„Schlagschatten“ von AnnenMayKantereit: Die Band, die auch den Eltern gefällt
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Auch eine Art Selbsthilfegruppe: Malte Huck, Severin Kantereit, Henning May und Christopher Annen.
© Quelle: Martin Lamberty
Hannover. Wer hätte gedacht, dass „Pocahontas“ mal ein Mallorca-Hit wird. Henning May, Sänger der Kölner Band AnnenMayKantereit, findet das, wie man sich vielleicht denken kann, „eher seltsam“. Schließlich besingt der 26-Jährige in dem traurigen, autobiografischen Lied seine eigene Ex-Freundin und die Schwierigkeiten des Loslassens. Für die Dorfdisco war der Song eigentlich nicht gedacht. Vermutlich sind die Versionen der Bierzeltband Die Draufgänger und des DJ-Duos Gestört aber geil inzwischen sogar bekannter als das Original. Der Erfolg der Trittbrettfahrer ist ein Nebeneffekt, den der Katapultstart von AnnenMayKantereit vor zwei Jahren hatte.
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„Ist es vielleicht möglich, von der Musik zu leben?“ Diese Frage hatten sich May, Gitarrist Christopher Annen, Bassist Malte Huck und Drummer Severin Kantereit damals gestellt. Nach ihrem Nummer-eins-Album „Alles nix Konkretes“ und einer ausverkauften Tour durch nicht gerade kleine Hallen lautete die klare Antwort: Ja. AnnenMayKantereit waren 2016 der letzte Schrei unter den jungen deutschen Bands.
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„Schlagschatten“, das neue Album.
© Quelle: Vertigo Berlin
Mays Stimme klingt am Telefon genauso wie auf Platte: tief, rau, nachdenklich. „Jetzt stellt sich die Frage“, sagt er wie ein ewiger Skeptiker, „wie lange werden wir davon leben können?“ Offenbar noch eine ganze Weile, denn auch für die nächste Konzertreise im Frühjahr und Sommer mit 46 Auftritten, einige davon in großen Mehrzweckarenen, gibt es nur noch in wenigen Städten Karten. Die Band wird dabei ihr neues, drittes Album „Schlagschatten“ präsentieren.
Wohlerzogener Folkpop mit klugen Texten
AnnenMayKantereit machen wie bisher wohlerzogenen Folkpop mit klugen Texten, meist in sanfter Mondgeschwindigkeit. Auf die Melodica, dieses „Straßenmusik-Gimmick“, wie May das Instrument nennt, verzichten die ehemaligen Straßenmusiker diesmal. Der Sound ist eher altmodisch. Einmal, bei „Freitagabend“, wird man sogar an die Les Humphries Singers erinnert. Diese Musik mögen auch Eltern – manchen Kritikern gefällt sie genau deshalb nicht.
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„Haben die jungen Leute das verdient?“, fragte die „Zeit“ 2016 und meinte damit AnnenMayKantereit, weil die Band mit dem Lied „3. Stock“ den Zufluchtsort Altbauwohnung besang, weil sie eher konventionell, eher unrebellisch, eher vernünftig klang, viel älter jedenfalls, als man von Mittzwanzigern erwarten würde. May empfand diesen Vorwurf als ungerecht. Als wären er und seine Bandfreunde Spießer oder Schlagersusen. „Damals hat mich das fertiggemacht“, sagt er. Heute weiß er: „Es passiert einfach, dass dich Leute falsch verstehen. Da kann man nichts machen.“
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Keine Barrikadentypen (von oben): Malte Huck, Christopher Annen, Severin Kantereit und Henning May.
© Quelle: Martin Lamberty
Auch wenn ihn manche aufgrund seiner Stimme mit Rio Reiser, dem sozialkritischen Sänger der Band Ton Steine Scherben, vergleichen: May ist kein Barrikadentyp, er singt nicht vom politischen Umbruch, aber von Dingen, die Menschen kaputt machen, die Angst einflößend sind. Dabei gelingt den Kölnern Bemerkenswertes: Sie bringen in einer immer unsichereren Welt, die voller Krisen und Kriege ist, mit vielen ihrer Stücke die generationenübergreifende Sehnsucht nach ein bisschen Sicherheit zum Ausdruck.
„Mir fehlt Optimismus in der Welt“
„Die Vögel scheißen vom Himmel, und ich schau dabei zu, und ich bin hier und alleine, Marie, wo bist du?“, fragt der 26-Jährige in „Marie“, dem besten Lied des neuen Albums. „Manchmal denk ich, die Welt ist ein Abgrund, und wir fallen, aber nicht allen fällt das auf, und so nimmt alles, alles seinen Lauf.“ Marie ist hier wohl keine Frau, nach der sich der Sänger verzehrt, der Name steht für Zuversicht. „Ja“, sagt May, „mir fehlt Optimismus in dieser Welt.“
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Schon vor zwei Jahren klang der damals 24-Jährige erschreckend erwachsen. Er kenne viele Menschen in seinem Alter, Freunde, Mitbewohner, die ihre Träume absichtlich klein hielten, um am Ende nicht enttäuscht zu werden, sagte er damals. In „Marie“ gibt es einen Hinweis darauf, woher diese harte Melancholie vielleicht kommt, weshalb May oft ein desillusioniert klingendes Klavier spielt. „Mein bester Freund ist viel zu jung gestorben“, singt er, „und schon so lange hab ich keine Mutter mehr.“
Ja, diese Zeilen seien autobiografisch, mehr möchte er nicht offenbaren. „Ich möchte sie genau so stehen lassen.“ Nur so viel: Auf der Beerdigung des besten Freundes vor einigen Jahren coverten die Musiker den Soulhit „Sunny“. Seitdem haben sie ihn bei jedem Konzert gespielt. „Wir haben die Leute zum Tanzen gebracht und dabei eine Erinnerung geteilt, die sonst keiner kannte.“ AnnenMayKantereit waren bisher, das unterstreicht diese Geschichte, wohl auch eine Art Selbsthilfegruppe.
„Weiße Wand“ scheint das wichtigste neue Lied zu sein
Nun aber, in Zeiten von Trump und Brexit, lassen sie mit einem Song aufhorchen, der über die eigenen Befindlichkeiten weit hinausgeht. „Weiße Wand“ scheint für die Band das wichtigste neue Lied zu sein, weil sie sich damit unüberhörbar politisch positioniert. May kommt beim Interview immer wieder auf das Stück zurück. Er sei froh, sagt er, „dass wir so einen Song raushauen konnten“. Annen spielt eine eisige, einsame Gitarre. Sie klingt wie bei der britischen Indieband The xx.
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„Manchmal denk ich, die Welt ist ein Abgrund“: Die melancholische Band AnnenMayKantereit.
© Quelle: Martin Lamberty
Die weiße Wand ist eine Umschreibung für die zunehmende Abschottung, die neuen Mauern aus Fremdenfeindlichkeit, die seit geraumer Zeit in westlichen Demokratien errichtet werden. Es mache ihn wütend, sagt May, wenn beispielsweise ein Freund mit anderer Hautfarbe keine Wohnung finde. „Weiße Wand“ ist nicht nur ein Lied gegen Rassismus, sondern auch gegen den Egoismus, die „eigene Blindheit“, wie May es formuliert, gegen die Scheinheiligkeit, anderen Menschlichkeit zu predigen, selbst aber nicht danach zu handeln.
In dieser düsteren Umgebung fällt ein neues Liebeslied besonders auf, weil es milden Optimismus verbreitet. In „Vielleicht Vielleicht“ wird zwischen den Küssen gelacht und über eine gemeinsame Zukunft nachgedacht. „Und dann denke ich, dass es vielleicht, vielleicht für immer so bleibt“, singt May. Und er spielt ein hüpfendes Klavier.
Von Mathias Begalke/RND