Ein Dichter als Detektiv

Gruselkönig auf Mörderjagd – „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ bei Netflix

Gemeinsam auf Mörderjagd: Der gefallene New Yorker Cop Augustus Landor (Christian Bale, l.) und sein Helfer, der Westpoint-Kadett Edgar Allan Poe (Harry Melling), im Netflix-Historienthriller „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“.

Gemeinsam auf Mörderjagd: Der gefallene New Yorker Cop Augustus Landor (Christian Bale, l.) und sein Helfer, der Westpoint-Kadett Edgar Allan Poe (Harry Melling), im Netflix-Historienthriller „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“.

Die Sache ist so entsetzlich, dass sie eigentlich unaussprechlich ist. Ein Kadett wurde tot aufgefunden – erhängt in einer eiskalten Winternacht des Jahres 1830 am Ufer eines Sees, so dass die Zehen eben noch den rettenden Boden berührten, der Tod aber dennoch unausweichlich war. Noch in derselben Nacht wurde dem aufgebahrten Soldaten das Herz aus dem Leib geschnitten.

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Der Kadett Leroy Fry hat sich nicht selbst umgebracht

Allein der Selbstmord wäre ein gefundenes Fressen für „mächtige Senatoren“ in Washington, West Point schließen zu lassen, so fürchtet Colonel Thayer (Timothy Spall), von der Leichenschändung zu schweigen. Ein diskreter Ermittler muss rasch Licht ins Dunkel bringen. Dessen erste Erkenntnis dient indes kaum zur Beruhigung von Thayer und Captain Hitchcock (Simon McBurney). Der Kadett Leroy Fry wurde von fremder Hand aufgeknüpft.

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Augustus Landor hat es nicht leicht im Milieu der blauen Uniformen. Die Blicke der jungen Offiziersanwärter sind ängstlich, wenn sie erzählen, was sie wissen, gesehen oder gehört haben wollen: Geräusche am See, als würde ein Tier sterben, einen Offizier in zerschlissener Uniform am Leichenschauraum, dessen Gesicht nicht zu erkennen war. Solche seltsamen Dinge.

Die oberen Chargen in Westpoint – Vorsicht, hier wird gespoilert – sind ergebnisorientiert und zählen die Minuten bis zur Auflösung. Dass Landor, ein legendärer ehemaliger New Yorker Cop, den Täter nicht aus seinem Zylinder zaubert wie ein Varietétrickser das Kaninchen, macht die Meister des Prinzips „Befehl und Gehorsam“ unwirsch. Scott Cooper, Regisseur des Countrymusikdramas „Crazy Heart“ (2009) und des Westerns „Feinde“ (2017) hat sich für Netflix Louis Bayards Roman „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ angenommen. Und einen Winterfilm daraus gemacht – in dem die Landschaft die Seelen der Protagonisten spiegelt.

Christian Bale steht im Schatten von Harry Melling

Landor ist Witwer, seine Tochter ist aus seinem Leben verschwunden, das verrät er dem Kadetten Edgar Allan Poe, der ihm seinerseits gesteht, von beinahe allen Kameraden vorzugsweise verspottet zu werden. Poe, der große amerikanische Schriftsteller des Unheimlichen, wollte – das zumindest ist historisch belegt – eine zeitlang Offizier werden, um ein Auskommen zu finden. Ein Waisenjunge, der von seinem wohlhabenden Ziehvater nicht geliebt wurde, keine Aussicht auf dessen Millionenvermögen hatte, später als Dichter und scharfzüngiger Literaturkritiker bekannt wurde und bis heute als Fürst der Schauerromantik verehrt wird. Christian Bale ist Landor, ein scharfsinniger Deduktionist mit einem Hang zum Humpen Bier zuviel. Er steht diesmal ein Stückweit im Schatten von Harry Melling, der seinem Poe eine schräge Dringlichkeit verleiht. Jemand dem die Zeit davon läuft, seinen Platz in der Welt zu finden und der sich unbedingt beweisen will.

Mellings bislang bekannteste Rolle war der karikaturhafte Dudley Dursley, Harry Potters dicklicher, dümmlicher Cousin, der von seinen vernarrten, nicht minder tumben Eltern verhätschelt wurde, während der spätere Lord-Voldemort-Duellant Harry Potter bei den Dursleys ein Aschenputtel-Dasein führte. Nun ist Melling in der Potter-Rolle, allerdings in einem Historienthriller für ein erwachsenes Publikum.

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Poe: „Ich bin Künstler - jemand ohne Land“

„Der Mann, nach dem Sie suchen, ist ein Poet“, dieser Satz, gefolgt von Diener und Abgang, ist Poes Entree bei Landor. „Das Herz“, so verweist er auf das Fry entrissene Organ, „ist ein Symbol oder gar nichts“. Poe sieht sich selbst als Poet. „Sie sind ein Amerikaner“, sagt er zu Landor, der behauptet, keine Gedichte zu lesen. „Ich bin Künstler – jemand ohne Land.“

Landor ist fasziniert von Poes Wesen, eigentümlicherweise auch von dessen Liebe zu seiner toten Mutter (warum, wird sich später herausstellen), vor allem aber von seinen kriminalistischen Schlussfolgerungen, Poe wird sein Adlatus, sein Dr. Watson. Und Melling spielt den schmallippigen bleichen jungen Mann mit der nosferatuhaften scharfen Nase, den engstehenden verschatteten Augen und der Haltung eines Schüchternen, der dennoch vollends von seinem Genie überzeugt ist, superb.

Duvall, Gainsbourg, Anderson - Große Namen in Nebenrollen

Mit Toby Jones als Daniel Marquis, Arzt und Pathologe von West Point, Gillian Anderson als dessen überreizter Gattin Julia, Charlotte Gainsbourg als handfester Spelunkenwirtin Patsy und Robert Duvall als greisem Okkultisten weist der Film auch in Nebenrollen große Namen auf.

Und Lucy Boynton ist als blonde, melancholische und fallsüchtige Lea Marquis ein perfekter „love interest“ für den morbiden Dichter Poe. Wenn der ihr die ersten Zeilen eines Traumgedichts widmet, dessen Protagonist um eine Tote namens Lenore trauert, seufzen Poe-Fans schwer. Am Ende wird daraus Edgar Allan Poes berühmtestes Gedicht werden, in dem ein sprechender Rabe dem hoffnungslos in der Vergangenheit verstricken Helden die Unwiederbringlichkeit mit einem sehr grausamen Wort klar macht: „Nimmermehr!“

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Raben schreien hier alle naslang in der Kälte. Scott Cooper erschafft eine lebensfeindliche Welt. Von Anfang an reibt sich der Zuschauer die Schulter, fröstelt es ihn angesichts der nackten schwarzen Bäume, zwischen denen die Luft stets zu einem Schneenebel zu gefrieren scheint.

Es ist, als hätte Kameramann Masanobu Takayanagi, der bereits mehrere Werke Scott Coopers illustrierte, Zugang zu Edgar Allan Poes Kopf bekommen. Diese Welt ist nicht gastlich – weder zu Landor noch zu Poe, die mit ihren Dämonen zu kämpfen haben und bald auch mit einem weiteren Mord, der die Führung von West Point panisch mit den Säbeln rasseln lässt.

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Der Weg scheint das Ziel zu sein in diesem Yesterkrimi. Die Lösung ist dann eher konventionell, beinahe erscheint sie enttäuschend. Doch – gemach – wenn alles aufgeklärt scheint, und die Epaulettenträger sich bei Landor für ihre Zweifel und manches barsche Wort entschuldigt haben, ist es noch eine halbe Stunde bis zum Abspann. So viel sei verraten: Das zweite Finale ist das bei weitem Interessantere. Ein Abgrund öffnet sich in diesem Film.

Melling ist gut als Poe - und empfiehlt sich für Serienmacher

Der letztlich auch eine Goldgrube für Serienmacher ist. Sie wären gut beraten, den famosen Melling anzuwerben für weitere Mörderjagden. Schließlich war Edgar Allan Poe nicht nur der Vater der modernen Gruselgeschichte, sondern auch der des Krimis. Poes Ermittler Dupin wurde die Blaupause für Arthur Conan Doyles erst Jahrzehnte später auf den Plan getretenen Sherlock Holmes.

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Und wenn ein Abraham Lincoln in Hollywood zum Vampirjäger werden kann, was spricht dann gegen ein paar Staffeln von „Edgar Allen Poe - Privatdetektiv“.

„Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“, Film, 130 Minuten, Regie: Scott Cooper, mit Christian Bale, Harry Melling, Lucy Boynton, Toby Jones, Gillian Anderson, Charlotte Gainsbourg, Simon McBurney, Timothy Spall, Robert Duvall (ab 6. Januar bei Netflix)

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