„Keine Zeit zu sterben“: Daniel Craigs Abschieds-James-Bond-Film ist ein würdiges Finale
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„Keine Zeit zu sterben“: Daniel Craig ist zum letzten Mal als James Bond im Einsatz.
© Quelle: Nicola Dove/Universal Pictures/d
Ach, was waren das für unbeschwerte Zeiten, als James Bond sich nicht mehr merken musste als den Namen seines Lieblingschampagners (Bollinger), die Zubereitung seines Martinis („geschüttelt, nicht gerührt“) und seinen Namen. Damals verfügte die Filmfigur Bond noch nicht über ein Gedächtnis. Jeder neue Film war eine Variation des Immergleichen. Ewig hätte der Hedonist im Dienste Ihrer Majestät um den Globus jetten und überteuerte Markenprodukte bewerben können.
Dann kam Daniel Craig. Es begann die Ära des Schmerzes, der verlorenen Liebe und des Verrats. Von nun an war Bond dazu verdammt, sich zu erinnern. Dabei war Craigs Debüt „Casino Royale“ (2006) ursprünglich keineswegs gedacht als Beginn einer großen Erzählung. Doch nun hat sich im fünften Film „Keine Zeit zu sterben“ so viel Vergangenheit in Bonds Kopf abgelagert, dass er zum Gefangenen seiner Erinnerungen wird.
Läuterung des sexistischen Machos Bond
Mit verkniffenem Mund durchstreift Bond dieses letzte Abenteuer, das ohne Corona schon vor eineinhalb Jahren auf die Leinwände gekommen wäre. Bond muss sich schon anstrengen, um seinen bissigen Humor wenigstens momenteweise wiederzufinden. Allerdings ist das auch nicht ganz leicht, wenn nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst beim MI 6 nun eine Frau seine Dienstnummer 007 trägt (selbstbewusst: Lashana Lynch). Mit diesem Film ist die Läuterung eines sexistischen Machos endgültig abgeschlossen: Bond hat gelernt, das andere Geschlecht zu akzeptieren – auch am Steuer eines Hightech-Flugzeugs, wenn er nur Passagier sein darf. Zeigt hier jemand (ein bisschen) nackte Haut, dann ist er dies und nicht sein weibliches Gegenüber.
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Erst einmal trägt eine Frau seine Dienstnummer 007: Lashana Lynch als Nomi und Daniel Craig als James Bond.
© Quelle: Nicola Dove/Universal Pictures/d
Zu Beginn ist Bond auf einem Honeymoon-Trip mit seiner Geliebten Madeleine Swann (Léa Seydoux), die wir schon aus „Spectre“ kennen. Die Reise führt ihn nicht zufällig dahin, wo seine erste große Liebe begraben liegt. Und so steht Bond im verschachtelten süditalienischen Matera alsbald am Grab von Vesper Lynd, jener Frau, die ihn in „Casino Royale“ erst verraten und dann Selbstmord im Unterwasser-Fahrstuhl in Venedig begangen hatte.
Vergangenheit hat Bond längst eingeholt
„Ich vermisse dich“, murmelt er zwischen zusammengebissenen Zähnen. Auf einen kleinen Zettel hat er „Verzeih mir!“ geschrieben und verbrennt ihn symbolträchtig. Dann explodiert der Grabstein. Und auch wenn Bond es noch nicht weiß: Die Vergangenheit hat ihn in diesem Moment eingeholt. Sein aus tiefer Enttäuschung gewachsenes Misstrauen ist geweckt – und dieses hat noch keiner Beziehung gutgetan. Der verbitterte Agent zieht sich als Frührentner mit Fischerharpune zurück nach Jamaika, wo Ian Fleming einst seine Bond-Romane schrieb. So viel Festhalten an Tradition muss sein – gerade jetzt, da Craig-Bond endgültig dabei ist, eine Eigenständigkeit zu entwickeln, die mit seiner bisherigen Kinoexistenz kaum mehr zu vereinbaren ist.
Einen ganzen Film lang ist der Spion damit beschäftigt, die losen Enden der vergangenen Filme zusammenzuführen. Er hat dafür viel Zeit, vielleicht sogar einen Tick zu viel, wie die brillant choreografierten und doch etwas länglichen Kampfszenen zeigen: Mit 163 Minuten ist „Keine Zeit zu sterben“ länger als jeder der 24 Bond-Filme zuvor. Regisseur Cary Fukunaga, der erste mit diesem Job betraute Amerikaner (der ursprünglich gebuchte Brite Danny Boyle schied nach künstlerischen Differenzen aus), gibt Bond viel Raum fürs Abschiednehmen – und am Ende auch für eine ordentliche Portion Pathos.
„Keine Zeit zu sterben“ ist vor Corona gedreht worden – und zeigt doch Parallelen
Erst einmal aber muss Bond wieder aktiviert werden. US-amerikanischer und britischer Geheimdienst stehen zeitgleich auf Jamaika bei ihm vor der Tür: Ein Wissenschaftler ist nach Kuba entführt worden. Er könnte eine biochemische Waffe, herangezüchtet in geheimen MI6-Laboren, in Umlauf bringen, die die Menschen bei jeglichem Kontakt untereinander zur tödlichen Gefahr macht. „Keine Zeit zu sterben“ ist vor Corona gedreht worden – aber geradezu prophetisch fallen hier uns heute so geläufige Begriffe wie Quarantäne. Die Spuren führen zur Verbrecherorganisation „Spectre“ und damit auch zu Ernst Stavro Blofeld (Christoph Waltz). Eingekerkert beinahe wie einst Hannibal Lecter sitzt er in London im Hochsicherheitsgefängnis.
Dann bekommt es Bond mit einem noch perfideren Schurken mit dem sprechenden Namen Lyutsifer Safin zu tun. Mit teuflischer Sanftheit spielt Rami Malek (der oscarprämierte Freddie Mercury in „Bohemian Rhapsody“) den schwer Traumatisierten mit dem verätzten Gesicht. Jeder hat hier sein Päckchen aus der Vergangenheit zu tragen. Auch der Oberbösewicht ist letztlich eine geschundene Seele. Erst recht gilt das für Madeleine Swann, der eine wahre Horrorgeschichte aus Kindertagen noch vor dem Vorspann vergönnt ist. Diesen Ehrenplatz hatte sich sonst Bond für erste Actioneinlagen reserviert. Jetzt ist es Zeit zum Gruseln nicht nur für kleine Mädchen.
Craig hat Bond-Ikone menschlich gemacht
Wohl kein anderes Werk ist in diesem Herbst von Kinobetreibern und vom Publikum gleichermaßen so heiß ersehnt worden wie dieser Bond-Film. Auf keinem anderen liegen so hohe Erwartungen. Dahinter muss „Keine Zeit zu sterben“ hier und da zurückbleiben, auch wenn es mindestens so persönlich wie im immer noch glänzendsten Bond-Juwel „Skyfall“ (2012) wird, in dem Chefin M (Judi Dench) starb.
Und wir erleben echte Überraschungen. Oder hätte sich jemand vorstellen können, dass James Bond mal Apfelringe fürs Frühstück eines Kindes schnipselt? Noch mehr macht hier Staunen, darf aber nicht verraten werden. „Keine Zeit zu sterben“ ist ein würdiger Abschluss einer Ära. Daniel Craig hat die Ikone Bond menschlich gemacht.
„James Bond 007: Keine Zeit zu sterben“, Regie: Cary Fukunaga, mit Daniel Craig, Léa Seydoux, Rami Malek, Lashana Lynch, 163 Minuten, FSK 12