Neue Alben: Von Eddie Vedder über Elise Le Grow bis White Lies
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Mit der Zweitband Earthlings unterwegs: Pearl Jams Frontmann Eddie Vedder veröffentlicht heute (18. Februar) sein zweites Soloalbum „Earthling“.
© Quelle: Getty Images
Der Popaufreger der Woche war: keine Wildcard für Eskimo Callboy aus Castrop-Rauxel für den ESC-Vorentscheid! Das wäre ja noch schöner, wenn eine Fanpetition das Reglement ändern könnte. Will man etwa eine Band mit einem Geht-gar-nicht-Bandnamen (Eskimo ist eine nicht allzu wohlgelittene Fremdbezeichnung für die indigenen Völker der nördlichen Polarregion) als ESC-Sieger haben? Da doch lieber wieder Platz 20 plus – wie üblich.
Und by the Way: „We Got the Moves“ war sowieso ein viel besserer Callboy-Song als das angebotene „Pump It!“ (das zweifellos Chancen auf eine hohe Platzierung in Turin hätte). Man möchte laut aufschreien. Und beruhigt sich dann mit dem neuen Album der deutschen Jazzsängerin Tokunbo Akinro. Die singt im Lied „Home Again“ ganz heimelig vom Aufgehobensein – und das wäre auch ein ganz feiner, wenngleich gänzlich anders gearteter Song für den Song Contest.
Shovels & Rope würzen ihren Folk mit Rock
Song der Woche auf unseren Alben der Woche ist ganz klar „Domino“ von Shovels & Rope alias Michael Trent und Cary Ann Hearst. Da singen sie von James Deans Todestag, als er am 30. September 1955 in seinem silbernen Porsche Spyder verunglückte – gerade als sein Stern aufging – und wie aus dem toten Star am Ende nicht nur einer Generation junger Menschen ein Geist wurde. Der Song ist in der Ich-Perspektive gesungen – „Amerika kann mich nicht ziehen lassen!“, singt der Geist, der endlich gehen will – und wie die beiden Stimmen zu dem rasanten Tempo sich übereinanderlegen, um sich zeitweilig zu trennen, wie der Song sich wölkt und wächst, wie aus dem Handklatschrhythmus eine Lokomotive von Song wird, das ist überwältigend. Fleetwood Mac meet Beach Boys. Nicht der letzte Applaus für „Manticore“, das nun schon neunte Album des Duos aus Charleston seit 2008.
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Eigentlich hätte „Manticore“ ein rein akustisches Album werden sollen, die Spuren davon sind noch überall auszumachen. Dass man sich dagegen entschied und vieles mit Rock würzte, lässt die Songs mehr leuchten und ergibt eines der Königsalben des noch jungen Jahres. Warum das Liederbuch nach einem altpersischen, intelligenten, menschenfressenden Mischwesen benannt ist, kann man nur raten.
Im Folgenden singen Hearst und Trent über Persönliches – Zweisamkeit, Mehrsamkeit, in „Bleed Me“ über das Vampirische einer Kind-Eltern-Beziehung, in der man sich manchmal ausgeblutet fühlt vor Liebe. Der größte Mitsinger unter all den Herzzerreißern ist die sechsminütige Hymne „Crown Victoria“, der traurigste ist „Anchor“, das melodisch nicht von ungefähr an Dr. Hooks Suizidballade „The Ballad of Lucy Jordan“ erinnert. Dann ist da die Folkrockwalze „The Show“ über das Musikerdasein in der Pandemie, das Abschnüren der beruflichen Lebensader, überhaupt das Sterblichsein. Rock-‘n‘-Roll wollen sie aus den Lautsprechern kommen hören und konstatieren die Schmerzen eines neuerlich gecancelten Konzerts. „Ich sage meine Show heut nacht ab / dreh das Rampenlicht runter / schalte die Neonreklame aus / und kriech durch die Stadt, bis ich zu dir komme.“
Shovels & Rope – „Manticore“ (Dualtone)
Goodbye June - Viel AC/DC, aber auch viel Liebe
Mehr als eine Bruchbude und eine Bibel gabs nicht, als sich Vater und Mutter, die umherzogen, um Gottes Wort zu lehren, schließlich in einem „shitty town“ niederließen. Und so hat der Protagonist des Songs „Step aside“ gelernt, mit der Musik als Essenz des Lebens klarzukommen. Alle alten Schulkumpel haben studiert, Familien gegründet, er aber hat seinen Frieden in seiner Gitarre gefunden. Und was das für eine Mordsgitarre ist, und von wegen Frieden. Das Lied kracht rein, als wär‘s aus dem Fundus von AC/DC. Und Landon Milbourn singt dann auch noch wie der Werwolf bei Blutmond, Bon Scott lässt grüßen. Nur singt er halt Sachen wie „Ich bin verliebt in den süßen süßen Sonnenschein“. Was Goodbye June da bringen, wäre AC/DC nicht im Traum eingefallen.
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Auch hätten sich die Australier nie zu einer Ballade bereitgefunden, was den Cousins Milbourn, Brandon Qualkenbush (Gitarre, Klavier, Bass) und Tyler Baker (Gitarre) auf ihrem vierten Album „See Where the Night Goes“ mit einer Schar musikalischer Helfer perfekt gelingt: Wenn Milbourn bei „What I Need“ zum Piano ins Falsett steigt, von der Liebe singt, auch der zu sich selbst, davon, mit dem Mann, der er sein sollte, ins Gespräch kommen zu müssen, möchte man ihn in den Arm nehmen. Viel viel Gefühl hier – und am Schluss des Songs mächtiges E-Gitarren-Gewölk und ein Gospelchor.
Zum Soundgepräge dieses vorzüglichen Hardrock-‘n‘-Roll-Trios aus Nashville, Tennessee, gehören außer viel AC/DC auch noch Bluesrock, Southern Rock und bei „Everlasting Love“ Creedence-Clearwater-Reminiszenzen. Wer Stoff für die Scheunenparty braucht – diese Band, deren Name tragischerweise daher rührt, dass sie sich 2005 direkt nach der Beerdigung von Bakers Bruder gründete, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, rettet jeden Abend.
Goodbye June - „See Where The Night Goes“ (Earache/CVM)
Wohlfühlmusik – Jazzerin Tokunbo singt Americana
Dass Americana gut klingt, wenn ihn eine Frau singt, die vom Jazz kommt, wissen wir spätestens seit den Platten von Norah Jones. „Wo sind die goldenen Tage hin“, fragt Tokunbo Akinro im Titelsong von „Golden Days“ und beschwört sie dabei herauf: Eine anmutige Countrytraurigkeit mit schimmernden Steelgitarrenbögen steht am Beginn des dritten Soloalbums der Frau, die als Sängerin der Jazzformation Tok Tok Tok bekannt wurde. Entstanden in den ungewissen Tagen der Pandemie, herrscht hier in den Klangfarben von Folk und Country eine gute Balance aus Melancholie und Optimismus, dazu ein trauter Sound, der den Hörer oder die Hörerin einlullt. Es geht in „Home Again“ hinein in die Erinnerungen, in die Zeiten von „ausgeblichenen Träumen und ausgeblichenen Jeans“, in eine Behaglichkeit, in die wohl jeder zwischenzeitlich mal zurückkehren möchte. Und man fühlt sich dann auch glatt wie zu Hause in diesem Lied.
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Akinro hat ihre Gedanken im Rückzugsort einer Gartenhütte fliegen lassen, bevölkert ihre dort entstandenen Songs mit Menschen aus ihrem eigenen Leben, nutzt ihr Songwritertalent, um sich selbst zu sortieren. Und bezaubert durchweg. Besonders gelungen sind die Songs, die nicht zu sehr geschmirgelt und poliert wurden, die leicht rumpeln, an deren Ufern Willie Nelson, John Fogerty und Johnny Cash Platz genommen haben und einvernehmlich lächeln. „Forgive“ über die unverzichtbaren Menschen, die ein Aufgehobensein vermitteln, ist so eine muckelige Scheunenfestschönheit. Und das Banjo von Saitenmeister Ulrich Rode in „Ray“, einem Lied über die Schwierigkeiten, wenn Liebe zu Freundschaft wird, plinkert, als wäre es direkt aus den Catskill Mountains zugespielt.
Tokunbo – „Golden Days“ (in Akustik)
Elise Le Grow mit Neosoul auf Etta James‘ Spuren
„Grateful“ – dankbar – ist Elise LeGrow, auch „für alle Fehler und Unfälle“. Beruflich hat sie noch keine gemacht. Die Kanadierin hatte auf ihrem ersten Album „Playing Chess“ eindrucksvoll ihre Wurzeln ausgestellt – die von Bo Diddley bis Chuck Berry reichen. Dann war die gerade zum Höhenflug anhebende Karriere durch die Pandemie in den Status von Unsicherheit zurückgeworfen worden. Zur Kreativität musste sich die 24-Jährige zwingen. Und jetzt geht es weiter, jetzt groovt sie sich durch ein Sieben-Song-Päckchen selbst (ko-)geschriebener Stücke, das vom Umfang her zwischen EP und Album liegt, und in dem sie ihre mächtige Stimme hören lässt, bei der man sich immer wieder an die große Etta James erinnert fühlt.
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Neosoul ist das Etikett, das für eine zeitgemäße Produktion verwendet wird, in der sich zwar Synthesizer, Stimmeffekte und gesampeltes Schlagzeug finden, in der aber vor allem die Plattensammlung von LeGrows Mutter hörbar wird, zuvörderst der Sound von Stax, Motown und Chess, R&B, Soul und – man höre den Titelsong – Gospel. Songs zum Laut im Auto hören wollte LeGrow liefern. Das ist ihr geglückt, vom kraftvollen Auftakt mit dem Aufbruchssong „Feel Alright“ bis zu „Evan“, einem Song über einen persönlichen Verlust und die anhaltende Trauer um einen unvergessenen Freund, der vor zehn Jahren ermordet wurde – eine Tat, die nie aufgeklärt wurde. Jetzt lebt Evan für immer in diesem Lied.
Elise LeGrow – „Grateful“ (Awesome/BMG)
Die vielen Soundseiten des Pearl-Jam-Sängers Eddie Vedder
Eddie Vedder, inzwischen beinahe der letzte der großen Grunger, erzählt davon, dass unruhige Zeiten über uns gekommen sind, und dass wir Menschen doch so viel mehr sind als Partikel im Herzen des Kosmos. „Wenn wir lieben, sind wir unbesiegbar“, weiß Vedder in „Invincible“, der Eröffnungshymne seines zweiten Soloalbums „Earthling“. Und da klingt er zur frohen Botschaft ein wenig wie Bowie, der vor ziemlich haargenau 25 Jahren ein Album dieses Titels am Start hatte, zugleich ein wenig wie David Byrne von den Talking Heads, am meisten aber – und das ganz frappierend – wie der großen Peter Gabriel der „Sledgehammer“-Zeit.
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Der Pearl-Jam-Frontmann macht diesmal in Rock-‘n‘-Roll-Cinemascope, nachdem sein erstes echtes Soloalbum „Ukulele Songs“ (Soundtracks wie „Into the Wild“ und „Flag Day“ gab es auch) eine ganz und gar unwahrscheinliche und schrullige Hommage an das liebenswert plinkernde Saiteninstrumentchen war. Vedder stellt mit seiner dringlichen, erdigen Stimme prächtige Songs aus, mit denen er zugleich seine musikalische Bandbreite offenbart.
Das sind nicht nur die Punktruppen, die in „Rose of Jericho“ oder „Good and Evil“ aufblitzen. „Long Way“ ist ein trauter, melancholischer Freewaytraum, klingt nach Tom Petty der „Into the Great Wide Open“-Phase, der Trauersong „Brother the Cloud“ für den Soundgardensänger Chris Cornell scheppert wütend ob der Unumkehrbarkeit des Todes und The Who und The Clash standen hörbar Pate. „Mrs. Mills“ ist ein Frauenporträt wie es Paul McCartney – der auch in den Lyrics erwähnt wird, während Ringo hier trommelt – in der Penny Lane eingefallen sein könnte. „Picture“ schließlich, ein optimistisches Lied darüber, gut und hilfreich zu sein und sich von üblen Zeiten und Zeitgenossen nicht unterkriegen zu lassen, könnte auch ein Rocker aus der frühen Phase von Elton John sein. Der ist hier übrigens des Erdlings Duettpartner.
Eddie Vedder – „Earthling“ (Seattle Surf/Republic Records/Universal)
Sarah Shooks mitreißender Beziehungsrock
„Du schwächst mich, bis ich kaum noch stehen kann / du tust mir so lange weh, bis ich aufhöre, mir selbst wehzutun“. Das sind schon wahrhaft böse Zeilen. Unter der hübschen Oberfläche von „Somebody Else“, dem schläfrigen Americanatrack, mit dem „Nightroamer“ eröffnet, das neue Album von Sarah Shook & The Disarmers, lauert die hässliche Seite der Zweisamkeit. Pete Anderson, der langjährige Produzent von Countrystar Dwight Yoakam, hat aus Shooks rabiat ehrlichen Beziehungsbestandsaufnahmen ein mitreißendes Indierockalbum gemacht – das vom schunkeligen „If It‘s Poison“ mit seinen Fünfzigerjahre-Reminiszenzen über den countryesken Titelsong mit seinen schimmernden Steelbögen bis zum scheppernden Rolling-Stones-Rock-‘n‘-Roll von „Talkin‘ to Myself“ reicht.
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Poppiger sind die Mittdreißigerin aus North Carolina und ihre Band inzwischen geworden. Und auch wenn ihnen Gefallsucht fremd ist und ihnen die Charts weiterhin wurstegal sein dürften, hätte das melodische „I Got This“ mit seinen dezenten Stimmverzerrungen, der gebogenen Grungegitarre und dem Offbeat gegen Ende dort durchaus Chancen und könnte dieser hörenswerten Band ein größeres Publikum bescheren. „Die beste Rache ist es, gut zu leben“, singt Shook da relativ guter Dinge. Und zum dunklen Gitarrentwang verabschiedet sie den Ex mit bemerkenswerten Worten: „Please Be a Stranger! – Sei doch bitte ein Fremder!“ Das sitzt!
Sarah Shook & The Disarmers – „Nightroamer“ (Abeyance Records)
Zu wenig Mut bei der Hommage an John Prine
Nathaniel Rateliff geht „Pretty Good“ an, als wär‘s ein Stück von Dylan. „Ziemlich gut, nicht schlecht, ich kann nicht klagen“, kräht er, und „eigentlich ist alles wie immer“. Aber der Song, der von der Neigung der Menschen handelt, die wahre eigene Befindlichkeit zu verschweigen, erzählt dann auch von Molly, die nach einer Vergewaltigung nach Arkansas zog und sich dort umbrachte. Gar nichts ist gut, aber keiner will das wissen. John Prine hat das Lied einst geschrieben, der König des sozialen Countrysongs, einer, von dem sich so langsam herumspricht, dass er zu den größten Songwritern Amerikas gehörte und den jetzt andere große Songwriter und Songwriterinnen ehren.
In den zwölf Jahren seit der ersten Hommage „Broken Hearts & Dirty Windows“ ist der 2020 in Nashville verstorbene Prine auch im Mainstream angekommen. Brandi Carlile eröffnet mit der folkigen Ballade „I Remember Everything“ das Tribut und sie schreibt in den Liner Notes, dass Prine der Welt einen „Quell der Weisheit und des Lachens“ hinterlassen hat. „Kleine Leben“ seien seine Songs.
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Die Künstler auf diesem Album, das sich den bekannteren Songs Prines widmet, sind anders als auf dem soundbunteren ersten eher traditionell countryorientiert. Die meisten von ihnen betrachten die Lieder wie Heiligtümer. Man lässt hören, vor wem man sich verbeugt, man will, dass der so lange unterm Radar fliegende Prine endlich den ihm gebührenden Platz einnimmt.
So wird Bonnie Raitts „Angel of Montgomery“ selbst ein erstarrtes Denkmal, ähnlich wie Emmylou Harris‘ Version von „Hello in There“ still und starr steht – statt ein „kleines Leben“ zu sein. John Paul White singt „Sam Stone“ sanft, aber die Geschichte eines Kriegshelden und Familienvaters, der die Bilder des Todes in seinem Kopf mit Heroin verdrängt, klingt mit dem Orgelintro wie eine Grablegung statt zorniger Ruf an die Regierenden zu sein, für die einzutreten, die für das Land eingetreten sind. Carliles Bandmate Amanda Shires (The Highwaywomen) färbt „Saddle in the Rain“ funky, lässt den Bogen über ihre Violine flitzen und erinnert in jeder Sekunde an den Humor, für den Prine auch stand. Mehr davon, und der Alte hätte vor Freude auf seiner Wolke getanzt.
Diverse – „Broken Hearts & Dirty Windows, Vol. 2″ (Oh Boy! Records)
Cate Le Bon – Die Geister einer begrabenen Stadt tanzen
Die Geschmeidigkeit der Keyboards, des Saxofons und der Gitarren erinnern an die späten Alben von Roxy Music. So manche Soundbesonderheit auf „Pompeii“ indes an die Exzentrik von deren frühem Mastermind Brian Eno. Das Sehnen in der silbrigen Stimme von Cate Le Bon im Song „French Boys“ bezieht sich nicht etwa auf traurigschöne, persönliche Erinnerungen (wie sie einst Debbie Harry an ihre „English Boys“ hatte). Le Bons Lyrik ist verrätselt, Stoff zum Abtauchen und Assoziieren.
In unsichtbaren Städten warten da die französischen Jungs auf die Protagonistin, in einem traurigen Tänzeln hat sie bei einer Hochzeit ein Plastikbouquet gefangen. Im anderweltigen Glitzern der Synthesizer finden sich dazu Harmonien, die David Bowies „Dark Star“ heraufbeschwören – dessen Musik täglich zu hören Le Bon sich zur Gewohnheit machte, als sie sich in den vergangenen Jahren in Joshua Tree mit Tischlerarbeiten erdete. Hier ist die Melancholie der Pandemie zu spüren.
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Alles in allem ist das Album mit der vom Vulkan begrabenen antiken Stadt im Titel das zugänglichste der sechs Soloalben der 38-jährigen Musikerin aus Wales geworden – der perfekte Einstieg ins Werk einer Frau, die Freunde der Musik von Debbie Harry, Kate Bush, Björk oder Laurie lieben dürften. Einen potenziellen Hit hat Le Bon auch auf diesem Album: „Harbour“ ist ein süßes Synthpopstück, ein Liebeslied voller ungewöhnlicher Komplimente: „Was du sagtest, war lieb, als du sagtest, mein Herz brach ein Jahrhundert.“ Und im Titelsong trifft die Isolation der vergangenen Jahre auf eine Welt des Untergangs: „Alle Ängste, die ich habe, schicke ich nach Pompeii“, singt Le Bon. Und die Geister der begrabenen Stadt tanzen.
Cate Le Bon – „Pompeii“ (Mexican Summer)
White Lies: Morbides – durchwirkt von Achtzigerjahre-Euphorie
Die Achtzigerjahre enden nie – jedenfalls nicht in den prinzipiell radiofreundlichen Songs der Alternativepoprocker White Lies. Auf „As I Try Not to Fall Apart“, dem nunmehr sechsten Studiowerk der 2007 gegründeten Band, liefern sie prächtige Melodien und euphorische Sounds. Dazu wird von Meisterbariton Harry McVeigh und Texter und Bassist Charles Cave – mehr Diskrepanz geht nicht – zuvörderst das Thema Sterblichkeit verhandelt (schon das Debütalbum von 2009 hieß „To Lose My Life“).
Unter den Fittichen ihres langjährigen Produzenten, des früheren Psychedelic-Furs-Keyboarders Ed Buller und Claudius Mittendorfers startet das Album mit der Frage „Am I Really Going to Die?“. Morbides für den Tanzboden der Corona-Jahre, Lieder über Verletzlichkeit, Zweifel, Ängste – das passt eigentlich ganz gut.
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Immer wieder rockt das Album auch – so bei der von nadelnden Gitarrentönen gekrönten Killers-Hommage „I Don‘t Want to Go to Mars“, wo das Londoner Trio das Weltraumerobern der Milliardäre als das abwatscht, was es ist – ein buchstäblich bodenloser Blödsinn ewiger Kindsköpfe. Und im Siebenminüter „Roll December“, das mit eisklirrenden Keyboards beginnt und von einem bockigem Bass getrieben wird, rollen zur Mitsingmelodie am Ende die Gitarren und Jack Lawrence-Browns Schlagzeug ganz wunderbar. Wieder ist die Lebensendzeit Thema. Um es mit dem Titel des letzten Songs zu sagen: „There Is No Cure for It“. Und was ist das für eine Hymne!
White Lies – „As I Try Not to Fall Apart“ (PIAS)