Pariser Vorort Saint-Denis will Kulturhauptstadt werden
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/E4CGGLPXEVEEXDBWZPTSVE3QTE.jpeg)
12.04.2020, Frankreich, Paris: Der Eiffelturm spiegelt sich in der Seine.
© Quelle: Ludovic Marin/AFP/dpa
Etwas fehlt an dieser Kathedrale. Unsymmetrisch wirkt sie, unfertig sogar – dabei ist sie mehr als acht Jahrhunderte alt. Auf einer Seite ragt ein gotischer Glockenturm in den Himmel, auf der anderen befindet sich ein Flachdach. Tatsächlich zeigen Archivbilder aus der Zeit vor 1846, dass die Basilika von Saint-Denis früher über zwei Türme verfügte, der Nordturm etwas höher und schmäler. Nachdem ihm Stürme und Blitzeinschläge Mitte des 19. Jahrhunderts stark zusetzten, montierte man ihn Stein für Stein ab mit der Absicht, ihn später wieder aufzubauen.
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Twitter, Inc., der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.
Doch dazu kam es nie, weil finanzielle Mittel fehlten. Jetzt aber soll der 86 Meter hohe Kirchenbau in dem nördlichen Vorort von Paris wieder sein früheres Antlitz erhalten, für rund 28 Millionen Euro. Die Steinmetze, Schmiede, Zimmerer und Maurer werden dabei auch vor Publikum arbeiten. Sogar Kurse für Hobby-Steinhauer finden statt. Es handele sich um eine „begehbare Baustelle“, sagt Julien de Saint Jores, Generaldirektor der für das Projekt zuständigen Vereinigung „Suivez la Flèche“ (wörtlich übersetzt „Folgt dem Pfeil“, doch „flèche“ bedeutet auch Turmspitze). Ihnen gehe es darum, „Techniken von früher und das Wissen von heute zu verbinden“. Vorbild für das Konzept ist die Dauer-Baustelle der Burg Guedélon im Burgund, die mithilfe historischer Baumethoden entsteht. Auch Besucher können dort mit anpacken. Davon sah man für den Nordturm der Basilika letztlich aber ab, da es anders als in Guédelon nun einen klaren Zeitplan gibt: Bereits in fünf Jahren soll er wieder in die Luft ragen. Denn Saint-Denis bewirbt sich als Europäische Kulturhauptstadt 2028.
Historische Stadt mit sozialen Problemen
Es wäre eine mutige Entscheidung. Die Stadt verfügt zwar über architektonische Vorzeige-Bauten, darunter der von Oscar Niemeyer gestaltete einstige Sitz der kommunistischen Partei, und mit der Basilika über eines der ältesten gotischen Monumente, errichtet auf der Grabkapelle des Heiligen Dionysius (Saint Denis). Der Missionar und erste Bischof von Paris soll zur Zeit der Christenverfolgungen um 249 auf dem Montmartre-Hügel der französischen Hauptstadt enthauptet worden sein. Der Legende nach nahm er daraufhin seinen Kopf und wanderte gen Norden bis zum Standort der heutigen Kathedrale, wo er umfiel und bestattet wurde. Im siebten Jahrhundert ließ hier der Frankenkönig Dagobert eine Abteikirche erbauen und sich darin beerdigen – wie in der Folge fast alle Könige und Königinnen Frankreichs.
Trotz seiner besonderen Geschichte, des großen Sportstadions Stade de France und der direkten Metro-Anbindung an Paris ist Saint-Denis kein Besucher-Magnet. Der 160.000-Einwohner-Stadt haftet der Ruf einer problembeladenen Banlieue an. Die Zahl der hier lebenden Menschen unter der Armutsgrenze und der Arbeitslosen liegt über dem Landesdurchschnitt, bei gleichzeitig großer Bevölkerungsdichte und niedrigem Durchschnittsalter. Laut Rathaus sind hier Menschen von 135 verschiedenen Nationalitäten zuhause – besonders spürbar an Markttagen, wenn lebhaftes Gewimmel herrscht. Vor allem nach dem Algerienkrieg wurden viele Einwanderer als Arbeiter angesiedelt, die blieben, auch als es keine Industrie-Jobs mehr gab. „Die Mittelklasse ist weggezogen“, sagt Michel Moisan, der früher hier lebte und als „Greeter“ kostenlose Stadtführungen anbot. „Die Gentrifizierung, die man in anderen Vororten sieht, findet hier wenig statt.“
Daher ist das Bauprojekt an der Basilika nicht nur hinsichtlich der Erhaltung von Kulturerbe von Interesse: Es soll die Attraktivität der Stadt und ihre Entwicklung fördern, Jobs schaffen. Künftig hofft man auf 300.000 Besucher pro Jahr, vor der Coronavirus-Krise kamen knapp halb so viele. Bevor gegen Jahresende der Aufbau mit 2400 Tonnen Steinen beginnen kann, finden noch archäologische Grabungen sowie die Arbeit an der Konsolidierung des Bauwerks statt. „Sobald man hier zu graben anfängt, findet man etwas“, sagt Moisan. Saint-Denis hat etwas zu erzählen. Man muss nur zuhören.
Laden Sie sich jetzt hier kostenfrei unsere neue RND-App für Android und iOS herunter