Mehr als ein Luxusproblem: Warum uns das Tanzen so fehlt

Tanzen macht glücklich – in jedem Alter.

Tanzen macht glücklich – in jedem Alter.

Hannover. Nein, nein, tanzen? Um Gottes willen, nein, das kann ich nicht! John Travolta (ausgerechnet!) schüttelt den Kopf, aber Uma Thurman bleibt unerbittlich. „I wanna dance.“ Und dann folgt bei diesem Twist-Tanzwettbewerb eine kleine Nebenszene, die aber doch so viel erzählt: John Travolta alias Vincent Vega geht wider Willen doch auf die Tanzfläche und zieht sich die Schuhe aus. Er stellt sie brav nebeneinander, schön parallel ausgerichtet. Muss ja alles seine Richtigkeit haben, alles seine Ordnung. Aber dann, als er zu Chuck Berrys „You Never Can Tell“ auf Socken die Bühne betritt, hat er seine Persönlichkeit abgestreift. Auf der Tanzfläche ist er ein neuer Mensch. Er tanzt wie einer, der nie Schuhe parallel stellen würde.

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Auf der Tanzfläche ganz bei uns selbst?

Ein neuer Mensch. Oder ist es andersherum? Sind wir gar nicht wir selbst, wenn wir durchs Leben gehen, und nur in ganz besonderen Momenten ganz bei uns selbst – vor allem auf der Tanzfläche? Vielleicht sind wir erst dann der Mensch, der sein wahres Ich zeigt. Ohne Maske, ohne Verstellung, ohne soziale Rolle.

Das Besondere beim Tanzen ist, dass beides gilt. Man ist ganz bei sich und zugleich ganz außer sich. Der tanzfreudigste der griechischen Götter, Dionysos, war auch der Gott der Ekstase. Schon dieses Wort bedeutet „Außersichgeraten“, aber auch „Verzückung“. Man ist außer sich vor Freude, nicht mehr Herr seiner selbst. Wer auf der Tanzfläche in einem Club steht und endlich vergessen hat, wer ihm alles zuschauen könnte, und alle Scham und Scheu überwunden hat, kann in das verzückende Gefühl geraten, sich selbst beim Tanzen zu verlieren. „Lose yourself to dance“, singen Daft Punk, immer wieder: „Lose yourself to dance.“

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Gleichzeitig vergisst man die Welt um sich herum und ist ganz bei sich. Dieses Ganz-bei-sich-Sein klingt im ersten Moment vielleicht nach einer esoterisch-gefühligen Floskel. Und doch ist es gerade in unseren Tagen so wichtig. Denn in der Corona-Krise lernen wir unseren Körper als etwas ganz Neues kennen: als potenziellen Feind. Natürlich war er auch vorher schon ein möglicher Hort von Krankheiten, der uns und unser Ich zerstören kann. Aber niemals war es uns so schmerzlich bewusst wie jetzt.

Noch aus einem anderen Grund ist es eine Wohltat, zu uns zu finden. Denn durch das Smartphone, das Internet, sind wir zu gespaltenen Personen, zu einem fragmentierten Ich, geworden. Unser Ich ist in der Realität ein anderes als im Netz. Zwar hat Erving Goffman schon vor der großen Digitalisierungswende festgestellt, dass wir alle in der sozialen Welt nur Rollen spielen, aber das Internet hat für unser Rollenspiel eine ganz neue Bühne eröffnet, quasi eine ganz neue, zweite Welt.

Schritt für Schritt in die Nacht hinein

Wie wohltuend ist es da, zu uns zu finden, ganz bei uns zu sein. Und wie sehr hilft uns das Tanzen dabei, auf uns selbst zurückzufallen, Schritt für Schritt in die Nacht hinein.

Natürlich gilt das nicht nur für den Solotanz in der Disco. Das Gleiche gilt für viele andere Tanzstile auch. Denn es gibt ja auch den geführten Partnertanz, den improvisationsreichen Jazztanz, den gruppendynamischen Squaredance, den sportlich-kämpferischen Capoeira, den leidenschaftlichen Tango Argentino, um nur einige wenige zu nennen.

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Aber ist das nicht alles emotionaler Luxus? Ist das Tanzen nicht einfach nur ein schönes Wochenendhobby, das nun eben zurzeit wegfällt, so wie gerade viele Hobbys ausfallen müssen? Anders gefragt: Warum tanzt der Mensch überhaupt?

Wir tanzen, weil wir nicht anders können

„Weil der Mensch nicht anders kann“, sagt die Tanzexpertin Julia F. Christensen. Die promovierte Psychologin erforscht am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik unter anderem den Zusammenhang zwischen Tanz und Gehirn. „Wenn wir einen rhythmischen Reiz in der Umgebung wahrnehmen, dann zuckt der Fuß im Takt, oder der Kopf wippt mit“, sagt die gebürtige Dänin weiter. Ganz automatisch.

Das Tanzen ist uns sogar wortwörtlich in die Wiege gelegt. Experimente mit Hirnstrommessungen haben gezeigt, dass Neugeborene den nächsten Beat eines Rhythmus geradezu erwarten. Wenn das Baby könnte, würde es sofort auf die Tanzfläche stürmen. Das macht es dann auch, und zwar schon im Alter von etwa zehn Monaten, bevor die meisten von ihnen sprechen oder singen können. Im Anfang war der Beat.

Und so boxt uns ein Rhythmus sozusagen auf die Tanzfläche.

Julia F. Christensen, Tanzexpertin

Der Rhythmus muss aber zunächst einen relativ langen Weg im Körper vom Ohr zum wippenden Fuß zurücklegen. Dafür gibt es lange Nervenbahnen, die die auditiven Reize – also die Musik, den Beat – in das Rückenmark und die großen Muskeln unseres Körpers transportieren, erklärt Christensen. „Und so boxt uns ein Rhythmus sozusagen auf die Tanzfläche.“ Das unterscheidet uns von den Tieren: „Schimpansen wippen nicht mit, Katzen und Hunde auch nicht.“

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Es musste nicht erst der Mensch der antiken Zivilisationen oder gar der Moderne kommen, um das Tanzen salonfähig zu machen. Menschen tanzten schon immer, sie tanzten für mehr Regen und eine bessere Ernte, für Jagd- und Kriegserfolge. Tanzen ist in dieser Form eine Kommunikation mit den Göttern und der Natur. Es bedarf da keiner großen Worte, unsere Körper sprechen eine eigene Sprache.

Die Tanzfläche als Arena

Das zeigt sich auch, wenn wir heute auf der Tanzfläche eine neue Partnerin oder einen neuen Partner finden. Die Tanzfläche ist eine Arena des menschlichen Balzverhaltens, im Club genauso wie in der Tanzschule, beim feinen Ball genauso wie beim Seniorentanz. „Was da passiert, ist einfach, dass Körper sehr viele Informationen über biochemische Botenstoffe austauschen“, sagt Christensen. „Wenn man sich beim Tanzen näher kommt, dann kann man oft mehr über den anderen Menschen herausfinden als durch ein langes Gespräch oder eben monatelanges Kennenlernen.“ Unsere Bewegungen seien wie eine Art Fingerabdruck von uns. „Unser Gehirn nimmt wahr: Wer ist wie wir? Wer passt zu uns?“

Und so verwundert es nicht, dass in der Menschheits- wie in der Kulturgeschichte Tanz und Liebe oft zusammengedacht wurden. Unvergessen sind Filme wie „Flashdance“, „Saturday Night Fever“, „Save the Last Dance“ und „Dirty Dancing“. Tanzen ist romantisch, Tanzen ist ein Statement, Tanzen ist Sex. Der irisch-britische Dramatiker George Bernard Shaw hat die Verbindung zwischen Tanz und Erotik in den unvergesslichen Satz gegossen: „Tanzen ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens.“

Aber Julia F. Christensen ist nicht ganz glücklich, wenn das Tanzen nur als bloßes Balzritual abgetan wird. „Damit tut man weder sich selbst noch dem Tanzen einen Gefallen, weil wir die Gesellschaft nicht darin bestärken und ausbilden, was Tanzen alles sein kann.“ Denn das Tanzen kann noch viel mehr, als nur Menschen zusammenzubringen. Es ist eine wahre Gesundheitsquelle. Die Menschen, die in dem berühmten Gemälde von Hieronymus Bosch aus dem Jungbrunnen steigen, bewegen sich anschließend gemeinsam tanzend zur Musik. Es ist ein Zeichen von Kraft und Gesundheit.

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Aber Tanzen – vor allem das Hobbytanzen – ist mehr als Fitness. „Es ist das Hobbytanzen, das besonders das Stresshormon Cortisol im Blut sinken lässt. Es ist das Hobbytanzen, das den Stoffwechsel ankurbelt sowie das Immunsystem und Hormonsystem reguliert. Und es ist das Hobbytanzen, das die Knochen kräftigt und die Beweglichkeit bis ins hohe Alter fördert“, sagt Christensen. Zudem trainiert es das Herz und kann sogar vor Demenz schützen. Denn das Tanzen beansprucht das Gehirn und den Körper auf multiple Weise. Dieses Multitasking ist Hochleistungssport für unsere grauen Zellen.

Corona zieht uns die Tanzfläche unter den Füßen weg

Und nun kommt das große Aber unserer Tage: Tanzen ist zurzeit schwer möglich, Clubs sind genauso geschlossen wie Tanzschulen und Ballsäle. Partys sind schon mal gar nicht möglich. Corona zieht uns nicht nur den Boden, sondern auch die Tanzfläche unter den Füßen weg. Dabei ist die Berührung – seelischer wie auch körperlicher Art – enorm wichtig für uns. „Die Haut ist ja das größte Sinnesorgan, das wir haben. Taktile Stimulation ist also sehr wichtig“, sagt Sabine Koch, Professorin für Tanz- und Bewegungstherapie an der SRH Hochschule Heidelberg. „Wenn wir berührt, gedrückt werden, schütten wir Glückshormone aus, vor allem Oxytocin. Dieser Boost für die Psyche zahlt auch aufs Immunsystem ein.“

Doch einer der großen Vorteile des Tanzens ist, dass es überall möglich ist. Natürlich ist die heimische Küche nicht das Berghain, das Wohnzimmer hat nicht dasselbe Ambiente wie Clärchens Ballhaus. Aber trotzdem können wir auch in den eigenen vier Wänden tanzen, solange uns die Füße tragen. An diesem Maiwochenende ist eine gute Gelegenheit, sich mal wieder der Musik zu ergeben – schon aus alter Tradition.

Ja, tanzen kann jeder

Eine andere Möglichkeit ist das Onlinetanzen, das sich während der Pandemie bereits etabliert hat. „Ich habe vorher in London gewohnt und vermisse meine Tangolehrerin sehr. Aber jetzt kann ich wieder bei ihr Unterricht nehmen. Das ist doch ein Vorteil“, sagt Julia F. Christensen. „Auch in Deutschland gibt es unglaublich viele Initiativen mit vielen verschiedenen Tanzlehrern.“

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Wie in allen anderen Bereichen zeigt uns Covid auch beim Tanzen, dass wir jeden Moment genießen und nichts für selbstverständlich halten sollten. Bosse hat das im vergangenen Jahr so ausgedrückt: „Und nix ist für immer, für immer, für immer. / Also tanz, als wär’s der letzte Tanz.“

Und ja, tanzen kann jeder.

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