Nach der Niederlage beim ESC: Wundenlecken im deutschen Team

Lustig gemeint, leider verloren: Jendrik Sigwart bei seinem Auftritt beim Eurovision Song Contest.

Lustig gemeint, leider verloren: Jendrik Sigwart bei seinem Auftritt beim Eurovision Song Contest.

Irgendwann beschloss er, sich trotzdem seinen Applaus zu holen. Lange hatte Jendrik Sigwart auf diesem Sofa im Künstlerbereich gesessen, zappelig und lachend, hatte die Livepunktevergabe beim Eurovision Song Contest verfolgt – und wurde immer und immer wieder enttäuscht. 39 nationale Jurys hatten ihre Wertung durchgegeben. Zwei Jurypunkte aus Österreich. Einer aus Rumänien. Vorerst vorletzter Platz für Deutschland. Das war’s. Und dann geschah etwas Seltsames in der Ahoy Arena in Rotterdam. „Und nun die Punkte des nationalen Publikums!“, sagte der Moderator – und vergab null Punkte an Großbritannien. Und null an Deutschland.

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Doch dann brandete Beifall auf. Das Publikum jubelte – nicht hämisch, nicht ironisch, sondern herzlich. Eine Geste der Menschlichkeit. Ein Trost der Gemeinschaft. Und Jendrik Sigwart und der Brite James Newman ließen sich feiern, standen auf, winkten den 3500 Zuschauern zu, auch die Kollegen spendeten Applaus. Es muss dieser in seiner Absurdität auch bizarr-schöne Augenblick gewesen sein, der Jendrik Sigwart noch 30 Minuten später glückstrunken schwärmen ließ: „Dieser Eurovision-Vibe war einfach geil, so schön, ich war so glücklich …“ Zuvor hatte er erzählt, wie sehr er das vermisste bei diesem coronageprägten ESC: das Kennenlernen der Kollegen, die Verbrüderungen, das gemeinsame Feiern. „Das Gute ist: Die Italiener wohnen im selben Hotel wie wir“, feixte er tief in der Nacht von Rotterdam. Soll heißen: Da lockt noch eine kleine Eskalation, später.

Wieder hat ein deutscher ESC-Song nicht „connected“

Und dennoch: Wieder ist Deutschland Vorletzter. Wieder hat ein Song nicht „connected“, wie das die Fernsehfachleute nennen. Man könnte auch sagen: Er hat den Zeitgeist und die Herzen verfehlt. „Ich habe mich mit mir sehr wohl gefühlt“, sagte Sigwart selbst. Aber was nützt das, wenn das Publikum sich nicht wohlfühlte mit ihm, mit seinem Auftritt? Das Team hatte voll auf die ansteckende Fröhlichkeit des 26-Jährigen gesetzt. Die aber übertrug sich schlicht nicht.

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„Es war ein so toller Auftritt“, beharrte auch ESC-Kommentatorenurgestein Peter Urban. „Was soll’s? Sie haben ihren Traum gelebt.“ Doch die deutsche ESC-Bilanz der letzten Jahre fällt inzwischen so düster aus, dass man diese neue Schmach nicht einfach wird weglächeln können. Bei den letzten sechs Song Contests war Deutschland zweimal Letzter und dreimal Vorletzter (und einmal Vierter: 2018 mit Michael Schulte). So bitter das ist: Das deutsche ESC-Team hat den Anschluss an den zeitgenössischen europäischen Pop verloren. Wie ein Fremdkörper wirkte Sigwarts schrillbunter Beitrag in Rotterdam – zwischen lauter Künstlern, die das, was sie taten, eben nicht ironisch und lustig meinten. Die dem Publikum Tiefe und Komplexität zumuteten – und dafür auch belohnt wurden, etwa Frankreich mit einem wunderbaren Chanson (Platz zwei) oder die Schweiz mit einem faszinierenden Schwarz-Weiß-Auftritt (Platz drei).

Da lachen sie noch: Jendrik Sigwart mit Kolleginnen auf der ESC-Bühne in Rotterdam.

Da lachen sie noch: Jendrik Sigwart mit Kolleginnen auf der ESC-Bühne in Rotterdam.

Die Zeiten, in denen Ironie das Mittel der Wahl beim ESC war, scheinen vorbei

Die Zeiten, in denen Ironie das Mittel der Wahl beim ESC war, scheinen lange vorbei. Gewiss hatte auch Jendrik eine durchaus löbliche Botschaft der Versöhnung im Gepäck. Doch sein schriller Tanz dazu war nicht das, was der pandemiemüde und für jedes positiv-emotionale Erlebnis dankbare Kontinent an diesem Abend sehen wollte. Hoch gewettet – und verloren. Einer wie er wird das wegstecken und weiterlächeln. Doch das deutsche ESC-Team steht vor einem Umbruch.

Der langjährige ARD-Unterhaltungskoordinator und ESC-Beauftragte Thomas Schreiber hat am 1. Mai einen neuen Job angetreten – als Chef der ARD-Spielfilmproduktionsfirma Degeto. Es war sein letzter ESC in verantwortlicher Position. Das Team des NDR wird sich neu sortieren müssen – und dringend neue Wege suchen, damit die deutschen Bemühungen beim größten Musikspektakel der Welt nicht endgültig zur Lachnummer werden.

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