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Ist in dieser Familie alles super? Comicserie „Jupiter’s Legacy“ startet bei Netflix

Grauhaarige Garde in bunter Garderobe: Lady Liberty/Grace Sampson (Leslie Bibb, von links), The Utopian/Sheldon Sampson (Josh Dushamel) und Brainwave/Walter Sampson (Ben Daniels) sind seit 90 Jahren im Dienst des Guten und der Menschheit. Szene aus „Jupiter’s Legacy“.

Grauhaarige Garde in bunter Garderobe: Lady Liberty/Grace Sampson (Leslie Bibb, von links), The Utopian/Sheldon Sampson (Josh Dushamel) und Brainwave/Walter Sampson (Ben Daniels) sind seit 90 Jahren im Dienst des Guten und der Menschheit. Szene aus „Jupiter’s Legacy“.

Sheldon und Grace Sampson haben endlich mal ein paar Minuten für Sex. Alles im Flow, würde Sheldon nicht mitten im Schönsten die Geräusche eines „andriftenden Kometen“ hören, der mit Ziel Erde gerade am Mars vorbeisaust. Also muss das Tête-à-Tête unterbrochen werden: Immer erst die Welt retten – und das ist wieder einmal Sheldons Job. Denn Sheldon Sampson (Josh Dushamel) ist The Utopian und damit quasi der Superman in der Comicwelt von Mark Millar („Kick-Ass“, „Kingsman“).

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Sexunterbrechungen sind bei Superhelden business as usual

„Bringst du auf dem Rückweg die Sachen aus der Reinigung mit?“, beauftragt Grace (Leslie Bibb) den Gatten noch, bevor der zum Mars flitzt. Koitus interruptus ist das Übliche bei Superhelden, das weiß sie, schließlich ist sie als Lady Liberty selbst Rettungsprofi. Während Sheldon im All die Apokalypse verhindert, hat die Lady irdischere Aufgaben: Streit unter jungen Superhelden schlichten.

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Mit „Jupiter’s Legacy“ kommt – optisch gelungen und mit einem feinen Ensemble – die erste Serie aus der von Netflix erworbenen Millarworld auf den Bildschirm. Es geht um das ewige Versprechen von Familie, das da lautet: Geborgenheit, Verlässlichkeit – ein Kreis des Vertrauens. Superhelden, tagtäglich aufgerieben in ihrem Kampf gegen Schurken und Superschurken, genießen seit jeher das Refugium des Privaten.

Superhelden genossen seit jeher den Schoß der Familie

So fühlte sich Superman zu Hause bei seinen irdischen Zieheltern, den Kents. Spider-Man verehrte seine Tante May. Batman, dessen Eltern ermordet wurden, kompensierte den Verlust durch familiäre Bande in Waynes Manor zu Butler Alfred. Und die X-Men waren einander in Dr. Xaviers Schule Familie.

The Utopian und Lady Liberty sind sogar miteinander verheiratet – und haben Kinder. Chloe (Elena Kampouris), circa 20 Jahre alt, hat ihren Altvorderen den Rücken gekehrt, führt ein rebellisches Leben als Fotomodel mit Zerstreuung und Kokain. Von klein auf hat sie sich die Spider-Man-Losung in Daddys dezenter Abwandlung („Mit großer Macht kommt große Verantwortung“) anhören müssen, wenn beim Spielen mit anderen Kindern wieder einmal die Spezialbefähigungen mit ihr durchgegangen waren. Nie hatten die Eltern Zeit für ein Eis, und bis heute bevormundet der Alte alle um sich herum – auch Chloes Bruder Brandon (Andrew Horton), der als Jungheld Paragon verzweifelt in die Spandexstiefel des Vaters zu schlüpfen versucht.

Generationenkonflikt unter den Spandexträgern

Aber nichts ist dem Alten gut genug. „Der Junge ist viel zu emotional … unkonzentriert. Er ist noch lange nicht bereit … vielleicht ist er das nie“, beschwert sich Sheldon in der Küche gegenüber Grace. Draußen auf dem Rasen kann Brandon das Gemoser hören, denn er hat Vaters Supergehör geerbt. Sein Vertrauter ist Onkel Walter („The Crown“-Star Ben Daniels) – noch so ein Spezialmensch, der im Kostüm Brainwave heißt und nicht nur seinen Gegnern ins Gehirn schlüpfen, sondern auch seinen Gegenübern aufmerksam zuhören kann.

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Als Paragon seinen Vater vor einem außerirdischen Supergegner namens Blackstar (er hat eine Art Antimaterieherz) nur zu retten vermag, indem er den Angreifer umbringt, hängt der Haussegen völlig schief: Die wichtigste Regel des Kodex der „Union of Justice“ wurde verletzt: „Wir töten nicht.“

Die Tage des märchenhaften Comicamerikas sind vorbei

Mit viel Humor und köstlichen Zitaten (etwa des ersten „Superman“/„Action Comics“-Heftchens), zugleich aber mit allem gebotenen Ernst erzählen Millar und Quitely respektive die Serienschöpfer Steven DeKnight und Sang Kyu Kim die spannende Geschichte eines Zeiten- und Paradigmenwechsels. Die großen Tage des märchenhaften, klassischen Comicamerikas sind vorbei. Gut und Böse werden längst nicht mehr scharf voneinander geschieden, wie es in der guten alten Zeit war und wie es im Weltbild des schneeweiß gewandeten Utopian bis heute verankert ist. Es gibt viele Grauschattierungen in der gegenwärtigen Welt, Ehre und Anstand sind auf dem Rückzug, die Bösewichte gehen bis zum Äußersten und das gemeine Volk ist nicht mehr bereit, für jeden verhinderten Bankraub Applaus zu spenden.

Die rund 120 Jahre alte Vätergeneration müsste die „Union“ eigentlich in jüngere Hände geben, aber Chef Brandon besteht auf den alten Moral- und Anstandsregeln, während der Nachwuchs auf der schiefen Bahn unterwegs ist oder den Kodex an die Wirklichkeit anpassen will: Auge um Auge … Der Idealist Utopian (Dushamel ist mit Jesusoptik kaum zu erkennen) reibt sich an einer chaotischen, unübersichtlichen Gegenwart – ähnlich wie es Batman in den Achtzigerjahren in Frank Millers düsterer Graphic Novel „Die Rückkehr des dunklen Ritters“ erging. Und Verrat und Verschwörung erheben auch noch ihre hässlichen Häupter.

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In ausgiebigen Flashbacks wird parallel erzählt, wie es zur Gründung der „Union“ kam und auf welche Weise die Gruppe von Menschen ihre Supermission erhielt. Wie das Stahlimperium der Fabrikantenfamilie Sampson durch die Weltwirtschaftskrise 1929 ruiniert wurde („Die Wall Street schmilzt!“), und fiebrige Visionen den Firmenerben Sheldon dazu bringen, ein Expeditionsteam zusammenzustellen, um eine geheimnisvolle Insel zu erreichen. Der originale „King Kong“ von 1933 ist Mark Millars Lieblingsfilm und prägte schon die Comicvorlage. Und so erinnert auch die Inszenierung der Rückblenden in vielem an Merian C. Coopers und Ernest B. Schoedsacks Monsterfilmklassiker. Nur, dass auf der Insel kein Riesengorilla wartet, dafür etwas nicht minder Erschreckendes.

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Und so driftet die Geschichte von „Jupiter’s Legacy“, die auch eine Geschichte der Sprachlosigkeit ist, allmählich in Richtung Tragödie. Zwar sind „Hamlet“-Dimensionen am Ende der ersten Staffel noch nicht erreicht, aber es deutet sich an, dass ein Idyll aus Loyalität wie in der anderen Superfamilie, der Parrs aus Pixars Animationfilm „Die Unglaublichen“, nicht verwirklicht werden wird. Das ewige Versprechen von Familie lautet Geborgenheit, Verlässlichkeit, ein Kreis des Vertrauens. Aber es ist oft genug ein trügerisches Versprechen. Das hätte Sheldon Sampson schon in jungen Jahren erfahren können.

„Jupiter’s Legacy“, erste Staffel bei Netflix, von Steven DeKnight, Sang Kyu Kim, mit Josh Dushamel, Leslie Gibb, (streambar ab 7. Mai)

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