Hinter den sieben Bergen: Ron Howards „Hillbilly-Elegie“ bei Netflix
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Familie ist alles in Middletown, Ohio: J. D. (Gabriel Basso) will seiner heroinsüchtigen Mutter Bev (Amy Adams) helfen.
© Quelle: Netflix
Wie konnten Sie ihm auf den Leim gehen? Wie konnten sie Trump nur wählen? Ganz einfach: Weil „America First“ und „Make America Great Again“ so verführerisch klangen, damals 2016. Den amerikanischen Arbeitern im amerikanischen Abseits schien es, als habe sich ihr Land viel zu lange darum gekümmert, jeden anderen Flecken der Erde „groß“ oder „großartig“ zu machen, viel zu viele Ressourcen und Menschenleben in ferne Konflikte und Kriege gesteckt. Und nun war da dieser Mann, der ihre Sprache sprach, ihr Anliegen verstand, ihre Not lindern wollte.
So ein bisschen Pussygrapschen ist halt bei handfesten Männern nicht zu verhindern und heute so morgen so ist doch fast jeder Kerl. Der Multimillionär und Despot Trump war aber keiner der Ihren. Sie hatten sich diesbezüglich geirrt, diejenigen, die schon vor langer Zeit aus dem amerikanischen Traum geweckt worden waren. Und hätten ihm zuletzt beinahe eine zweite Amtsperiode verschafft, zu Lasten ihrer Gesundheit zu Lasten des ganzen Planeten. Was aber juckt uns der Planet, wenn es Kentucky nicht gut geht.
Der Name Trump fällt in Ron Howards Filmdrama „Hillbilly-Elegie“, das ab 24. November bei Netflix streambar ist, kein einziges Mal. Aber die Buchvorlage, in der der Autor James David Vance seine Kindheit und seinen Weg zum Yale-Studium und Kapitalmanager erzählt, gilt heute als Erklärbuch für die Trumpsche Wählerschaft. Wenn Mamaw (J. D.s Großmutter) und Papaw (der Opa), als junges Paar von Kentucky kommend, in Middletown Ohio einfahren, rauchen die Schornsteine der „American Rolling Mill Company“ Tag und Nacht, erreichen die Frischverheirateten dampfende, hämmernde, blühende Landschaften. Das Versprechen des Wohlstands aber hält nicht ewig. Als J. D. ein Kind ist, anno 1997, mögen sich Mamaw und Papaw noch, leben aber lange schon getrennt, und die stolzen Stahlschmieden haben sich in das verwandelt, was man den „Rostgürtel“ nennt.
Die Armut zeigt sich in verfallenen Häusern, billigen Autos und überwucherten Grundstücken. Die Leute in Ohio, wo J. D. lebt und im benachbarten Kentucky, wo er die Ferien verbringt, sind grob, man schätzt die „Leck mich“- und „Verpiss dich“-Sprache, ein derbes Gezoffe und blutige Nasen. J. D. (Owen Asztalos) passt da nicht rein, ein dicklicher, sanfter Junge, ein Träumer, der eine verletzte Schildkröte von der Straße rettet und glücklich mit geschlossenen Augen im See treibt.
Glenn Close hat den „rust belt“ in ihrer Kehle
Kommt ihm aber wer dumm, diesem Träumer, dann steht die ganze Familie bereit, ihn zu verteidigen. Und Mamaw (Glenn Close) ist richtig gut in Gegenwehr: Sie hat Augen, die vergiften können und wenn sie zetert, klingt es, als sei der „rust belt“ etwas in ihrer Kehle. Sie mag alt sein, aber sie hat einen harten Punch, mit dem sie auch übermütige Teenager zu Boden schickt.
Close spielt das (weibliche) Familienoberhaupt, und es ist eine ihrer großen Rollen. Ihre Mamaw weiß, dass Familie das Wichtigste ist, und weil Papaw eine Zeitlang dachte, ein gepflegter Rausch, mit dem man die Not ausblenden kann, sei in Wahrheit das Wichtigste, hat sie ihn hinausgeworfen, nicht ohne ihm vorher, als er wieder einmal im Suff das Sofa vollgepinkelt hatte, den Hosenboden mit Spiritus anzuzünden. Howard und sein Ensemble führen in die Ausläufer der Appalachen, wo die echten Hillbillys leben, nicht die Witzfiguren, die die Eliten des Landes aus ihnen machten.
Hier ist eine Welt mit kaputter Infrastruktur, mit kaputten Fabriken, von null Investitionen. Man spürt, wie diese urwüchsigen Menschen die Großkopferten der Städte für dem entbehrungsreichen Leben entfremdete Philister halten. In „Hillbilly-Elegie“ bekommt man eine Nahaufnahme der heutigen amerikanischen Spaltung, ohne dass sofort fanatischer Patriotismus, evangelikale Besessenheit und Rassismus die hässlichen Häupter erhöben. Die Iroschotten dieser Landstriche zeigen – jedenfalls bei Vance und Howard – eine eher sachte Zuwendung zum Vaterland, halten immer ein Gebetbuch Abstand zwischen sich und den Kanzeln und stellen auch keine Feuerkreuze in die Vorgärten von Schwarzen.
J. D, und die Sogkraft der Familie
Zwei Erzählzeiten hat der Film: J. D. – als Erwachsener spielt ihn Gabriel Basso („Super 8“) – hat es über den Kriegsdienst im Irak nach Yale geschafft. Die filmische Gegenwart zeigt ihn als Studenten vor einem wichtigen Dinner, bei dem ein Bewerbungsgespräch rausspringen soll. In Panik ruft der in Tafeletikette Unbewanderte seine Verlobte Usha (Freida Pinto) an, die lacht, wenn er „Sirrup“ statt „Sirup“ sagt, und die ihm die vielen Gabeln und Weine am Tisch erklärt.
Noch bevor der erste Gang aufgetragen wird, erreicht J. D. ein Anruf seiner Schwester Lindsay (Haley Bennett). Seine Mutter Bev (Amy Adams) sei eingeliefert worden – mit einer Überdosis Heroin. Als ein möglicher Arbeitgeber bei Tisch dann über die „Rednecks“ seiner Heimat frozzeln zu können glaubt, weist ihn J. D. zurecht: „Dieses Wort verwenden wir nicht“, sagt er, den ersehnten Job riskierend.
Dann bricht er auf in seine alte Welt, um zu helfen, weil Familie eben das Wichtigste ist, und um sich auf dieser Reise in Rückblenden zu erinnern, wie das mit seinen Lieben so war. Neue Stiefväter, neues Unglück, Fluchten, Rückkehren, Verletzungen, Umarmungen. Kartenspielen mit Oma, während im Fernsehen ihr Lieblingsfilm „Terminator 2“ läuft. „Du bist ein guter Terminator“, sagt das Kind J. D. zu ihr. „Musste ich erst lernen“, antwortet Mamaw, die schottische Kriegerin.
Mit dem Mut zur Hässlichkeit
Ein eindrucksvolles Ensemble spielt mit dem Mut zur Hässlichkeit. Haley Bennett war noch vor kurzem die Schöne aus Tate Taylors „Girl on The Train“ und Amy Adams war doch eben noch die Prinzenbraut Giselle aus Disneys „Verwünscht“, oder? Hier sind sie früh verbrauchte Frauen, die in verwaschenen Kleidern mit fransigen Frisuren unter Grobianen und Taugenichtsen kämpfen und bestehen müssen.
Adams' Bev war die zweitbeste ihres Jahrgangs, aber sie hat es nie über die Dunkelheit am Rande der Stadt geschafft. In ihrem unglücklichen Lächeln kann man immer wieder die müde gewordenen Träume von früher sehen. Auch Lindsay ist geblieben, Mutter von Kindern geworden in dem Ort, den J. D. so beschreibt: „Bei uns in Middletown war es immer so, als würde irgendwas fehlen. Die Hoffnung vielleicht.“ Der Anstand freilich kommt auch unter den rauen Schalen mit ihren rauen Kernen immer wieder durch. Beim Beerdigungskorso für Papaw bleiben wildfremde Menschen stehen und ziehen den Hut. Die Larve zählt hier nichts, das Herz alles. Auch wenn das, was hier auf der Zunge getragen wird, selten an ein Herz erinnert.
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Ein weiteres Mal sieht man hier großes Kino, das im Streaming gestrandet ist. Die französische Kamerafrau Maryse Alberti dringt mit ihren Close-ups tief in die Figuren ein, die Komponisten David Fleming und Hans Zimmer schaffen mit schwebenden Streicherflächen, in die hinein Pianotöne tropfen, eine feine Melancholie, ohne dabei je Mitleid zu heischen.
Das Ende gerät zu pathetisch – schade!
Diese Fremden sind uns am Ende nahegekommen, ihr Trump-Versehen können wir nachvollziehen. Am Ende freilich gießt Howard dann zu viel „Sirrup“ in J. D.s Geschichte. So dass man den Film sowohl als Verteidigungsrede der Unterschicht durch den einen, der es geschafft hat, die Wolke neun der oberen Million zu erreichen sehen kann als auch eine (leise) Kritik an den sozial Zurückgebliebenen, sie könnten es ja J. D. gleichtun. Der amerikanische Traum aber, der für alle Wirklichkeit werden kann, ist nur ein Bluff.
„Hillbilly-Elegie“, bei Netflix, 116 Minuten, Regie: Ron Howard, mit Glenn Close, Gabriel Basso, Amy Adams, Haley Bennett, Owen Asztalos (streambar ab 24. November)