Wie viele Seiten DIN-A4-Papier haben Sie heute weggeworfen? Zum Jubiläum eines deutschen Welterfolgs
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/2O6GTMMA7NFMPMG23FW2DIG4NI.jpeg)
Ein deutscher Klassiker: Ein Blatt DIN-A4-Papier. Das Format ist heute in weiten Teilen der Welt gültig. Entwickelt hat es ein deutscher Ingenieur aus Sachsen.
© Quelle: Andreas Stauber/dpa
Da liegt es auf dem Tisch, nackt und bloß, unschuldig weiß und leer. Im Mittelalter hätte dieses Zettelchen als kostbares Mirakel gegolten, hätte als Medium der Könige nur für allerhöchst-durchlauchtigste Wichtigkeiten Verwendung gefunden. Heute kostet ein Blatt Papier keine drei Cent – und landet täglich millionenfach direkt im Papierkorb, weil irgendjemand mal wieder den ganzen E-Mail-Rattenschwanz mit ausgedruckt hat.
Ein DIN-A4-Papier ist ein seltsamer Werkstoff. Mehr als hundert Trilliarden Bündel aus Zellulosemolekülen ballen sich zu einem flexiblen, aber nicht dehnbaren, einem horizontal stabilen, vertikal aber reißbaren Material aneinander, das die Menschheitsgeschichte verändert und die größten Werke der Kunst erst ermöglicht hat.
Ernest Hemingway beschrieb, von Schreibblockaden gequält, die „Schrecklichkeit“ eines weißen Blattes, auch Georg Büchner klagte über die marternde Bringschuld, die leeres Papier als verstörender Spiegel der seelischen Leere in ihm auslöse: „Mein Leben gähnt mich an, wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus.“ Anne Frank hingegen rühmte die freundliche Langmut der Blätter ihres Tagebuches („Papier hat mehr Geduld als Menschen“).
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/ZSMSNUXZRZE7LGIVT4CO64E3YA.jpg)
Die „Schrecklichkeit“ eines weißen Blattes Papier: Schriftsteller Ernest Hemingway 1956 auf Kuba. Wegen Depressionen und anderer psychischer Leiden, darunter quälende Schreibblockaden, ließ er sich auch mit Elektroschocks behandeln. Mit 61 Jahren nahm er sich das Leben – mit einer Kugel aus seinem eigenen Gewehr.
© Quelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com
Nur wenig fühlt sich für menschliche Hände so schmeichelnd, so sinnlich an wie Papier. Die Haut eines geliebten Menschen gewiss. Glattes, warmes Holz. Ein feiner Zwirn. Der und die Deutsche lieben Papier. „Was man schwarz auf weiß besitzt / Kann man getrost nach Hause tragen“, ließ Goethe einen altklugen Schüler im „Faust“ zu Mephisto sagen (ein Leitmotiv, das bis heute wirkt und die deutsche Digitalisierung massiv ausbremst). 25 Seiten druckt jeder Deutsche im Schnitt pro Tag aus – dreimal mehr als ein Niederländer. 6 Prozent davon landen ungelesen direkt im Altpapier.
Mein Leben gähnt mich an, wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus.
Georg Büchner
Und er und sie lieben Ordnung und Gleichmaß. 100 Jahre ist es her, dass sich diese beiden hiesigen Leidenschaften in einer Norm bündelten, die heute zu den bekanntesten der Welt gehört: DIN A4. Der Weltbestseller unter den Papieren ist 0,1 Millimeter dick, fünf Gramm schwer und 297 mal 210 Millimeter groß. Er definiert Schubladengrößen und Regalhöhen, an ihm richten sich Taschenformate und Büromöbel aus. Die Frage ist nur: Warum? Warum ist ein DIN-A4-Blatt nicht zum Beispiel quadratisch, mit geraden Kantenlängen von „sauberen“ 30 Zentimetern? Und warum halten sich – mit Ausnahme von Kanada und den USA – nahezu alle Staaten der Welt heute an eine Norm, die ein deutscher Ingenieur und Mathematiker namens Walter Porstmann im Jahr 1922 entwickelt hat?
Ein System von verblüffender Logik
Porstmann, geboren 1886 in Geyersdorf in Sachsen, war im Ersten Weltkrieg Meteorologe an der Westfront, später wurde er zum besessenen Normungstheorektiker. Er setzte sich für einheitliche Industrieformate und eine radikale Vereinfachung der Schrift ein – inklusive Abschaffung der Großbuchstaben (sein Vorschlag für die Schreibweise der Zahl 531.087: „„fünfdraiein tausend nulachtsim“). Seine Bücher erregten das Interesse des Chemikers und Nobelpreisträgers Wilhelm Ostwald. Der stand dem 1917 gegründeten Normenausschuss der Deutschen Industrie vor, dem Vorläufer des Deutschen Instituts für Normung (DIN).
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/JWE2ZPJ4BZDTPOJZKBKP5XPJPQ.jpeg)
Das Maß aller Dinge in Schulen und Büros: In einer Druckerei liegen auf einer Papierschneidemaschine DIN-A4-Papierblätter. Auf dem Deckblatt ist die Angabe 29,7 mal 21 Zentimeter aufgedruckt.
© Quelle: Uli Deck/dpa
Ostwald hatte seinerseits an einer universalen Formel für Buchformate gearbeitet – mit dem Ziel, durch eine Vereinheitlichung der Buchgrößen in Bibliotheken Platz zu sparen. Inspiriert war er von den Bestrebungen des Schweizers Karl Bührer, der sich mit seiner Initiative „Die Brücke“ zum Ziel gesetzt hatte, die geistige Arbeit der Welt nach einheitlichen Prinzipien zu organisieren. Ostwalds „Weltformat“ setzte sich aber nicht durch. Porstmann jedoch perfektionierte die Idee. Und schuf ein System von verblüffender Logik.
Auch Porstmann orientierte er sich am metrischen System. Allerdings nicht über die Kantenlänge, sondern über die Fläche. Sein Ausgangswert (DIN A0) entspricht exakt einem Quadratmeter. Und zwar in einem Verhältnis der Breite zur Höhe von 1:1,41 (das entspricht eins zu Wurzel aus zwei). Denn nur mit diesen Proportionen verfügen alle Halbierungen des Blattes ohne Verlust über dasselbe Seitenverhältnis: Einmal A0 gleich zweimal A1 gleich viermal A2 gleich achtmal A3 gleich sechzehnmal A4 – ein Phänomen, das bereits 1786 den Physiker und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg faszinierte. Er pries dieses Seitenverhältnis als „angenehm und vorzüglich“. Auch im Zeitalter der skalierbaren Kopien erweist sich das Prinzip als Segen: Die Proportionen eines Schriftstücks bleiben in jeder Seitengröße gleich.
Über Jahrhunderte herrschte Chaos in der Welt der Papierformate
Bis zu Porstmanns DIN-Norm herrschte über Jahrhunderte globales Chaos in der Welt der Papierformate. Zwar definierte die Stadt Bologna schon im 14. Jahrhundert einen halben Bogen als Folio, einen Viertelbogen als Quart und einen Achtelbogen als Oktav – das Problem: Die Bögen waren immer unterschiedlich groß. Denn jahrhundertelang definierten die Größen der Schöpfrahmen der Papiermacher die Bogengrößen. Ein Wust von historischen Formaten wie Propatria, Bischof, Median, Super Royal, Imperial oder Olifant stiftete auch im deutschen Raum mehr Verwirrung als Klarheit. Papier blieb ohnehin ein Luxusprodukt, aufwendig hergestellt aus Lumpen – auch, als die Zeit kostbarer mönchischer Handschriften auf Pergament und Vellum aus Tierhäuten schon lange vorbei war.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/AFRXGHACYFGKLLULJLPJW46ZS4.jpg)
Die Kunst des Papiermachens: Querschnitt durch eine historische Papiermühle auf einem kolorierten Holzschnitt um 1650.
© Quelle: picture alliance / akg-images
Die Kunst des Papiermachens, im Frühmittelalter über Arabien aus China nach Europa gelangt, gebar eine frühe Recyclingkultur: Lumpensammler belieferten die Papiermühlen – die erste auf deutschem Boden, die „Gleismühl“, eröffnete 1390 nahe Nürnberg. Denn bis tief ins 19. Jahrhundert bestand Papier nicht aus Holz, sondern aus Lumpen aus Leinen, Hanf und Flachs. Doch dann passierte, was wir heute wieder erleben: Das Ausgangsmaterial wurde knapp. Lumpen allein konnten den Bedarf nicht mehr decken. Man experimentierte mit pflanzlichen Rohstoffen wie Moos, Flechten, Hopfen, Weinreben, Disteln, Mais, Brennnesseln, Blaukohlstrunken, Maiglöckchen, Torf, Tannenzapfen oder gar Asbest. Erst 1843 gelang es wiederum einem Sachsen, Gottlob Keller, Papier aus Nadelholzfasern herzustellen – rechtzeitig zur industriellen Revolution, in deren Verlauf der Papierbedarf explodierte.
Die Formatfrage scheint zunächst nur den verhältnismäßig kleinen Kreis der Hersteller und Abnehmer der Druckwerke anzugehen.
Wilhelm Ostwald,
Pionier der Industrienormen, 1911 in seinem Buch „Weltformate“
Umso erstaunlicher, dass sich Porstmanns Proportionen erst so spät durchsetzten. Am 18. August 1922 wurde die „DIN 476 Papierformate“ festgelegt, neben der A-Reihe ergänzt etwa um die etwas größere B-Reihe für Briefumschläge. Als erste Behörde übernahm das Bezirksamt Wunsiedel im Sommer 1922 die Norm, es folgten Ministerien und Unternehmen. 14 Jahre später hatten sich die DIN-Größen durchgesetzt. 1975 beauftragte die Bundesrepublik Deutschland das Deutsche Institut für Normung, die DIN-Norm international zu propagieren – mit Erfolg. Die europäische „DIN EN“ und die internationale „DIN ISO“ machten die hiesigen Maße zum Goldstandard in aller Welt. Seit März 2002 gilt die „DIN EN ISO 216″ auf der Basis der alten DIN 476 auch in Deutschland.
3000 Papiersorten sind heute bekannt. 95 Prozent davon bestehen aus Holzresten. Lumpen werden nur noch in stark beanspruchtem „Hadernpapier“ verwendet (etwa in Banknoten oder Wertpapieren). Vom papierlosen Büro entfernt sich die Welt immer weiter. 1974 betrug der weltweite Papierverbrauch 8,7 Millionen Tonnen, 2018 waren es allein in Deutschland schon mehr als 20 Millionen Tonnen. Der globale Verbrauch liegt inzwischen bei 420 Millionen Tonnen pro Jahr, Tendenz steigend. Jeder Deutsche verbraucht im Jahr rein rechnerisch rund 250 Kilogramm Papier, nur in China, den USA und Japan ist es mehr. Der Rohstoff ist knapp und so teuer wie noch nie, nicht zuletzt wegen des Booms im Versandhandel.
Es ist ein frühes Beispiel dafür, wie sich eine nach dem Konsensprinzip getroffene Entscheidung bewährt hat.
Christoph Winterhalter,
Vorstandsvorsitzender des deutschen Instituts für Normung in Berlin (DIN), zum Jubiläum des Formats DIN A4
Denn Papier lässt sich nicht endlos recyceln – die Zellulosefasern werden immer kürzer. Die Industrie arbeitet an mit Nanopartikeln beschichtetem Papier, das bis zu 80-mal mit ultraviolettem Licht neu „bedruckt“ und immer wieder bei 120 Grad Celsius „gelöscht“ werden kann. Mag die Technik sich auch fortentwickeln – das Format der allermeisten Blätter bleibt dasselbe. DIN A4 ist ein Welterfolg. „Es ist ein frühes Beispiel dafür, wie sich eine nach dem Konsensprinzip getroffene Entscheidung bewährt hat“, freut sich zum Jubiläum der aktuelle DIN-Vorstandsvorsitzende Christoph Winterhalter in Berlin.
„Die Formatfrage scheint zunächst nur den verhältnismäßig kleinen Kreis der Hersteller und Abnehmer der Druckwerke“ anzugehen, schrieb Ostwald 1911 in seinem Buch „Weltformate“. Was für ein zauberhafter, spektakulärer Irrtum.
Laden Sie sich jetzt hier kostenfrei unsere neue RND-App für Android und iOS herunter