Lind war da bereits die dritte Moderatorin des Formats „Herzblatt“ – groß gemacht wurde es einst von Rudi Carrell, ehe Rainhard Fendrich übernahm. Zeitweise führten auch Jörg Pilawa, Pierre Geisensetter, Alexander Mazza und andere durch die Sendung. Fast 500 Folgen wurden seit 1987 produziert, ehe das Format 2005 schließlich eingestellt wurde.

Man hätte es dabei belassen können – doch der Privatsender Sat.1 hat andere Pläne. Er legt „Herzblatt“ im Februar neu auf. Die Show heißt dann, wohl aus rechtlichen Gründen, „Dating Game“ – das Konzept allerdings bleibt exakt das gleiche. Ein Single löchert jeweils drei Dateanwärter mit Fragen – Susi Müller soll wieder die Zusammen­fassung sprechen. Auch als Moderator ist ein alter Bekannter dabei: Jörg Pilawa, der die Sendung zwischen 2001 und 2004 moderiert hatte. Die Ausstrahlung ist für den 13. Februar geplant.

Pilawa zeigt sich im Vorfeld der Sendung per Presse­mitteilung schon mal begeistert: „Es ist unglaublich: Man steht im Studio, hört die Musik von damals und hat sofort wieder die Bilder vor Augen. Oder dieser Satz, ‚Hier ist dein Herzblatt‘, und die Wand fährt zurück. Das kennt jeder. Das ist es, was eine Kultshow für mich ausmacht. Damals war Fernsehen ein Event. Und dieses Event spürst du in diesem Moment wieder, wenn du im Studio stehst.“

Das Comeback der Kultshows

Sieht so aus, als wollten TV‑Sender und ihr Publikum aktuell ziemlich viel Event spüren. Denn das „Herzblatt“ ist bei Weitem nicht die einzige Retroshow, die dieser Tage aus der Versenkung geholt wird.

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Allein der Sender Sat.1 bringt im Februar gleich drei sogenannte Kultformate zurück auf die Bildschirme: Neben dem „Herzblatt“ ist das auch die Spielshow „Die Pyramide“. Pilawa soll darin Schauspielerin Simone Thomalla, Tom Beck, Moderatorin Ruth Moschner und Komiker Bastian Bielendorfer empfangen, die versuchen müssen, ihren Teampartnerinnen oder ‑partnern Begriffe mit Worten und Gesten zu erklären. Dem Gewinnerduo winken bis zu 22.000 Euro. „Die Pyramide“ war Ende der Siebziger­jahre erstmals auf Sendung gegangen und lief bis 1994.

Moschner selbst moderiert am 20. Februar zudem eine Neuauflage der Retrosendung „Jeopardy!“. Neun Kandidatinnen und Kandidaten versuchen sich in dem Format in drei Vorauswahl­runden und einem Finale zu behaupten und schließlich bis zu 50.000 Euro mit nach Hause zu nehmen. „Jeopardy“ stammt ursprünglich aus den USA und wurde hier ab 1964 gesendet – in Deutschland wurde es ab 1990 auf RTL zum Kult.

Von „7 Tage, 7 Köpfe“ bis „TV Total“

Schon vor rund einem Jahr hatte sich Sat.1 an einer Neuauflage von Retroshows versucht. So lief etwa ein Comeback der Spielshow „Geh aufs Ganze“ – mit dabei war, neben dem „Zonk“, auch wieder „Kult“-Moderator Jörg Draeger.

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Auch bei der Konkurrenz RTL wird mit Retroformaten experimentiert. Zuletzt holte der Sender im Frühjahr des vergangenen Jahres die Comedyshow „7 Tage, 7 Köpfe“ zurück. Auch „Der Preis ist heiß“ mit Harry Wijnvoord feierte im vergangenen Jahr ein Comeback.

Bei ProSieben wurde 2021 Stefan Raabs einstige Kultshow „TV Total“ wiederbelebt – diesmal mit Sebastian Pufpaff als Moderator. Und dann wäre da natürlich auch noch „Wetten, dass..?“ – die legendäre Samstagabend-Spielshow mit Thomas Gottschalk, die nach einem eigentlich einmaligen Comeback inzwischen wieder jährlich läuft, mindestens noch dieses Jahr.

Solide Quoten

Die Rückkehr der Retrospielshows kommt nicht von ungefähr – das Publikum hat offenbar Sehnsucht nach ihnen. Mehr als zehn Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer haben die Retroausgabe von „Wetten, dass..?“ im vergangenen Herbst gesehen – ein Marktanteil von 39,5 Prozent. Im Jahr zuvor waren es sogar 13 Millionen.

Auch die Neuauflage des „Glücksrads“ bescherte RTL II in der vergangenen Woche gute Quoten – die Auftakt­sendung erreichte einen für den Sender starken Marktanteil von 4,8 Prozent. Die Quoten für „TV Total“ oder „Der Preis ist heiß“ sind meist solide – das Interesse an „Geh aufs Ganze“ ging zuletzt zwar zurück, für 2023 hat Sat.1 aber dennoch eine Fortsetzung angekündigt.

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Handfeste Flops gibt es nur selten – darunter die Comedyshow „7 Tage, 7 Köpfe“. Ursprünglich waren 14 Ausgaben der Sendung geplant – im April vergangenen Jahres setzte der Sender das Format frühzeitig ab.

Flucht in die „gute alte Zeit“

Für Stefan Grünewald, Diplom-Psychologe und Gründer des Markt- und Medien­forschungs­instituts Rheingold, ist das Interesse an diesen Formaten nicht überraschend. Nicht zuletzt die großen Krisen, von Corona über den Ukraine-Krieg bis hin zur Klimakrise lösten ein Schwelgen in längst Vergangenem aus, sagt er. Das mache sich dann auch im Medienkonsum bemerkbar.

Aktuell werde häufig von „Zeitenwende“ gesprochen, so Grünewald – Bundeskanzler Olaf Scholz etwa hatte das bei Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine getan. „Zu einer Zeitenwende gehören Abschied und Trauer, aber eben auch eine visionäre Neu­ausrichtung.“ Genau diese fehle aber aktuell. „Wenn die Menschen in die Zukunft blicken, erleben sie ein visionäres Vakuum.“ Sie hätten das Gefühl, dass alles den Bach runtergeht.

Die Rückbesinnung auf bereits Erlebtes, mit dem man gute Erinnerungen verbindet, könne da helfen. „Damals gab es noch so etwas wie Zukunfts­visionen. Von Flowerpower in den Siebzigern bis hin zur Wieder­vereinigung in den Neunziger­jahren. Das hat die Menschen mitgerissen.“ Der Retrotrend sei eine Flucht in dieses Gefühl: „Wir blicken in den Rückspiegel und recyceln konsequenz- und risikolos die Aufbruch­stimmungen, die wir in den Siebziger-, Achtziger- oder Neunziger­jahren durchlebt haben.“

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Ein falsches Sicherheits­gefühl

Mit all dem gehe zudem ein Gefühl der Sicherheit einher, sagt Grünewald. „Es ist die Erinnerung an eine Zeit, in der man Unbeschwertheit erlebt hat, in der man sich geborgen gefühlt hat.“ Dabei würden die genannten Jahrzehnte aber auch häufig verklärt – denn Probleme gab es durchaus auch damals schon zur Genüge.

Dem Retrohype schade das allerdings nicht, im Gegenteil. Nicht nur im Fernsehen, überall in der Kultur­landschaft spüre man den Trend aktuell, sagt Grünewald – von der Literatur- bis zur Musikbranche. Und keineswegs sei der Hype ein neuer: Schon 2006 hatte der Marktforscher das Thema erstmals in einem Buch beschrieben. „Der Retrotrend flammt immer dann auf, wenn der Blick nach vorne verstellt ist.“

Einen längeren Erfolg hätten die meisten Produkte dieser Art, darunter auch die Fernsehshows, aber meistens nicht, so der Psychologe. Das Problem: Das Gefühl der Geborgenheit ist mehr Schein als Sein. „Es ist ja kein echter Aufbruch, den wir hier erleben. Und das führt dazu, dass Retrotrends schnell kommen und auch wieder gehen.“ Mal springe man in die Sechziger, mal in die Achtziger und Neunziger, auf der Suche nach der schönen Erinnerung von damals.

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Die Buchstabenfee ist ein Mann

Ganz auf dem Retrotrend ausruhen wollen sich die Sender aber nicht – sie wollen auch ein bisschen mit der Zeit gehen. Bei RTL II kehrte in der vergangenen Woche die Spielshow „Glücksrad“ zurück. Moderiert wird sie von Komiker Thomas Hermanns und Sonya Kraus, die schon in der Ursprungsversion der Sendung die Buchstaben umgedreht hatte.

In der modernen Variante allerdings verspricht das Format mehr Gleich­berechtigung. Diesmal soll nicht nur Kraus die Buchstabenfee spielen, sondern auch Hermanns. „Diese Aufteilung ‚Mann am Rad, Frau an der Wand‘ ist ein bisschen gestrig. Das wollen wir nicht mehr, wir wollen es modern haben“, so Hermanns in einem Trailer zur Show.

Auch beim „Herzblatt“ ist zu erwarten, dass die Sendung wahrscheinlich nicht ganz so plump, platt und sexistisch werden dürfte wie noch damals vor 30 Jahren. Ob die Neuauflage auch ein Erfolg wird? Solange es all die Krisen gibt, stehen die Chancen zumindest nicht schlecht.

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