Sein oder nicht sein? Die Kultur in der Krise

Existenzangst: Eine Demonstrationsteilnehmerin zeigt in Berlin, was sie von den Einschränkungen im Kulturbereich wegen der Coronakrise hält.

Existenzangst: Eine Demonstrationsteilnehmerin zeigt in Berlin, was sie von den Einschränkungen im Kulturbereich wegen der Coronakrise hält.

Eine in Kulturkreisen immer wieder gern diskutierte Frage lautet: Wie politisch darf oder soll oder muss Kunst sein? Dienen Theaterstücke, Lieder, Filme oder Malerei eher der Zerstreuung und Unterhaltung, der Flucht aus der Wirklichkeit? Oder wollen Künstlerinnen und Künstler mit ihren Werken politisch und gesellschaftlich relevant agieren?

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Die Geschichte politischer Lieder beispielsweise ist lang. Viele sind vergessen, manche haben im kollektiven Gedächtnis überlebt. „Die Gedanken sind frei“, „We Shall Overcome“ oder „Bella ciao“ sind Stücke, die heute noch gesungen werden. Engagierte Liedermacher wie Wolf Biermann, Hannes Wader und Konstantin Wecker haben immer noch ihre Fangemeinden, und die Konzerte von jüngeren Bands wie Ja, Panik! oder Kettcar werden auch gut besucht.

Eigener Bauchnabel und viel Alltag

Doch eine große Zahl erfolgreicher Songs dreht sich heute nicht um gesellschaftliche Fragen oder Politik, sondern um den Alltag, den eigenen Bauchnabel, Nichtigkeiten und natürlich um die Liebe. Jan Böhmermann hat diese weichgespülten deutschen Texte 2017 in seiner Kalender- und Werbespruchhymne „Menschen, Leben, Tanzen, Welt“ persifliert.

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Wir leben in hochpolitischen Zeiten. Die Demokratie sieht sich in einer Krise, Corona, die Nachhaltigkeitsdebatte, der Klimawandel und die Digitalisierung wirbeln unsere Auffassungen von Wirtschaft und Wachstum, von Beschleunigung und Zusammenleben, von Stadt und Land, von Architektur und Daseinsvorsorge, von Technik und Natur und so vieles mehr durcheinander. Ist es da angemessen, von den Gedankenfluchten in die eigene Jugend zu singen, von Vätern, die nicht nach Hause kamen oder von der Sehnsucht in die Ferne? Oder ist es vielleicht sogar notwendig? Ist Eskapismus am Ende sogar auch eine politische Haltung?

Wirtschaft und Fußball werden wichtiger angesehen als Kultur

Und dann kommt in diesen Tagen und Wochen auch noch ganz konkret hinzu, wie die Politik die Kultur nach dem ersten nun auch im zweiten (Teil-)Lockdown behandelt. Im Land Goethes und Schillers, Beethovens und Bachs, im Land Clara Schumanns und Therese Giehses, Käthe Kollwitz' und Rahel Varnhagens muss der Kulturbetrieb nun ganz deutlich erfahren, was er natürlich schon lange ahnen konnte: Er wird nicht nur unwichtiger angesehen als die Wirtschaft, sondern auch als der Fußball.

Die Hilferufe vieler Künstlerinnen und Künstler sind nicht zu überhören. Sie sehen nicht nur ihr Selbstverständnis gefährdet, sondern ihre nackte Existenz. Wo kein Auftritt, keine Ausstellung, keine Lesung und kein Konzert möglich sind, brechen Einnahmen weg, Geld zum Leben. Staatliche Hilfen sind da lobenswert, reichen aber nicht aus.

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Neues Album, neue Auftritte: Helge Schneider.

Protestierte mit einem Brief bei Finanzminister Olaf Scholz: Helge Schneider.

Kunst und Kultur müssten also momentan mehr denn je ein riesiges Eigeninteresse haben, in und mit ihren Werken politisch zu agieren, auf sich aufmerksam zu machen, „Hier“ zu schreien. „Wir müssen uns darum kümmern, dass der Schock des Virus nicht die Leistungen unserer Kultur beschädigt. Gerade in Zeiten der Unsicherheit braucht es Räume und Gelegenheiten zum wilden Denken, zum anarchischen Sekulieren“, schreibt Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda in seinem jüngst erschienenen Buch „Ausnahme / Zustand. Notwendige Debatten nach Corona“ (Hoffmann und Campe, 128 Seiten, 15 Euro). „Auch zum Eskapismus und zur kurzzeitigen Flucht in alternative Welten. Das macht uns als Menschen aus.“

Die Funktion der Zerstreuung, des fliegenden Fluchtteppichs aus dem Alltag sind das eine. Aber Brosda beschreibt auch noch eine andere Seite. „Kunst hat die Aufgabe, Chaos in die Ordnung zu bringen, hat Theodor W. Adorno in seiner ‚Minima Moralia‘ geschrieben. Doch wenn die Welt im Chaos versinkt und wir als Gesellschaft sogar versucht sind, autoritäre Haltelinien zu definieren, kann Kunst eine alternative, eine weiterhin freiheitliche und offene Ordnung anbieten“, schreibt der SPD-Politiker. In seinem Vorgängerbuch „Die Kunst der Demokratie“, das ebenfalls in diesem Jahr bei Hoffmann und Campe erschienen ist (allerdings schon im Frühjahr, vor Ausbruch der Corona-Krise in Deutschland) nennt Brosda die Kultur einen „Motor der Demokratie“.

Engagierte Stimme für die Kultur: Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda.

Engagierte Stimme für die Kultur: Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda.

Dieser Motor ist nun von der Politik mindestens für einen Monat ausgeschaltet worden. Dabei lief er gerade wieder so gut. Dass die Livekultur in Deutschland nun wieder in den Lockdown muss, hat der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko kürzlich passenderweise als Schockdown bezeichnet.

Johannes Oerding bangt um seine Tour

Auch Popstar Johannes Oerding bangt um die Früchte seiner musikalischen Studioarbeit. Der 38-Jährige, der es nach eigener Aussage liebt, auf Tournee zu sein, sieht mit gemischten Gefühlen in die nahe Zukunft. Er hoffe, dass „wir schon im nächsten Sommer wieder die Chance haben, Open-Air-Konzerte zu spielen. Der Sommer in diesem Jahr hat ja gezeigt, dass draußen allerhand möglich war“, sagt Oerding im Gespräch. „Aber ich habe auch Angst, dass meine Indoor-Tour wieder verschoben oder abgesagt werden muss. Das wäre dann schon zum dritten Mal.“

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Dies zeigt, wie sehr für Künstler momentan alles im Vagen und vieles im Argen liegt. Für Künstler wiederholen sich nun die Ereignisse aus dem Frühjahr. Konzerte, Ausstellungen, Filmpremieren, Theaterstücke werden kurzfristig abgesagt. Vorerst nur für den November, aber wie es im Dezember, Januar, Februar weitergeht, weiß heute noch niemand.

Castorf-Stück zum zweiten Mal verschoben

Der Theaterregisseur Frank Castorf etwa muss nun schon zum zweiten Mal die Premiere seiner Inszenierung von Erich Kästners „Fabian“ am Berliner Ensemble verschieben. Eigentlich sollte sie bereits im März auf der Bühne am Schiffbauerdamm zu sehen sein, dann war die Premiere auf den 13. November verschoben worden. Auch Sängerin Anna Depenbusch hat in diesem Jahr Tourtermine schon zweimal verschieben müssen. So etwas zerrt an den Nerven – und Einnahmen bleiben aus.

Wir müssen uns darum kümmern, dass der Schock des Virus nicht die Leistungen unserer Kultur beschädigt.

Carsten Brosda, Hamburgs Kultursenator

Johannes Oerding ging es im Frühjahr genauso. Mitten in seine Tour platzte der erste Lockdown. „Als wir am Anfang direkt von der Tour nach Hause geschickt wurden, die wir ja abbrechen mussten, war das schon sehr hart. Da waren wir alle sehr geknickt und traurig“, sagt Oerding. Er hat dann aber in dieser verlorenen Zeit neuen Elan entwickelt, neue Motivation gefunden. Eigentlich wollte er in diesem Jahr ein Album mit dem Radiophilharmonie-Orchester aufnehmen. Stattdessen hat er nun eine Special Edition seines letztjährigen Nummer-eins-Albums „Konturen“ veröffentlicht – inklusive Akustikversionen und zwei neuen Songs.

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Nachdem Johannes Oerding die erste Zeit im Lockdown als lähmend empfunden hatte, habe dieser Zustand dann aber letztlich doch dazu geführt, „dass Gedanken kamen, die ich aufschreiben konnte“, erzählt er. So ist zum Beispiel der Song „Ketten“ entstanden, ein eindeutig von Corona inspirierter Song.

In einigen von Oerdings Stücken auf „Konturen“ verbergen sich hinter der lockeren Popmusik ernste Zeilen. In „Anfassen“ beschäftigt sich der Popstar mit dem digitalen Zeitalter und unserem Leben im und mit dem Internet. „Wir wissen alles überall / Doch viel zu wenig über uns / Und dieses Bisschen wird dann noch geteilt. / Was einmal echt war, ist jetzt kalt / Heute künstlich, früher Kunst / Wer Grenzen nicht bemerkt, geht oft zu weit.“ Auch singt er Sätze wie „Diese Welt spielt verrückt, die Schlagzeilen nur voller Hass“ (in „Alles okay“) oder „Wir können die Brücken nicht mehr sehen, / zu viele Mauern aus Zement. / Wir spüren nicht mehr, was uns verbindet, / nur diese Kälte, die uns trennt“ (in „Blinde Passagiere“). Er sei definitiv im Laufe der Jahre und seiner Alben ernster und politischer geworden, sagt der Sänger. „Es gibt bei mir zwar nach wie vor auch Songs, die mit einem gewissen Augenzwinkern zu verstehen sind, aber ich habe schon das Gefühl, dass mehr und mehr politische und gesellschaftliche Fragen auf meinem Album zu finden sind.“

Das liege auch daran, dass er privat ein viel politischerer Mensch geworden sei. „Ich stelle mir viel mehr Fragen, je älter ich werde, und bin mir auch meiner Verantwortung als Künstler mit meiner Reichweite bewusst. Und so pikse ich das eine oder andere Thema an und schicke es in Richtung Fans auf die Reise. Das hat man als Künstler ja auch ein Stück weit in der Hand.“

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Dass Kunst politisch sein sollte oder muss – so weit möchte Oerding nicht gehen. Aber: „Ich empfinde es so, dass ich durchaus auch Botschaften mit meiner Kunst transportieren kann. Musik kann viel bewegen, und das sollte man sich auch zunutze machen.“ Popsongs, die im Radio laufen, erst recht. Die Zeit wird zeigen, ob wir in politischen Zeiten eine Renaissance der politischen, der gesellschaftlich engagierten Kunst und Kultur erleben werden.

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