„Midnight Mass“: Mike Flanagan erzählt, wie gruselig Kirche sein kann
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Die Gemeinde von Crockett Island steht auf ihn: Paul Hill (Hamish Linklater) ist der charismatische neue Priester von St. Patrick’s.
© Quelle: EIKE SCHROTER/NETFLIX
Das Erste, was in „Midnight Mass“ zu sehen ist, ist – bildschirmfüllend – das christliche Fischsymbol neben dem Nummernschild eines teuren Wagens aus Illinois. Dann zieht die Kamera langsam hoch: Ein schwerer Unfall ist passiert – Rettungskräfte versuchen, eine von Glassplittern übersäte junge Frau auf dem Asphalt wiederzubeleben, die offenbar durch die Windschutzscheibe ihres VW Käfers geschleudert wurde. Ein Mann sitzt am Straßenrand und betet das Vaterunser. „Fragen Sie Gott mal, warum er immer die Kinder nimmt“, raunt ihm ein Sanitäter zu, „und die Besoffenen mit Kratzern davonkommen lässt.“ Es ist der Tag, an dem Riley Flynn (Zach Gilford) – er stammt aus einer sehr katholischen Familie von der sehr katholischen Insel Crockett Island – seinen Glauben verliert.
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Nach vier Jahren im Gefängnis kehrt Riley dorthin zurück, wohin er nie wieder wollte. Auf seine sterbende Insel, auf der nur noch 127 Seelen wohnen. Eine Ölkatastrophe hat die Fischgründe verheert, die Fischer unterliegen strengen Auflagen – ein wirtschaftliches Desaster. Überall sieht man die Zeichen von Armut und Verfall – Holzbürgersteige und festgestampfte Erdstraßen, verwahrloste Häuser und Boote.
Ein neuer Priester erscheint in St. Patrick’s
Rileys Mutter Annie (Kristin Lehman) umarmt den verlorenen Sohn, Vater Ed (Henry Thomas) ist reserviert. Der Sohn zog aus, um etwas Besseres zu werden, jetzt kehrt er heim, mit einer Mordschuld beladen und fern von Gott. Seine Jugendfreundin Erin Greene (Kate Siegel) wird Rileys Anlaufstelle. Ihre Schwangerschaft hatte ihr den Mut gegeben, einer toxischen Beziehung zu entfliehen. Und erst mal ist sie in das Haus ihrer Mutter eingezogen, wo sie eine extrem unglückliche Kindheit verlebte, wie wir noch erfahren werden.
Und noch jemand ist auf die Insel gekommen, von der es gemeinhin nur Leute fortzieht. Father Paul Hill (Hamish Linklater) hält Einzug ins Pfarrhaus, ein neuer Priester, der, so sagt er, in der St. Patrick’s Church einstweilen die Gottesdienste übernehmen wird, bis der alte Monsignore John Pruitt wieder gesund ist. Seine von der Gemeinde finanzierte Pilgerreise ins Gelobte Land habe den über 80-Jährigen gesundheitlich über Gebühr strapaziert, sagt Hill.
Selbst die Liturgie kommt bei Father Paul charismatisch rüber
Der Interimsmann hat freilich das Zeug, die Kirchenbänke vollzukriegen. Selbst die Abendmahlsliturgie vom „Blut, das für euch und für viele vergossen wird“, kommt bei ihm charismatisch rüber. Hilfreich ist er überdies – er organisiert Anonyme-Alkoholiker-Treffen auf der Insel, damit Riley für den Stempel der Bewährungskommission nicht Woche für Woche aufs Festland muss.
Weitere interessante Insulaner sind der Drogendealer Bowl (John C. MacDonald), der als Einziger dem Säufer Joe Collie (Robert Longstreet) zur Seite steht, der wiederum verstoßen wurde, weil er die querschnittsgelähmte Bürgermeistertochter Leeza (Annarah Cymone) im Suff angeschossen hatte. Der muslimische Sheriff Hassan (Rahul Kohli) wird von der Küsterin Bev Keane (Samantha Sloyan) mit ihrer unerträglich bestimmten „Ich bin für Gott wichtiger als du“-Attitüde sanft ausgegrenzt, während sein Sohn Ali (Rahul Abburi) sich für alles Christliche interessiert, einfach um dazuzugehören. Lieber heute als morgen würde die lesbische Ärztin Sarah (Annabeth Gish) dem altmoralischen Milieu entkommen, wäre da nicht ihre demente Mutter Mildred (Alex Essoe), die auf ihre Hilfe angewiesen ist.
„Midnight Mass“ wäre auch ohne paranormale Würzung ausgekommen
Ausreichend Personal für eine herausragende Dramenserie, möchte man meinen. Sorgfältig eingeführt illustrieren sie die Herrschaft der Religion in einer abgelegenen Kommune, wo Integration von der Bereitschaft abhängt, sich demütig auf die Kniebänke der Kirche fallen zu lassen und zu beten. Es ist eine Welt gegenseitiger Überwachung, in der der Sonntagsgottesdienst der Höhepunkt der Woche ist – das feierliche Heben der Hostie, die Schellen der Messdiener, das gemeinsame „Großer Gott, wir loben dich“. Es hätte keiner übernatürlichen Beigaben bedurft, Kirche für sich besehen kann schon so gruselig sein. Aber dann wäre es keine Mike-Flanagan-Serie.
Der Macher der exquisiten Miniserie „Spuk in Hill House“ (2018) und des nicht ganz so gelungenen Nachfolgers „Spuk in Bly Manor“ (2020) baut das Böse beinahe unmerklich ein. Die ersten Episoden sind definitiv nichts für Leute, die das prustende Horrorkarussell mit drei Schocks pro Minute brauchen. Flanagan setzt zwischen die (manchmal etwas zu langen) Dialoge und Monologe virtuos winzige Tupfer Grauen.
Kam da gerade ein Klopfen aus dem Schrankkoffer von Father Paul? Fiel der Strahl der Taschenlampe eines kiffenden Teenagers auf der nur von Katzen bewohnten Nachbarinsel tatsächlich auf zwei Raubtieraugen in Menschenhöhe? Der betrunkene Joe erzählt, von einem riesigen Albatros verfolgt worden zu sein. Dann glaubt Riley, nachts während eines Sturms den vermeintlich auf dem Festland sich kurierenden Monsignore am Strand zu sehen. Und als sich der Wind am Ende der ersten Episode gelegt hat, ist der Strand von Hunderten toter Katzen gesäumt, über denen Möwenstaffeln ihr grelles Lied singen. Dann geschieht auch noch ein Wunder, nicht das letzte ...
Der Twist von „Midnight Mass“ ist ziemlich cool
Liebend gern würden wir hier noch ein wenig softspoilern, aber „Midnight Mass“, dessen Ereignisse sich in der Karwoche zuspitzen, hat im Grunde nur einen einzigen Twist, den zu verraten eine unverzeihliche TV-Todsünde wäre. Man könnte bezüglich dieser Überraschung monieren, dass die Leute von Crockett Island offenbar ein kollektives Wahrnehmungsproblem haben. Und in der Folge, dass sie wahrlich zu wenig über Menschheitsmythen wissen, um die Gefahr, in der sie schweben, als solche zu erkennen. Aber eigentlich ist dieser Twist schon ziemlich cool.
Für die geduldig wartenden Liebhaber von Aktionismus bricht dann in den letzten beiden der sieben Episoden die Hölle los und kriegt ihre Tür auch bis zum letzten Abspann nicht mehr zu. Das genreübliche tosende Infernofinale hat zwar auch seine Momente, aber wenn der Schrecken voll ausgeleuchtet wird, verliert er – zumindest für den Zuschauenden – verlässlich an Wirkung. Das Böse ist immer dann am besten, um den großen Ray Bradbury zu zitieren, wenn es auf leisen Sohlen kommt.
„Midnight Mass“, sieben Episoden, von Mike Flanagan, mit Zach Gilford, Kate Siegel, Hamish Linklater (bei Netflix)