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Maradonas Geist über Neapel: der Netflix-Film „Die Hand Gottes“

„Die Hand Gottes“: Die Schauspieler Filippo Scotti und Marlon Joubert.

„Die Hand Gottes“: Die Schauspieler Filippo Scotti und Marlon Joubert.

Bei der ersten Szene in Paolo Sorrentinos Film „Die Hand Gottes“ sollte man unbedingt voll konzentriert dabei sein: Der Film beginnt mit einem majestätischen Kameraflug in einem Hubschrauber auf Neapel zu. Die Rotoren rattern gleichmäßig. Unter uns das blaue Wasser des Mittel­meeres, mehrere schnell fahrende Motor­boote peilen die Stadt an. Als wir über sie hinweg­schweben, hören wir den gleichmäßigen Aufprall der Wellen unterm Bug.

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Diese Tonspur ist ein filigranes Wunder­werk, je mehr wir uns der süditalienischen Stadt nähern: Wir hören das betriebsame Summen irgendwo da unten in den Straßen, registrieren für Momente Schulhof­getöse und Stadion­lärm. Und dann, noch bevor er Neapel wirklich erreicht, dreht der Hubschrauber um 180 Grad. Eine grandiose Ruhe breitet sich plötzlich aus, und wir schauen über das Meer zurück auf die Inseln im Golf.

In diesem Augenblick fragt man sich beim Blick auf dem Bildschirm im eigenen Wohnzimmer: Wie würde dieser gewaltige Auftakt wohl auf einer großen Leinwand wirken? Und was für eine Bilder­verschwendung wird hier betrieben?

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Andererseits: Offenbar war es dem neben Nanni Moretti („Liebes Tagebuch“, „Das Zimmer meines Sohnes“) wohl wichtigsten italienischen Regisseur der Gegenwart nicht möglich, die Geschichte seiner Kindheit ins Kino zu bringen. Der spendier­freudige Streaming­dienst Netflix hat diesen erinnerungs­seligen Trip ins Programm genommen, von dem Paolo Sorrentino sagt, es sei sein „intimster und persönlichster“ Film.

Ähnlich verhielt es sich schon mit Alfonso Cuaróns „Roma“. Und auch dessen Rückblick auf seine Kindheit in Mexiko hatte wie „Die Hand Gottes“ Premiere beim Festival in Venedig. Vor drei Jahren wurde noch heftig darüber debattiert, was Streaming­filme bei einem Kino­ereignis zu suchen haben. Spätestens seit der Corona-Pandemie fragt kaum mehr jemand danach. Die Grenzen werden verwischt, Sorrentino gewann den Großen Preis der Jury.

Vom großen Überblick begibt sich Sorrentino ins Getümmel in der Stadt: Er stellt uns ausgiebig seine Groß­familie vor und scheut dabei auch vor surrealen und grotesken Einsprengseln nicht zurück, die an seinen berühmten Vorgänger Federico Fellini erinnern. Aufs ironische Erzählen hat sich Sorrentino immer schon verstanden.

Mittendrin im Geschehen bewegt sich ungelenk der 17-jährige Fabietto (Filippo Scotti), der so alt ist, wie der 1970 geborene Sorrentino damals war. Für Fabietto ist das Leben kaum auszuhalten, so viel Leid und so viel Zukunft liegen darin verborgen. Manches Mal möchte er seinen Locken­kopf raufen und verzweifeln inmitten all der Schönheit und Tragik.

Wie ein Geist schwebt der Fußball­star über dem Film

Allerdings hat es Fabietto auch nicht ganz leicht mit dieser Familie, die durchaus in ein Kuriositäten­kabinett passen würde. Da ist zum Beispiel die ihn betörende Tante Patrizia (Luisa Ranieri), die eines Abends nach Hause kommt und erzählt, sie sei in einem halb verfallenen Schloss dem „kleinen Mönch“ begegnet, der ihr endlich zur Fruchtbarkeit verholfen habe. Oder hat sich Patrizia prostituiert, wie ihr Mann mutmaßt? Was ist nun wirklich geschehen? Keine Ahnung.

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Vater Saverio (Sorrentions Lieblings­darsteller: Toni Servillo), ein kommunistisch veranlagter Bank­direktor, liebt seine zu allerlei Streichen aufgelegte Frau Maria (Teresa Saponangelo) – und betrügt sie trotzdem. Und da ist die Groß­tante, die im Pelzmantel in der Sonne sitzt, Mozzarella­kugeln verschlingt und ohne Unterlass flucht. Überhaupt gibt es hier eine herrliche Picknick­szene, wie sie wohl nur italienische und vielleicht auch noch französische Regisseure hinbekommen.

Die zweite Hauptfigur neben Fabietto macht sich rar – wenn sie doch auftaucht, darf gerätselt werden, ob es sich womöglich um einen zufälligen Doppel­gänger handelt: Diego Maradona ist gerade dabei, zum Fußball­klub SSC Neapel zu wechseln. Die Stadt ist fasziniert. Wie ein Geist schwebt der Fußball­star über dem Film. Glaubt ein Neapolitaner, seiner ansichtig zu werden, erstarrt er in seinen Bewegungen.

Schon in „Ewige Jugend“ (2015) ließ Sorrentino einen stark übergewichtigen Doppel­gänger des Argentiniers in einem überteuerten Sanatorium in den Schweizer Alpen mit einem Fußball tänzeln. Sogar in seiner Oscar­dankesrede 2014 für „La Grande Bellezza – Die große Schönheit“ erwähnte er Maradona in einem Atemzug mit Federico Fellini und Martin Scorsese. Und nun erfahren wir, was ihn mit Maradona verbindet: Der Fußball­gott hat ihm zumindest indirekt das Leben gerettet. Weil der junge Sorrentino ein Auswärts­spiel Neapels besuchte, entging er einer Familien­tragödie.

Maradona allerdings war wenig begeistert, dass der Regisseur sein Zitat von der „Hand Gottes“ verwendete – ausgesprochen nach einem mit der Hand erzielten Treffer bei der Fußball-Welt­meisterschaft 1986. Ende vorigen Jahres ist er gestorben. Hätte er diesen Film noch sehen können, hätte er kaum anders gekonnt, als sich geehrt zu fühlen.

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„Die Hand Gottes“, Regie: Paolo Sorrentino, mit Filippo Scotti, Luisa Ranieri, Toni Servillo, 134 Minuten, FSK 12

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