Katz-und-Maus-Spiele in der Revolution: das Kinodrama „Eine Sekunde“
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Szene aus dem Kinofilm „Eine Sekunde“.
© Quelle: Mubi
Die Uraufführung von Zhang Yimous „Eine Sekunde“ bei der Berlinale 2019 wurde kurz vor Festivalbeginn wegen „technischer Schwierigkeiten“ abgesagt. Dass dahinter die Zensurbehörden in Peking standen, war offensichtlich. Schließlich war die Story in der Zeit der chinesischen Kulturrevolution angesiedelt – eine Ära, die in den Augen der kommunistischen Parteiführung ein politisch sensibles Terrain darstellt. Erst zwei Jahre später feierte eine vom Regisseur offenbar überarbeitete Filmfassung beim Festival in San Sebastian Premiere.
Im Zentrum steht ein namenloser Mann (Zhang Yi), der Anfang der Siebzigerjahre aus einem Arbeitslager geflüchtet ist. In einem Städtchen nahe der Wüste Gobi will er unbedingt eine Kinovorführung im Kulturzentrum besuchen. Der Sträfling ist auf der Suche: In einem Wochenschaubericht soll seine inzwischen 14-jährige Tochter zu sehen sein, die der Vater seit der Verhaftung nicht gesehen hat. Als das Waisenkind Liu (Liu Haocun) eine der Filmrollen stiehlt, bevor der Film gezeigt werden kann, beginnt eine Katz-und-Maus-Jagd zwischen dem Mädchen und dem Mann, der die Filmrollen beschützen will, damit sie in einer weit entfernten Kolchose gezeigt werden können.
Kollektive Kraftanstrengung
Hier ist der Filmvorführer (Fan Wei), den alle nur „Kino-Onkel“ nennen, der angesehenste Mann der Stadt, treues Parteimitglied und pedantischer Vertreter seiner Zunft. Als die Filmrollen schließlich mit einer Kutsche ankommen, die etliche Meter Zelluloid hinter sich herschleift, ist die Katastrophe perfekt. Alle müssen in einer kollektiven Kraftanstrengung helfen, um die Filmstreifen mit Wasserdampf zu reinigen und mit behutsamen Fächerbewegungen zu trocknen. Schließlich kann der Propagandafilm „Heroische Töchter und Söhne“ vorgeführt werden und auch die Wochenschau. Die Tochter des Flüchtigen ist nur eine kurze Sekunde zu sehen.
Nachdem Yimou sich in den vergangenen Jahren auf systemneutrale Martial-Arts-Meisterwerke wie „Hero“ oder „House of Flying Daggers“ verlegt hat, kehrt er mit „Eine Sekunde“ zu seinen erzählerischen Wurzeln zurück. In seinen frühen, preisgekrönten Filmen wie „Rotes Kornfeld“ (1986) hatte er mit kleinen intimen Geschichten und visueller Opulenz vom großen, gesellschaftlichen Ganzen erzählt.
Yimou zeigt in „Eine Sekunde“ ein klares Bild der Armut und der ideologischen Gleichschaltung zur Zeit der Kulturrevolution. Dabei verfällt er nicht in Schwarz-Weiß-Klischees. Den Filmvorführer etwa zeichnet er zwar als opportunistischen Parteikarrieristen, doch entwickelt er Mitgefühl für die familiären Verluste des Flüchtigen.
In der kollektiven Euphorie, mit der die Stadt sich an die Rettung des Filmmaterials macht, zeigt sich die Konformität der Gesellschaft. Und auch das Kino selbst ist effizientes Mittel politischer Manipulation in pathetischen Propagandaschinken, aber zugleich persönlicher Seelenretter für den Vater.
„Eine Sekunde“, Regie: Zhang Yimou, mit Zhang Yi, Liu Haocun, Fan Wei, 104 Minuten, FSK 12
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