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„Only Time“: Wie ein Enya-Song zur weltweiten Trauerhymne wurde

Der Song „Only Time“ von Sängerin Enya ist für viele Menschen bis heute mit den Terroranschlägen des 11. Septembers verbunden (Archivbild).

Der Song „Only Time“ von Sängerin Enya ist für viele Menschen bis heute mit den Terroranschlägen des 11. Septembers verbunden (Archivbild).

Hannover. Wenige Stunden nach den Terror­anschlägen vom 11. September 2001 sitzt Steve Golding vor seinem Computer und schneidet ein Video. Der Clip, den der in Manhattan arbeitende Finanz­makler später im Internet hochlädt, trägt den Titel „Tribute to the World Trade Center“, ist sieben Megabyte groß und zeigt Bilder, die Millionen Menschen berühren.

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Die Videocollage, die auch heute noch im Netz zu finden ist, beginnt mit einem Bild der noch intakten New Yorker Zwillings­türme, gefolgt von den brennenden Gebäuden. Dann werden Porträt­bilder einiger Verstorbener gezeigt: ein glückliches Pärchen, eine Mutter mit ihrem Baby auf dem Arm, junge Menschen, Senioren – sie alle sind Opfer des schrecklichen Terror­anschlags in New York.

Zwischen den Fotos: Immer wieder Bilder der Zerstörung, die brennenden Türme, Feuer­wehr­menschen im Schutt, schwarze Rauchwolken über der stolzen Stadt. Auch Originaltöne, wie etwa Funksprüche der Rettungskräfte und Interviewtöne werden eingeblendet. Im Hintergrund läuft ein trauriger Song: „Only Time“ von Enya.

Ein Song und sein Geheimnis

Das 9/11-Tribute-Video verbreitet sich innerhalb weniger Stunden rasant. Aber: Das Internet im Jahr 2001 ist noch ein gänzlich anderes als heute. Golding postet das Video zunächst als Flash-Film in einem Forum für US-Kriegsgefangene und Vermisste, das der Finanzmakler betreut. Plattformen wie Youtube gibt es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht – ebenso wenig wie soziale Netzwerke. Für die Verbreitung eines Werks aus dem Internet braucht es noch die klassischen Medien. Und die reagieren schnell.

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Der erste Sender, der Goldings Clip weiterverbreitet, ist der Nachrichten­kanal CNN. Dieser berichtet rund um die Uhr von den Terror­anschlägen und zeigt dann schließlich Goldings Collage mit den Bildern der Todesopfer – ebenfalls unterlegt mit der Musik von Enya.

Warum sich die Redaktion seinerzeit entscheidet, das Video aus dem Internet zu zeigen, ist nicht bekannt. Auf Anfrage des Redaktions­Netzwerks Deutschland (RND) antwortet eine Sprecherin nur, man könne in dieser Angele­genheit nicht weiterhelfen.

Macher des Videos stirbt sechs Jahre später

Auch Steve Golding selbst kann nicht mehr erzählen, warum er sich im September 2001 entscheidet, das Video zu produzieren – und warum er dafür ausgerechnet den Song „Only Time“ von Enya wählt. Golding stirbt am 6. Januar 2007 im Alter von nur 50 Jahren. Glaubt man kondolierenden Freunden, so ist eine Krankheit als Spätfolge der Anschläge die Todes­ursache. Auf einer Trauerseite der Newsseite „nj.com“ sind bis heute zahlreiche Abschieds­beiträge von Freunden und Bekannten zu lesen.

Fest steht: Nachdem Goldings Video im September 2001 die Runde macht, wird der Song „Only Time“ von Enya praktisch über Nacht berühmt. Goldings Clip rückt mit der Zeit in den Hintergrund, Fernseh­sender und Radiosender beginnen, ihre eigenen Collagen zu produzieren – orientieren sich aber klar an Goldings Vorlage.

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Zeitweise ist eine rein akustische Tribute-Version von „Only Time“ im Umlauf, die auf den Radio­stationen rauf und runter gespielt wird. Zu hören sind hier zahlreiche O-Töne von Reportern und Augenzeugen, die über die Musik gelegt werden: „Ich schaute aus dem Fenster und wollte wissen, was los ist. Da sah ich die Flamme am World Trade Center“, beschreibt eine Frau das Erlebte. In der zweiten Strophe ist US-Präsident George W. Bush zu hören: „Zwei Flugzeuge sind ins World Trade Center gestürzt.“

Songtext trifft den Nerv

Auch der Nachrichten­sender CNN, der zuvor noch Goldings Collage gezeigt hatte, will später ein eigenes Video produzieren – und bittet die Sängerin Enya um ihre Zustimmung. Die ist zunächst skeptisch, wie sie in einem Interview mit dem SWR sagt, lässt sich dann aber doch überzeugen.

„Ich war erschüttert wie glaube ich jeder damals. Alle wollten den New Yorkern helfen. Und als ich hörte, dass ‚Only Time‘ kurz nach den Anschlägen zu einer Art Hymne wurde, wusste ich auch warum“, so die Sängerin. Im Text heißt es schließlich „Zeit ist das Einzige, was Wunden heilen lässt“. Man könne sie nie ganz loswerden, aber Zeit helfe, damit fertig zu werden. „Der Song gab den Menschen Hoffnung. Und als ich das hörte, war ich froh, damit etwas Gutes beigetragen zu haben.“

Der plötzliche Erfolg des Enya-Songs zeigt, wie stark Ereignisse – egal, ob tragisch oder erfreulich – mit Musik verknüpft werden. Und im Falle von „Only Time“ brauchte es offenbar einen solchen Anlass, damit sich überhaupt jemand für das Lied interessiert. Denn die Geschichte des Liedes beginnt zunächst deutlich unrühmlicher.

„Only Time“ ist zunächst ein Flop

Im November 2000, um genau zu sein. Ruhige Klänge wie der New-Age-Song von Enya sind zu diesem Zeitpunkt in den Charts Mangelware. „The Spirit of the Hawk“ von Rednex ist der Tophit des Monats, gefolgt von ähnlich euphorischen Klängen wie „Absolutely Everybody“ von Vanessa Amorosi. Auch Rock-Bretter wie „Last Resort“ von Papa Roach und House-Hits wie „Lady“ von Modjo gehören zu den Hits des Monats.

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Das plätschernde „Only Time“ von Enya hingegen braucht satte drei Monate, um es überhaupt in die deutschen Singlecharts zu schaffen – und steigt dann nur auf Platz 95 ein.

Der Song erscheint zunächst als erste Single­auskopplung des Enya-Albums „A Day without Rain“. Wenig später wird das Lied als Soundtrack der Kino­romanze „Sweet November“ mit Keanu Reeves und Charlize Theron vorgestellt. Einen Trailer zum Film findet man noch heute im Netz – und die Einbettung des Songs wirkt mit der heutigen Geschichte des Liedes reichlich bizarr.

Cliffhanger bei „Friends“

Auch der Film kommt nicht sonderlich gut an. Bei „Rotten Tomatoes“ erhält die Romanze eine durch­schnittliche Bewertung von 3,52/10 – „zu schmalzig“, so das Urteil vieler Kritikerinnen und Kritiker. Und auch „Only Time“ verhilft der Film nicht zum zum Durchbruch.

Bei anderen Einsätzen des Songs in den Medien ist das etwas anders. Im Sommer 2001 nutzt der US-Sender NBC Enyas Song, um die Serie „Friends“ zu promoten. „Only Time“ wird als Cliff­hanger eingesetzt. Auch in einer Folge von „Third Watch“ kommt „Only Time“ zum Einsatz – hier erstmals in seiner Funktion als Trauer­hymne während einer Todesszene.

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Es folgen erste Achtungs­erfolge. In den USA entwickelt sich „Only Time“ zu Enyas erstem Top-40-Radiohit seit 12 Jahren. Gleich zweimal wird das Lied in der Show „Viva la Bam“ gespielt sowie in einer Episode von „New Girl“. Im Mai 2001 singt Enya ihren späteren Hit bei den World Music Awards.

Bedeutung des Liedes ändert sich

Doch all das ist nichts gegen das, was nach den Anschlägen des 11. September passiert. Enya und ihre Plattenfirma entschieden sich, das Lied noch einmal zu veröffentlichen, und alle Einnahmen den Hinter­bliebenen der Terror­anschläge und den Feuerwehrleuten zu spenden. „Ich wollte auf gar keinen Fall auch nur einen Dollar mit dem Song verdienen“, so Enya gegenüber dem SWR.

„Only Time“ hält sich insgesamt 32 Wochen in den US-Charts, steigt bis auf Platz zehn und wird in Deutschland sogar zum Nummer-ein-Hit. Alle Einnahmen gehen bis heute an einen Fond zur Unterstützung der Opfer des 11. September.

Die von Enya besungene Zeit allerdings geht auch an „Only Time“ nicht spurlos vorbei. Im Laufe der Jahre ändert sich die Bedeutung des Liedes. Insbesondere Jüngere, die den 11. September 2001 gar nicht aktiv miterlebt haben, verbinden heute ganz andere Dinge mit dem Lied.

„Only Time“ als Internetmeme

2013 wird „Only Time“ nach über zehn Jahren wieder in einer Fernseh­werbung eingesetzt. In einem Clip des Herstellers Volvo macht Jean-Claude Van Damme einen Spagat auf zwei fahrenden Lastwagen. Auch der Macaroni-and-Cheese-Hersteller Kraft verwendet den Song in einem Werbeclip.

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Im Netz ist „Only Time“ inzwischen zum Internet­meme geworden. Auf Tiktok beispielsweise wird die Musik häufig eingesetzt, um ironisch ungeplante Zwischen­fälle zu unterlegen.

Auf einem Video ist beispielsweise zu sehen, wie einem Hobbykoch beim Wenden eines Pfann­kuchens der Pfannen­stiel abbricht – im Hintergrund spielt das hoch­dramatische „Only Time“ von Enya. Ein anderes Video zeigt eine Touristen­gruppe auf einem Boot, die von einem Wal überrascht wird – ein weiteres zeigt eine Ente, die fast einen Wasserfall herunterfällt.

Jeder verbindet etwas anderes mit „Only Time“

Auch in den Youtube-Kommentaren unter dem offiziellen Musikvideo wird deutlich, welche Zeitreise der Song in den vergangenen 20 Jahren gemacht hat. „Der Song wurde immer im Kinder­garten gespielt, da bin ich immer bei eingeschlafen“, erinnert sich eine Nutzerin beispielsweise. Ein anderer schreibt: „Der Song erinnert mich an etwas, ich weiß aber gar nicht, an was“. Und viele Nutzerinnen und Nutzer bringen „Only Time“ sofort mit den Terror­anschlägen des 11. September in Verbindung.

Steve Golding, der Mann, der „Only Time“ auf einen Schlag berühmt machte, bekommt von der Entwicklung des Lieds nichts mehr mit. Sein 20 Jahre altes Onlinevideo jedoch bleibt unvergessen.

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Im Online­kondolenz­buch des Verstorbenen schreibt eine Nutzerin namens Kathy: „Ich werde dich niemals vergessen. Du hattest während 9/11 einen großen Einfluss auf mich. Ich habe im Laufe der Jahre so oft an dich gedacht. Ich sehe deinen Film jeden 11. September und habe ihn mit so vielen Leuten geteilt. Ich werde dich wiedersehen.“

RND

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