Netflix-Hit „Squid Game“: Wenn Kapitalismuskritik die Kassen sprengt

Szene aus der Netflix-Serie „Squid Game“.

Szene aus der Netflix-Serie „Squid Game“.

Peking. Als am Samstagabend Dunkelheit über Itaewon, dem Ausgehviertel der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, hereinbrach, zeigte sich das exzessive Nachtleben der Metropole erstmals wie vor der Pandemie. Zehntausende junge Menschen bevölkerten die engen Gassen, um in Irish Pubs und Nachtclubs Halloween zu feiern. Dominierten in den letzten Jahren noch Krankenschwester­kostüme und Vampirmasken das Straßenbild, schienen diesmal die meisten Partygängerinnen und Partygänger direkt vom Filmset von „Squid Game“ zu kommen: die Männer als rote Gefängniswärter mit schwarzen Masken und umgehängten Maschinenpistolen, die Frauen als gelb-orange gekleidete Gruselpuppen.

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Kein Wunder, dass sich die Serie auch im Alltag der koreanischen Hauptstadt niederschlägt: Sie ist mit rund 150 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern längst der größte Erfolg des Streaminggiganten Netflix, fast fünf Millionen neue Abonnenten soll „Squid Game“ dem US-Unternehmen gebracht haben. Produziert wurde die dystopische Gesellschaftssatire nicht zufällig in Südkorea – dem vielleicht einzigen Land, das die kulturelle Hegemonie des Westens nachhaltig durchbrochen hat.

Koreanischkurse und Internetpiraterie zeugen vom Hype

Der Plot von „Squid Game“ ist schnell nacherzählt: Die Serie handelt von knapp 500 Menschen, die zwar die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Hintergründe haben, aber allesamt hoch verschuldet sind. Sie treten in neun Folgen bei scheinbar harmlosen Kinderspielen gegeneinander an, um ein Preisgeld in Millionenhöhe zu gewinnen – und von ihren finanziellen Nöten erlöst zu werden. Doch der makabre Wettbewerb duldet keine zweite Chance: Wer es nicht in die nächste Runde schafft, wird umgehend getötet – und die Leiche zur Organgewinnung weiterverarbeitet.

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Wie sehr die Allegorie auf Sozialdarwinismus und Ellbogen­gesellschaft den Zeitgeist trifft, lässt sich an den internationalen Reaktionen ablesen. In den Vereinigten Staaten und in Großbritannien meldet der Onlinesprachdienst Duolingo einen plötzlichen Boom bei Koreanischkursen. Von Belgien bis Deutschland imitieren Schülerinnen und Schüler auf Pausenhöfen die Spiele aus der Serie. In China, dessen Internetzensur „Squid Game“ bisher gesperrt hat, wurde die Internetpiraterie auf illegalen Streamingseiten zu einem derart großen Problem, dass sich zuletzt sogar Südkoreas Botschafter in Peking zu Wort gemeldet hat.

Und selbst Nordkorea konnte angesichts des weltweiten Erfolgs nicht länger schweigen: Die Serie würde beweisen, dass Südkoreas Gesellschaft „infiziert“ sei von „Korruption, Sittenlosigkeit und dem Überleben des Stärkeren“, schreibt das Propagandamedium Arirang Meari.

Metapher auf den sozialen Überlebenskampf

Wenn man die Serie als realistisches Porträt einer Gesellschaft lesen würde, dann träfe eine solche Kritik durchaus zu. Man schaue nur einmal auf Seong Gi-hun, den spielsüchtigen Protagonisten von „Squid Game“, der in einer heruntergekommenen Kellerwohnung im Norden Seouls wohnt: Er hat seine Arbeitsstelle verloren, wurde von seiner Frau verlassen und hat kaum Erspartes, um sich um seine Tochter zu kümmern. Das Schicksal lässt ihm keine andere Wahl: Er muss beim Todesspiel mitmachen, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen.

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Natürlich ist die Handlung nur als Metapher auf den sozialen Überlebenskampf zu verstehen. Doch dieser wird in der Tat in Südkorea deutlich härter ausgetragen als etwa in den Wohlfahrtsstaaten Europas. Der ostasiatische Tigerstaat war nach dem Koreakrieg (1950–1953) eines der ärmsten Länder der Welt, das Bruttoinlands­produkt vergleichbar mit Ghana. In nur einer Generation schuftete sich die Bevölkerung unter unglaublicher Aufopferung zu Wohlstand und nationalem Selbstbewusstsein: Südkorea hat mittlerweile das zehntgrößte Bruttoinlands­produkt aller Staaten der Welt.

Doch der vielleicht rasanteste Wirtschaftsaufstieg des 21. Jahrhunderts hat viele gesellschaftliche Narben hinterlassen: wachsende Ungleichheit, fehlende soziale Absicherung, hohe Haushaltsschulden, Konformitätszwang und ein ungemeiner Leistungsdruck sind nach wie vor verantwortlich dafür, dass das Land am Fluss Han seit der Jahrtausendwende fast durchgängig die höchste Suizidrate aller OECD-Länder aufweist.

Zudem ist es keine Gesellschaft, die zweite Chancen zulässt: Wer sich im Wettkampf um die begehrten Universitätsplätze durchsetzen kann, dem winkt ein gut bezahlter Arbeitsplatz bei den großen Mischkonzernen à la Samsung und Hyundai. Der große Rest hingegen profitiert kaum vom neu gewonnenen Wohlstand des Landes.

Regierung fördert gezielt den Kulturexport als Wachstums­branche

Lange Jahre versuchte die Unterhaltungs­industrie die sozialen Übel in kitschigen Romanzen und albernen Komödien unter den Teppich zu kehren. Doch längst stellt sich die konfuzianisch geprägte Gesellschaft immer mehr den eigenen Problemen, wie sie allesamt auch in „Squid Game“ reflektiert werden. „Ein Grund, warum das rekordverdächtige Hitdrama von Netflix bei so vielen Menschen Anklang fand, ist, dass es auch ein sozialer Kommentar zu realen Vorfällen in Korea ist“, schreibt etwa die Tageszeitung „Korea Herald“. In einem Interview sagte der 50-jährige Regisseur Hwang Dong-hyuk, dass er das „Überlebensspiel als eine Metapher, eine Parabel für die moderne kapitalistische Gesellschaft“ darstellen wollte.

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Dass die derzeit erfolgreichste Serie ausgerechnet aus Südkorea kommt, ist dabei kein Zufall. Die Regierung in Seoul fördert schließlich seit Ende der Neunzigerjahre gezielt den Kulturexport als wirtschaftliche Wachstums­branche. Dabei wurzelt der Erfolg von K‑Pop und K‑Dramas in einer handfesten Niederlage. Während der Finanzkrise Ende der Neunziger wurde das Land von Massenarbeits­losigkeit und stagnierenden Exporten schwer getroffen. „Hätte es keine Krise gegeben, wäre es wohl nie zur koreanischen Welle gekommen“, schreibt die Autorin Euny Hong in ihrem viel beachteten Buch „The Birth of Korean Cool“.

Als Lösung stieß der 1998 gewählte Präsident Kim Dae-jung einen Prozess an, den Euny Hong als „wohl größte nationale Image­kampagne in der Weltgeschichte“ beschreibt. Das immer noch recht abgeschottete Land der Morgenstille solle künftig der globalen Gemeinschaft beitreten – und die Popkultur würde diese Botschaft in die Welt hinaustragen.

Südkoreas Kulturexporte: mehr als Plastikpop

Rückblickend war es ein Geniestreich, in den Kulturexport einzusteigen. Südkorea verfügt schließlich über kaum nennenswerte natürliche Ressourcen, dafür aber über eine extrem gebildete, krisenerfahrene und wandlungsfähige Bevölkerung. Doch gleichzeitig hatte man mit einem ernsthaften Image­problem zu kämpfen. Im Ausland verbanden die Leute Korea mit emsigen Samsung-Angestellten, aber keinesfalls mit hippen Popikonen.

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Erstmals sorgten schließlich koreanische Arthouse-Regisseure wie Park Chan-wook („Old Boy“), Bong Joon-ho („The Host“) und Kim Ki-duk („Seom – die Insel“) beim europäischen Publikum für Respekt. In Asien hingegen kamen vor allem der zuckersüße Pop der „Girls Generation“ gut an, auch die kitschigen Seifenopern liefen schon bald im Hauptabend­programm. Den tatsächlichen Durchbruch der koreanischen Welle schafften spätestens BTS: Die Boyband gilt weltweit als erfolgreichste ihrer Art.

Die neu gewonnene Soft Power hat auch das Stadtbild von Seoul verändert. Das Hongik-Universitätsviertel und die Ausgehmeile Itaewon sind längst voll von europäischen Austausch­studentinnen und jungen Kreativen, die es aufgrund der Faszination für koreanische Popmusik, Modedesign und Fernsehserien nach Ostasien gezogen hat.

„Squid Game“ reitet ebenfalls auf der koreanischen Welle, doch fügt dem Kulturexport aus Seoul noch einen weiteren Aspekt hinzu: Die Serie beweist, dass das Land nicht nur mit Plastikpop und seichter Unterhaltung erfolgreich ist, sondern auch mit einer beißenden und vor allem selbstkritischen Gesellschaftssatire.

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