Warum die Nacht das Beste am Tag ist

Nachts sind wir nicht dieselben: Im Licht des Mondes ist die Vernunft außerstande, die Fantasie im Zaum zu halten – Fluch und Segen zugleich.

Nachts sind wir nicht dieselben: Im Licht des Mondes ist die Vernunft außerstande, die Fantasie im Zaum zu halten – Fluch und Segen zugleich.

Hannover. Als Winnetou starb, waren wir allein. Er und ich. Nur der Leuchtkegel meiner Taschenlampe durchschnitt die schwarze Nacht. Da lag ich, tieftraurig, in der tröstenden Höhle meiner Bettdecke, als er seine Indianerseele aushauchte, auf Seite 404 von Karl Mays „Winnetou III“. „Nun bricht des Todes Nacht herein ...“, las ich, und im Geiste kniete ich neben ihm. Die Dunkelheit ist wie ein Brennglas, das die Gefühle bündelt und verstärkt. Sie bringt das Beste und das Schlechteste im Menschen hervor. Nur nachts kam ich Winnetou so nah. Nur nachts stand ich beim Lesen neben ihm in der Prärie, schlich mit ihm durch hohes Gras. Der Tag gehört der Tat. Die Nacht gehört den Gedanken.

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Dunkelheit. Es ist ein mystischer, mächtiger Zauberraum, der sich auftut, wenn die Sonne verschwindet, wenn die Tag-Nacht-Grenze mit 1670 Kilometern pro Stunde über uns hinweggerast ist und die Nacht „gelassen an Land steigt“, wie Eduard Mörike schrieb. Wenn die Welt still wird, irgendwann. Dunkelheit. Die finstere Schwester des Tages. „Die Nächte lehren viel, was die Tage niemals wissen“, sagt man in Persien. Die andere Seite des Lebens. Aber zugleich auch: dessen Ursprung, denn alles begann ja in der Lichtlosigkeit des Mutterleibes.

Die Nacht zwingt uns auf uns selbst zurück

Die Nacht ist mehr als der Schatten der Erde. Sie zwingt uns auf uns selbst zurück, denn die sichtbare, fassbare Welt wird unsichtbar. Jetzt regieren die körperlosen Schatten, das Unfassbare. Nachts sind wache Menschen kleine Inseln des Lebens in einem lichtlosen Ozean der Ereignislosigkeit. Dann geht in den Seelen der Vorhang auf. Dann schlägt die Stunde des Kopftheaters. Die Hormone Serotonin und Noradrenalin werden verringert, logisches Denken wird schwerer, wir verhalten uns riskanter und denken existenzieller. Die Vernunft ist außerstande, die Fantasie im Zaum zu halten – Fluch und Segen zugleich. Es ist die Voraussetzung für Kreativität, aber auch Quell für Trübsinn, Grübelei, Schlaflosigkeit. Genie und Wahnsinn sind eng verwandt, auch hier.

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„Du Dunkelheit, aus der ich stamme / ich liebe dich mehr als die Flamme, / welche die Welt begrenzt, / indem sie glänzt“, schrieb Rainer Maria Rilke. Man darf nicht alles glauben, was einem nachts durch den Kopf geht. Aber es sind Wahrheiten darunter, die nur das Universum der Träume hervorbringen kann. Shakespeares Macbeth lobt den „Schlaf, der des Grams verworr’n Gespinst entwirrt“. Der Mensch braucht diese Dualität. Kein Tag ohne Nacht, kein Gutes ohne Böses, kein Sternenlicht ohne die Schwärze des Alls – die in Wahrheit, physikalisch gesehen, gar keine Schwärze ist, sondern bunt. Die Sonne lässt das Korn reifen, der Mond die Muscheln und Seeigel, wussten schon die Römer. Der Tag gehört zur Erde, die Nacht zum Meer.

„Böse Geister hassen den Geruch von Lampen“

Nachts sind wir nicht dieselben. „Denkt man um drei Uhr nachts über etwas nach und um drei Uhr nachmittags wieder, so kommt man zu ganz verschiedenen Schlüssen“, schrieb der Aphoristiker Peter E. Schumacher. Die Nachtstunden machen den Kopf empfänglich für alles, was das Licht des Tages überstrahlt hat. Im Traum vermischen sich Wünsche und Wirklichkeiten. Erst wenn der visuelle Cortex ausgeschaltet ist, der analytische, alles Sichtbare verarbeitende Teil des Gehirns, hat das freie innere Assoziieren eine Chance, der ungesteuerte, „unvernünftige“ Gedankenstrom, der die Voraussetzung ist für Kreativität. Geistesblitze sind ein Werk der Unvernunft. Paul McCartney hat die Melodie von „Yesterday“ einst geträumt. Als er erwachte, war sie fix und fertig – entstanden aus der Tiefe des Unbewussten.

Seit Jahrhunderten assoziieren die Menschen, von der Kirche bekräftigt, mit der Nacht das Böse, das Finstere, das Unberechenbare, eben die dunkle Seite des menschlichen Geistes. Zaghaft priesen sie „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne“, die ihnen die Nacht erhellten. Diese „böse Tageszeit“ sei eine Strafe des Herrn für mangelnden Glauben – „die Mutter der Verzweiflung, die Tochter der Hölle“ – zürnten Gottesmänner. Die Menschen des Mittelalters glaubten an giftige Dämpfe, die sich nachts vom Himmel senkten, an die Nachthexe Lilith, an Kobolde und grausame Geister, die um Mitternacht erschienen. „Böse Geister hassen den Geruch von Lampen“, schrieb Platon. Nachts galt kein Recht, denn Kirchen und Gerichte waren geschlossen. Die rachsüchtige Königin der Nacht in der „Zauberflöte“ trägt Schwarz. Der Teufel, glaubten die Menschen, lauere als Fürst der Finsternis im Dunkel. Erst im Licht der Aufklärung verlor die Hölle ihren Schrecken, Satan wandelte sich zum klugen Zyniker, zur scharf denkenden Respektsperson und zum „Luzifer“, also: Lichtbringer.

Könige und Kaufleute protzten mit Licht

Bis zur industriellen Revolution hieß Nacht wirklich: Dunkelheit. Die Nacht war jene „stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt“. Erst im Barock kam das Wort „Nachtleben“ auf. Könige und Kaufleute protzten mit Licht, um sich vom Pöbel abzugrenzen, der im Dunkel in engen Betten hauste. Ludwig XIV. ließ Versailles mit 24 000 Kerzen erleuchten. Licht war ein Reichtumsmerkmal, eine Kerze ein Luxusgut. Wohlhabende ließen sich heimleuchten durch die dunklen Gassen. Erst 1667 bekam Paris eine Straßenbeleuchtung, Hamburg folgte 1673, Leipzig 1701.

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Der Untertan hielt Nachtaktivität für liederlich; ein Laster von Aristokraten, Lebenskünstlern und Freigeistern. Bis heute gilt frühes Zubettgehen und Aufstehen als sittsam. Und „Eulen“, deren chronobiologischer Leistungshöhepunkt – genetisch programmiert – deutlich später liegt als bei „Lerchen“, werden als faule Langschläfer geziehen. Dabei war es nicht zuletzt die Kirche, die Menschen früh aus den Betten warf, damit sie nicht auf dumme Gedanken kamen (abends waren sie viel zu müde dazu). Der Kult ums frühe Aufstehen regiert bis heute – und zwingt auch Millionen Pubertanten, die entwicklungsphysiologisch fast alle „Eulen“ sind, gegen ihren Chronotyp zu leben. Ihre Körper sitzen frühmorgens in der Schule, aber ihre Hirne befinden sich noch im Tiefschlaf.

„Der Zauber der Dunkelheit ist immer seltener zu spüren“

Die Romantiker waren es dann, die sich zwischenzeitlich wieder des Glücks der Dunkelheit besannen, die – wie Goethes Zeitgenosse Karl Philipp Moritz – die Nacht als „Mutter alles Schönen“ feierten. Novalis schrieb um 1800 seine „Hymnen an die Nacht“, E. T. A. Hoffmann poetisiert die „Nachtseite“ des menschlichen Geistes. Im frühen 20. Jahrhundert dann, mit der Elektrifizierung, begann endgültig die bis heute andauernde Abschaffung der Nacht – gegen das Wohl von Leib und Seele. Kunstlicht-Kathedralen wie der New Yorker Times Square entstanden. Der Zauber der Dunkelheit ist immer seltener zu spüren. Das Licht, das die Erde ausstrahlt, verdoppelt sich alle elf Jahre. Neun Millionen Straßenlaternen erhellen allein Deutschland. In Großstädten ist es heute zehnmal heller als vor 150 Jahren. 44 Prozent der jungen Deutschen haben noch nie die Milchstraße gesehen. Das blaue Licht ihrer Smartphones hält Internetsüchtige wach, weil es dem Gehirn – über das Pigment Melanopsin in der Netzhaut – Tageshelligkeit vorgaukelt. Es wirkt wie Kokain. Firmen wie Apple arbeiten daran, nachts den Blauanteil aus dem Display herauszufiltern. Denn Blau verhindert, dass die Zirbeldrüse des Hirns Melatonin ausschüttet, das Nachthormon, das schläfrig macht.

„Schütz mich vor meinem Denken“

Schlaflosigkeit, das quälerische Gegenstück zu beglückender Nachtaktivität, ist eine der großen Geißeln der Menschheit. Für Millionen ist die Nacht kein Paradies der Imagination, sondern eine Tortur. Das Leid, das müde Eulen am frühen Morgen erleiden, spüren schlaflose Lerchen am späten Abend. Die einen werden nicht wach, die anderen schlafen nicht ein. „Schütz mich vor meinem Denken, meinem forschenden Gewissen, das all seine Kraft für die Dunkelheit sammelt, um dort wie ein Maulwurf zu wühlen“, dichtete John Keats.

Man muss nach Irland reisen, auf die Halbinsel Iveragh, um am wenigsten lichtverschmutzten Nachthimmel Europas etwas zu ahnen von der Unendlichkeit des Universums. Und vom Zauber der Dunkelheit, dem es gelingt, einem elfjährigen Jungen unter der Bettdecke einen imaginierten Indianer zum Freund zu machen.

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Von Imre Grimm

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