Auf Tiktok werden Obdachlose für Klicks veräppelt
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Das Logo der App Tiktok.
© Quelle: Jens Kalaene/zb/dpa
Bielefeld/Hannover. Der U-Bahnhof in der ostwestfälischen Stadt Bielefeld wird von Einheimischen nur die “Tüte” genannt. Grund ist seine trichterförmige Bauform. Tagtäglich fahren Hunderte Pendler die lange Rolltreppe hinunter, um vom Hauptbahnhof aus in die Innenstadt oder Bielefelds Stadtteile zu gelangen.
Aber: Es gibt auch Parallelen zu einer anderen Tüte, also dem Joint. Denn der Ort zwischen dem Hauptbahnhof und der Stadthalle wird seit mindestens 15 Jahren auch von der örtlichen Drogen- und Trinkerszene genutzt. Hier treffen sich, teilweise bis tief in die Nacht, große Gruppen von Obdachlosen. Alle Pläne der Stadt, die Drogenkriminalität an der “Tüte” einzudämmen, schlugen bislang fehl.
Das Phänomen der Tüte war lange Zeit nur Einheimischen bekannt – bis vor etwa einer Woche. Seitdem verteilen sich auf der Plattform Tiktok mehrere Videos aus der Gegend.
Junge verletzt Frau am Rücken
Gedreht werden sie von zwei jungen Männern: Sie provozieren die Obdachlosen an der “Tüte” so lange, bis mindestens einer von ihnen wütend wird – ein gefundenes Fressen für die Kamera. Dafür fassen die Jungs die Betroffenen an oder vergreifen sich an ihrem Hab und Gut. Dann fahren die jungen Männer weg und lachen die Gruppe aus. Eines dieser Videos hat inzwischen fast 350.000 Aufrufe.
In einem anderen Video sind zwei Frauen zu sehen, daneben einer der beiden Jungs auf einem E-Scooter – der andere filmt. Aus dem Kontext des Videos wird klar, dass der Junge die Frau von Hinten angefasst oder verletzt hat. “Du hast meinen Rücken gerade …”, beschwert sie sich. Der junge Mann hinter der Kamera lacht nur. Die Frau droht, die Polizei zu verständigen.
Ungefähr so sehen auch die anderen Videos des Kanals aus. In einem Video tänzelt der Junge um einen stark betrunkenen Mann herum, in einer anderen Szene versucht eine Gruppe Obdachloser die Jungs zur Rede zu stellen, während diese lachend weglaufen. In allen Fällen werden die Betroffenen in Nahaufnahme gefilmt, ihre Gesichter sind meist deutlich zu erkennen.
“Obdachlose ärgern” wird zum Trend
In den Kommentaren werden die “Pranks” der Tiktoker gefeiert: “Ärgern die Lausbuben wieder die Crackheads”, kommentiert einer und postet ein Tränen lachendes Emoji. “Ey, du bist eine Legende”, kommentiert ein anderer. Kritische Stimmen werden hier nur selten laut.
Lacher und Likes auf Kosten der Ärmsten der Armen. Ein Einzelfall? Mitnichten. Das Phänomen “Obdachlose ärgern” scheint sich zu einem kleinen, aber beunruhigenden Trend auf Tiktok zu entwickeln. Immer wieder stößt man auf der Plattform auf Videos, in denen Obdachlose gefilmt oder verarscht, manchmal aber auch einfach ungefragt zum Star gemacht werden. Accounts mit derartigen Inhalten sammeln Hunderttausende Likes und unzählige begeisterte Kommentare.
In Berlin beispielsweise hat ein Mann inzwischen sogar seinen eigenen Tiktok-Account – wahrscheinlich ohne es zu wissen. Der Mann mit dem Namen Frank sitzt tagtäglich mit Bier und Zigarette vor seinem Lieblingskiosk und wird dort immer wieder von einem Tiktok-Nutzer erschreckt. Die Videos laufen immer gleich ab: Der junge Mann schleicht sich von hinten an Frank heran, tritt dann hervor und brüllt dem Mann in voller Lautstärke das Wort “Frank” ins Ohr. Bis zu 700.000 Aufrufe haben die Videos. Nutzer in den Kommentaren feiern den Mann als “Original”.
Sonderlich lustig scheint Frank selbst das allerdings nicht zu finden: In einem Video ist zu sehen, wie er versucht, nach dem Filmenden zu schlagen oder zu treten. In einem anderen fordert er den Filmenden ausdrücklich auf, die Kamera auszumachen. Den Tiktoker hält das nicht davon ab, Frank weiter zu filmen und zu veräppeln: In einem aktuellen Video filmt er eine stark übergewichtige Frau, offenbar ebenfalls obdachlos. Er schlägt Frank vor, ihn mit ihr zu verkuppeln.
Gute Taten für Likes
Auch in Wien gibt es einen Account, der solche Inhalte veröffentlicht. Ein unbekannter Tiktoker filmt vermeintlich “lustige” Menschen im Stadtbild, die vermeintlich “lustige” Dinge tun. Darunter: schlafende Betrunkene, offensichtlich psychisch Kranke, Drogensüchtige in der Bahn, aber auch immer wieder offensichtlich obdachlose Menschen. Eines der Videos hat 2,4 Millionen Aufrufe.
Ein Account aus Krefeld hat ein etwas anderes Konzept. Er zeigt in regelmäßigen Abständen Obdachlose vor einem Kiosk. Mit dabei ist auch ein Mann, der offenbar psychisch krank ist und völlig unverständlich redet. Ihn feiern die Nutzer in den Kommentaren am meisten. Die Videos laufen immer gleich ab: Der Filmende “füttert” die Obdachlosen mit Lebensmitteln oder Getränken aus dem Kiosk heraus, daraufhin brabbelt der Mann irgendetwas vermeintlich “Lustiges”. Den Bettlern filmt der Tiktok-Nutzer dabei stets voll ins Gesicht, verkauft seine Geste als gute Tat.
Auch andere deutsche Accounts mit diesem Konzept gibt es: Hier werden Obdachlose mit Chips oder Kaffee oder Geld beschenkt, die teilweise rührenden Reaktionen in Nahaufnahme gefilmt – ohne, dass die Betroffenen wissen, was gerade mit ihnen passiert. In den Kommentarspalten werden die Tiktoker als Helden gefeiert, für ihre guten Taten gelobt. Dass man hier gerade die Schlusslichter der Gesellschaft für die eigenen Klicks und Likes missbraucht, wird offenbar gar nicht mitgedacht.
Immer wieder Kritik an Tiktok
Dass Tiktok-Videos wie diese so erfolgreich sind, ist nicht verwunderlich: Auf der noch jungen Plattform ist es möglich, mit relativ wenig Aufwand viral zu gehen – die Videos müssen nur schrill genug sein. Immer wieder steht das soziale Netzwerk aus China deshalb aber auch in der Kritik.
Zuletzt ging ein Fall durch die Medien, der von Tierschützern und Landwirten stark kritisiert wurde. Anlässlich der “Kulikitaka-Challenge” filmten sich unzählige Nutzer dabei, wie sie auf Weiden Kühe erschreckten. Unter anderem der Rheinische Landwirtschaftsverband (RLV) warnte, dass dies für die Tiere großen Stress bedeute und auch Fehlgeburten auslösen könne.
Fragwürdige Tiervideos gibt es auf der Plattform aber noch andere. Ein Trend ist beispielsweise, seine Katzen zu erschrecken …
… oder ihnen mit voller Wucht eine Wurst ins Gesicht zu werfen:
Was sagt Tiktok zu den Vorfällen?
Immerhin: Einige dieser umstrittenen Tiervideos hat Tiktok inzwischen aus dem Verkehr gezogen. Am Montag veröffentlichte die Pressestelle des Unternehmens ein Statement: “Wie unsere Community-Richtlinien deutlich machen, dulden wir keine Inhalte, die unnötig schockierend und grausam sind, sowohl gegenüber Menschen als auch Tieren.” Die Videos der “Kulikitaka-Challenge” seien inzwischen von der Plattform entfernt worden.
Und wie sieht es mit den ungefragt gefilmten Obdachlosen aus? Grundsätzlich tue man alles, um zu verhindern, dass “gefährlicher und schädlicher Content” auf die Plattform gelange, sagt eine Tiktok-Sprecherin gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Man wolle schließlich “Kreativität und Freude” fördern.
Ein Moderatorenteam bewerte daher Inhalte, Nutzer können fragwürdige Posts melden, aber auch künstliche Intelligenz komme zum Einsatz, um respektlose Posts zu filtern. Gegen Mobbing und Diskriminierung gehe man auch präventiv vor – etwa mit Aufklärungskampagnen durch bekannte Tiktoker.
Account von “Frank” wird gelöscht
Und tatsächlich: Kurz nach der RND-Anfrage löscht die Plattform den Account von “Frank” – dem Obdachlosen, der jeden Tag vor seinem Stammkiosk erschreckt wird. Das ist im Vergleich zu den Meldeprozessen bei anderen Plattformen ziemlich schnell. Die anderen Videos würden derzeit geprüft, teilt die Sprecherin auf Anfrage mit.
Die Männer und Frauen der Bielefelder Trinkerszene sind derweil noch immer auf der Plattform zu finden – ob sie wollen oder nicht.
Und nicht nur das: Die beiden Tiktok-Jungs haben inzwischen ein neues Video hochgeladen. Darin verfolgen sie einen Obdachlosen im Park. Als dieser mit dem Fahrrad wegfahren will, stellen Sie sich ihm in den Weg, lassen nicht von ihm ab. 4000 Klicks hat der Clip innerhalb nur weniger Stunden. Und die Fans im Kommentarbereich? Die klatschen begeistert Beifall.
Update 1: Tiktok hat inzwischen weitere Kanäle gesperrt, auch den der Bielefelder Teenager. Sie veröffentlichen jedoch noch immer Videos, diesmal auf einem anderen Kanal sowie auf Youtube und Instagram.
Update 2: Anders als zunächst im Text angegeben, ist die Frau aus einem der Bielefelder Videos nicht obdachlos. Nach RND-Informationen waren die Teenager der Frau mit einem E-Scooter in den Rücken gefahren. Sie erstattete daraufhin Anzeige bei der Polizei.