„Junge, hast du nichts gelernt?“ Die Ärzte spielen 19 neue Songs und feiern die Demokratie

Dunkel ist das neue hell: Farin Urlaub (von links), Bela B und Rodrigo Gonzalez von der Band Die Ärzte haben nach elf Monaten schon wieder ein Album veröffentlicht.

Dunkel ist das neue hell: Farin Urlaub (von links), Bela B und Rodrigo Gonzalez von der Band Die Ärzte haben nach elf Monaten schon wieder ein Album veröffentlicht.

„Hell“ heißt, nur damit das keiner missversteht, immer auch Hölle. Und „Dunkel“ na ja, spricht für sich, wobei: In der Hölle ist es wegen des vielen Feuers ja nicht dunkel, sondern hell. Die Ärzte, in Corona-Zeiten ganz sicher eine der wichtigsten Bands auf Erden, haben binnen Jahresfrist ein zweites Album auf den Markt gebracht. Auf „Hell“ folgt „Dunkel“, die drei von der Punkstelle fassen sich einerseits knapp – jeder Songtitel (bis auf einer) besteht aus nur einem Wort. Und gleichzeitig ufern sie aus: 19 Songs! Wow!

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Song 1: „KFM (Karnickelf*ckmusik)“

„Wir sagen ‚Springen!‘ und du fragst: ‚Wie hoch?‘“, geht es auf dem Opener „KFM“ erst mal ziemlich funky zu, bevor es punky wird: „Unser Soundtrack für die Bundesrepublik – Karnickelf*ckmusik.“ Für letztgenanntes Wort steht das Akronym des Songtitels. Tja, wer auf Kommando springt, der war schon länger nicht mehr auf einem Ärzte-Konzert. Warum noch mal haben die eigentlich ihre Tour abgesagt?

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Song 2: „Wissen“

„Der Albtraum ist vorüber“ im zweiten Song namens „Wissen“ – einem rasanten Antibeziehungstrip in Form eines Lieds, das zum Pogo-Tanzen einlädt. „Ich will nicht wissen, wie es dir geht“, heißt es vom „Überlebenden“ einer Zweisamkeit, unterlegt von „Westerland“-ähnlichen Harmonien, und zwischendrin nadelt noch eine Dick-Dale-Surfgitarre. „Du hast nie verstanden, dass es nicht nur um dich geht.“ Nein, da will keiner von der Insel zurück aufs Festland der Beziehung.

Song 3: „Dunkel“

Im Titelsong „Dunkel“ – the docs go disco – erzählt Bela B von (s)einer Kindheit. „Ich kam auf die Welt und fing an zu schrei’n“, singt er, und dass er gleich mal in ein schwarzes Babytuch gewickelt wurde. „Ich will das Dunkel und was es mit mir macht“ ist sein Credo. Ständig habe er zum Arzt gemusst – tja, irgendwoher müssen Bandnamen ja kommen.

Song 4: „Anti“

„Anti“ – richtig bockbeiniger Rumbatz-Hardrock mit Science-Fiction-Orgeln. „Faschismus oder Amputation“ steht da zur Wahl, ferner „Rassismus oder Rezession“, „Priapismus oder Kastration“ – „wenn das meine Wahl ist, bin ich gegen alles“. Endfrage: „Brennst du noch oder explodierst du schon?“ Antwort: Auf jeden Fall!

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Song 5: „Doof“

„Nazis sind Nazis, weil sie Nazis sein woll’n, und meine Oma hat den Grund dafür gekannt“, heißt es zum Ska-Offbeat in „Doof“, in dem die Ärzte die Rechten genau so doof finden wie zuvor. Und was Großmutter wusste: „Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen, nicht beim allerbesten Willen.“ „Muss denn unser Hirn verrosten von dem Bullshit dieser Pfosten?“, fragen die Ärzte weiter und sagen allen vermeintlichen Protestwählern, dass man sich daraus nicht herausreden kann: „Niemand wählt Nazis nur aus Unwissenheit.“ Der erste Ärzte-Tipp für übermorgen an der Urne.

Song 6: „Schrei“

Midtempo-Gitarrenrock für „Oh-ey-oh!“- Stadionchöre. „Schrei“, der mit Furor hinausgeschriene Song über das Innerste: „Tief in mir sitzt ein Mann, / der ganz mächtig wütend schreien kann.“ Wutbürger, Querdenker, Reichsbürger, Impfverunglimpfer gibt es ja nicht zu knapp in der Karnickelrepublik. Sind sie hier gemeint? „Kein Kraut und Medizin / kann ihm die Luft entzieh’n“, heißt es weiter. Wenn drei Ärzte das sagen, muss es wohl stimmen.

Song 7: „Kraft“

„Kraft“ – Trommelrollen zu Beginn, der Bass groovt. „Worte haben Kraft“ ist das Plädoyer für die Sprache und die Warnung vor ihrem Missbrauch. Worte fördern Gewalt und beenden Kriege. „Krrraft“ wird dabei gerollt, als käm’s über Rammstein-Lippen.

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Song 8: „Schweigen“

Ärzte go Electro-NDW: „Schweigen“ – Bummtschaka vom Plasteschlagzeug, Synthpop von den Poppunks. „Ein Herz trocknet erst, dann zerbricht’s“ heißt es in dem Liebesendzeitsong, und dann gefühlt 100-mal „mein Schweigen ändert nichts“. Kann man beim nächsten Durchgang einfach skippen. Schweigen ist nicht nur hier nicht Gold.

Song 9: „Tristesse“

Bonjour, „Tristesse“! Das ist im Intro und Refrain gitarrenflirrender, von einer Bläserbrise durchzogener Latinpop für die Urlaubsinsel. Und musikalisch vielleicht der sonnigste Ärzte-Song überhaupt. Der Icherzähler singt von sich freilich als Spaßverweigerer, Jammerlappen. „Ich weiß, es wird bald regnen, denn schließlich bin ich hier“, singt er, der zu Hause Jazz hört, während alle anderswo feiern. Man wartet auf die Pointe, während die Docs einfach „bonjour, Tristesse“ wiederholen – zum Easy-Listening-Echo weiblicher Stimmen. Gibt keine Pointe. Seufz!

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Song 10: „Kerngeschäft“

Hardrock, Glamrock, mittendrin sogar Rap: Mit „Musik ist älter als Kapitalismus“ wird in „Kerngeschäft“ eine Lanze für das ärztliche Kerngeschäft gebrochen. Zwar ist das Gewerbe weitgehend ideenlos, so wird eingeräumt, aber: Rock ’n’ Roll is here to stay! Oder: „Und wenn die Erde untergeht in Sturm und Weltbrand, / dann bin ich schon auf den Soundtrack gespannt, / werd’ zum Plattenladen laufen, / Vinylversion kaufen.“

Song 11: „Noise“

„Noise“ – das war die erste Single. Schweinsgalopp. Ein Mann im totalen Glück, der die Leere langsam in sich heraufziehen spürt. „Es wird Zeit für etwas Neues/Noise“, singen die Ärzte einen Dialog über Langeweile, Angst. Vorsicht vor der Deprizone.

Song 12: „Einschlag“

Eine Mörderballade – allerdings eine im Düsentriebtempo, mit furios geblasener Mariachitrompete. „Einschlag“ erzählt von eines Cholerikers jäher Entladung. Eine Kleinigkeit nur und das Leben der Liebsten ist aus. Liest man in Corona-Tagen noch öfter als früher in den Zeitungen. „Dunkel“ wird hier richtig dunkel, das Medikament Witz wirkt nicht mehr.

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Song 13: „Anastasia“

Akustikgitarre zu Beginn, dann geht’s ab – und schon wird’s wieder Spaßpunk: „Anastasia“ geht über verkniffene Kerle und ihre Versuche, per Dating-Apps doch mal zum Sex zu kommen. Ein ekliger Typ, den Kollegen den „Iltis“ nennen, dessen innere Werte aber nach eigenen Worten „korrekt“ seien, datet eine schöne Frau, entpuppt sich als Stalkernatur und wird übergriffig, was in der Pointe auf Kosten seiner Testikel geht. „Liebe ist, was wir draus machen“, singt der Solipsist und beschließt: „Meine nächste Frau wird wieder aufblasbar.“

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Song 14: „Besser“

Langsame, bluesige Gitarrenwalze, psychedelisch sich biegende Keyboard­seufzer. In „Besser“ erzählt ein Perfektionist, der an seinen Ansprüchen scheitert. „Und beim nächsten Mal bin ich ein besserer Mann.“ Gib’s auf! Klappt eh nie.

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Song 15: „Nachmittag“

Bis zum Schluss heult in „Nachmittag“ der Wolf, die Mundharmonika fröstelt, Kastagnetten klappern knöchern und die Westerngitarre twangt. Die letale Beziehungs­gewalt­geschichte geht diesmal andersrum: „Es war ein Nachmittag wie dieser, als mein Mädchen mich erschoss …“ singt Westmann Bela B. Zur Lebensdämmerung dämmert ihm: „Liebe ist kompliziert, / ich hätte nie damit gerechnet, dass mir so was passiert.“ Am Himmel waren an jenem Nachmittag wahrscheinlich die „Ghostriders“ unterwegs.

Song 16: „Menschen“

Midtemposong, a cappella zu Beginn, funkelnde Gitarren, bezwingende Melodie: „Menschen“ ist ein Ohrwurm. Die Ärzte lesen Tageszeitung und kommen nach erfolgter Lektüre all der dort versammelten Tor- und Grobheiten zu zwei Ergebnissen. Erstens: „Menschen sind für Menschen nicht gemacht.“ Und zweitens: „Die Menschheit ist ein Arschloch, Baby!“ Gier und Egoismus ist ihre Diagnose für die eigene Spezies. Und es gibt keinen erleichternden Abschlussgag.

Song 17: „Erhaben“

„Erhaben“ beginnt wie ein Song von U2 von (ungefähr) 1986 und erzählt vom glücklichen Narren, dem sein Scheitern Don-Quichote-mäßig ein ums andere Mal als Sieg erscheint, während seine Umgebung sich nicht erwehren kann, dem unablässigen Ritt gegen die Windmühlenflügel eine gewisse Bewunderung entgegen­zubringen. Jeder kennt so jemanden, und nicht nur deswegen ist das der schönste (Pop-)Song des Albums. Und die Menschheit ist eben doch kein Arschloch!

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Song 18: „Danach“

Noch so ein Song vom Ende der Liebe ist „Danach“. Ein Lamento, das aufruft, die Vergangenheit in Ehren zu halten, „bevor das Dunkel kommt und unsere Hoffnung frisst“. Musikalisch eine Verbeugung vor Nick Cave und seinen Bad Seeds.

Song 19: „Our Bass Player Hates this Song“

„Our Bass Player Hates this Song“ ist der Kehraus. Beschworen wird rechtzeitig zum Wahlsonntag die „mächtigste Idee der Galaxie, gebor’n in Griechenland“. Die Ärzte feiern die Demokratie – und wir dachten, die seien Anarchos. Es ist kein Wunder, dass Bassist Rod da irgendwie skeptisch (vielleicht ja auch hasserfüllt) ist, denn etwas oberlehrerhaft geht es schon zu („Junge, hast du nichts gelernt?“), jedenfalls bis die melancholisch kreiselnde Magna-Carta-Akustikgitarre gegen eine elektrische getauscht wird. „Freiheit ist keine App / aus dem World Wide Web“ heißt es pauschal, bevor eine konkrete Wahlempfehlung gegeben wird: „Dein Kreuz gegen Hakenkreuze!“ Und: „Du weißt hoffentlich, es geht nicht ohne dich.“

Noch ein paar Worte

Ziemlich lärmig und dabei textlich seinem Titel gerecht werdend, ist lyrisch zwischen Mittelfinger und „staatstragend“ auf „Dunkel“ alles dabei. Dafür, dass die Album­veröffentlichungs­frequenz von acht Jahren – zwischen „auch“ (2012) und „Hell“ (2020) – auf elf Monate heruntergefahren wurde, ist den Ärzten ziemlich viel eingefallen. Zur Aufnahme in die Top 3 der Alben der „besten Band der Welt“ reicht es indes nicht. Dann wie immer die alte Frage: Ist das Pop, Verrat am Punk? Die Ärzte werden die Letzten sein.

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