60 Bände voller Unsinn: Adolf Hitlers Blähbauch und Eva Brauns Nachlässigkeit
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/ECL5XCLPNFIAZDYOVAKWJV5SBY.jpg)
„Stern“-Reporter Gerd Heidemann präsentiert auf der Pressekonferenz des Hamburger Magazins die vermeintlichen Dokumente im April 1983.
© Quelle: Chris Pohlert/dpa
Berlin. Der 25. April 1983 ging in die deutsche Mediengeschichte als Datum eines der größten Presseskandale ein. Das Magazin „Stern“ teilte vor Journalisten mit, Adolf Hitlers Tagebücher gefunden zu haben und sie veröffentlichen zu wollen. Die Geschichte des Dritten Reiches, kündigte der damalige Chefredakteur Peter Koch an, müsse teilweise umgeschrieben werden.
Dies war natürlich Unsinn. Nicht erst seit heute, fast 40 Jahre später, wissen wir, dass sich nichts an der Sicht auf die Verbrechen der Nationalsozialisten geändert hat und Adolf Hitler auf ewig zu den größten Schlächtern der Menschheitsgeschichte zählt.
BKA entdeckte Fälschung
Der „Stern“ und sein Redakteur Gerd Heidemann waren einem Kunstfälscher und leichtgläubigen „Experten“ für die Geschichte des Nationalsozialismus aufgesessen – sie hielten die „privaten und politischen“ Tagebücher Adolf Hitlers für Originale. Das Bundeskriminalamt bereitete dem Spuk gut eine Woche nach Erscheinen des ersten Textes am 28. April 1983 ein Ende.
Die Kriminologen wiesen die Tagebücher aufgrund des verwendeten Papiers als Fälschungen aus. Bereits einen Tag später erfuhr die Öffentlichkeit den Namen des Fälschers: Konrad Kujau, einschlägig bekannter Kunstfälscher und NS-Devotionalienhändler. Der gestand, die mehr als 60 Bände verfasst zu haben.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/HXF2ZLUHIA67QS64ZNS4AKKITA.jpg)
Der Fälscher der Hitler-Tagebücher, Konrad Kujau, zeigt während eines Prozesses in Hamburg eines der gefälschten Hitler-Tagebücher.
© Quelle: AP Photo/Norbert Foersterling
Es kam zu etlichen Gerichtsverfahren. Wo die vom „Stern“ gezahlten mehr als 9 Millionen Mark geblieben sind, darüber schwiegen sich jedoch sowohl der 2000 verstorbene Kujau sowie Heidemann zeitlebens aus. Nach diesem Skandal, von dem sich das Magazin nie richtig erholen konnte, deponierte der Verlag Gruner & Jahr, der heute zu Bertelsmanns RTL gehört, die Fälschungen in seinem Archiv unter Verschluss – angeblich auch, um weiteren Unfug mit den Fake-Tagebüchern zu verhindern.
„Hitler-Tagebücher“ rekonstruiert
Geplante Überführungen der originalen Fälschungen ins Koblenzer Bundesarchiv scheiterten. Allerdings: Ein Band liegt im Bonner Haus der Geschichte, auch das Hamburger Polizeimuseum besitzt einen. Ein Band ist versteigert worden. Kopien existieren bei Historikern und Anwälten, die zu den Verfahren hinzugezogen worden waren.
Der NDR hat sie in mühsamer Kleinarbeit und mithilfe künstlicher Intelligenz digital zusammengeführt. Seit dem 23. Februar sind insgesamt 60 Bände der Fälschungen auf der NDR-Website abrufbar. Am Tag darauf erschien im März-Verlag ebenfalls ein Buch („Die echten falschen ‚Hitler-Tagebücher‘“), das den Medienskandal dokumentiert.
Die Kopien stammen laut NDR aus verschiedenen Quellen, unter anderem aus dem Nachlass der Journalistin und Holocaust-Forscherin Gitta Sereny, dem Vorlass des Strafverteidigers Kurt Groenewold, der zuletzt Kujau vertreten hatte, und aus dem Kujau-Kabinett, einem Museum für Fälschungen. Die digitale Veröffentlichung wurde von einem wissenschaftlichen Beirat, dem zum Beispiel der Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke und die Historikerin Heike Görtemaker angehörten, begleitet.
Reschke vs. Böhmermann
Der Grund, den Schwindel vollumfänglich zu dokumentieren, sowie der Zeitpunkt der Veröffentlichung bleiben hingegen nebulös. Möglicherweise wollte der Sender der noch frischen ARD-Sendung „Reschke Fernsehen“ mit Moderatorin Anja Reschke, ein unübersehbares Äquivalent zu Jan Böhmermanns ZDF-Magazin „Royal“, ein bisschen mehr Drive verleihen.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/I73QCUKFHRCMJCX6L2FH3LPVLU.jpeg)
Anja Reschke im Studio ihrer Sendung „Reschke Fernsehen“.
© Quelle: Thorsten Jander/NDR / Das Erste/
Denn der Erkenntnisgewinn aus der quälenden Lektüre von Kujaus Machwerk ist auffällig gering. Auf der einen Seite werden darin historische Ereignisse geradezu aufreizend dünn wie aus einem Lexikon zitiert, aufgezählt, dann schwurbelt der Pseudo-Hitler publikumsträchtig über die Nachlässigkeiten von Eva Braun, und gut verteilt tauchen immer wieder Blähbauchattacken und die Schlaflosigkeit des „Führers“ auf. Mensch Hitler sollte das wohl signalisieren. Ach ja, ein Antisemit war er wohl – aber nicht so ein schlimmer. Jedenfalls schrieb der Kujau-Hitler kein Wort über Auschwitz.
Die beteiligten Wissenschaftler betonen den Aspekt der versuchten Geschichtsfälschungen in den Tagebuch-Fakes. „Kujau erfindet hier eine positive Hitler-Figur“, so Görtemaker. Sie kritisiert: „Der fiktive Hitler hat mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen nichts zu tun.“ Funke erklärt, Kujau habe Hitler von den schlimmsten Verbrechen der Nazis freisprechen wollen.
Kujau in Neonazi-Szene verstrickt
Das stimmt alles, doch es war bereits bekannt. Der NDR sieht diese Interpretation durch weitere, bislang unbekannte Zitate in den Texten belegt und Kujau nach Recherchen noch tiefer in die neonazistische Szene seiner Zeit verstrickt als bislang bekannt.
Unerklärt hingegen bleibt, wie der „Stern“ überhaupt auf die hanebüchene Fälschung hereinfallen konnte – oder wollte. Schon nach der ersten Veröffentlichung gingen Publizisten wie „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein davon aus, dass es sich bei den angeblichen Tagebüchern um gefährlichen Quatsch handeln würde – ohne eigene Prüfung.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/CEEPBURHXIAAENNWV37PWSYAVE.jpg)
Vom Braunschweiger Beamten zum Diktator – wie sich Hitler 1933 die Macht greifen konnte
Die Machtübergabe an den gebürtigen Österreicher Adolf Hitler vor 90 Jahren hatte eine längere Vorgeschichte. In ihr spielen Hitlers vergebliche Versuche, Deutscher zu werden, eine Rolle. Bedeutsam waren aber auch die Uneinigkeit der Demokraten, Sehnsüchte in der Industrie und Terrorstrukturen in der NSDAP.
Nun legt der NDR in seinen Offerten nahe, die Geschichte des „Stern“-Skandals müsse neu geschrieben werden. Er fragt sich selbst: „Was genau steht eigentlich in diesen ‚Hitler-Tagebüchern‘? Mit welchen Geschichten sollte die Geschichte umgeschrieben werden? Was war es, das sich anschickte, den Blick auf Hitler und das dunkle Erbe der Deutschen zu verändern?“
Hitler von Nazi-Versprechen freisprechen
In den Antworten heißt es erstaunt – und als wären die gefälschten Tagebücher echt: „Hitler wusste angeblich nichts vom Holocaust.“ Dieser Plot würde sich wie ein brauner Faden durch die gefälschten Tagebücher ziehen, haben die Rechercheure herausgefunden. „Aber wie kam dieser Plot in die Tagebücher?“, fragten sie sich. Wirklich!
Das Ganze ist auch bei wohlwollender Betrachtung überdreht. Dass interessierte Kreise die angeblichen Tagebücher nutzen wollten, um Hitler von den Nazi-Verbrechen freizusprechen, daran bestand auch vor Veröffentlichung des Konvoluts kaum ein Zweifel. Dass Kujau Anker im rechten Milieu hatte, ist ebenfalls nicht neu. Umgeschrieben werden muss hier also nichts.
Dafür, dass der „Stern“ vor 40 Jahren mithilfe gefakter Hitler-Tagebücher absichtlich Geschichtsklitterung betreiben wollte, gibt es jedenfalls auch jetzt keine Beweise. Immerhin lässt der Medienkonzern Bertelsmann nun den Umgang mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern bei Gruner & Jahr untersuchen. Der Auftrag ging an das Institut für Zeitgeschichte in München.
Der falsche Hitler bleibt
Ob dabei mehr herauskommt, als dass die damals Verantwortlichen Sensationslust bedienten, dem Mammon alles unterordneten sowie das Material und seine Herkunft nur laienhaft prüften? Sicher ist: Der falsche Hitler bleibt uns erhalten. Und man fragt sich, wozu eigentlich?