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Die Liebe der anderen – Warum Menschen Menschen brauchen

„Wir werden und wieder umarmen“: Nähe und Berührung sind elementare Bedürfnisse des Menschen (Werbemotiv der Bekleidungsfirma Zalando in Berlin).

„Wir werden und wieder umarmen“: Nähe und Berührung sind elementare Bedürfnisse des Menschen (Werbemotiv der Bekleidungsfirma Zalando in Berlin).

Sie feiern, als gäbe es kein Morgen. Sie tanzen wie losgelassene Kälbchen nach fünf Monaten im Winterstall. Die verwackelten Handypartybilder aus Australien sind eine einzige Explosion der Freude. „Das hier passiert gerade in meiner Stadt hier in Australien im Dezember 2020“, schreibt bei Twitter Champ Chong. „Post-Covid-Festivals beginnen! Wir hatten seit April keinen Covid-Fall mehr in der Gemeinde. Das Leben ist zurück.“

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Das Leben ist zurück. Das heißt: Nähe zu Menschen. Gemeinsames Erleben. Sich umarmen, küssen und herzen, sich an den Händen halten und Schulter an Schulter den Bands auf der Bühne zujubeln. Ohne Angst, ohne Maske. Es sind Bilder wie aus einer fernen Vergangenheit. Aber sie zeigen die Gegenwart in Australien. Und die Zukunft in Europa. Es sind Dokumente der Freude am reinen, elementaren Menschsein – ein Vorgeschmack auf jene massenhafte Eruption der Erleichterung und Ekstase, die sich auch bei uns Bahn brechen wird, sobald das Leben seine sorglose Leichtigkeit zurückerhalten wird. Es ist, wie der Sänger Joris singt: Heut’ kann mit keiner was / Die ganze Welt ist frisch verliebt / In meinem Kopf nur dieses Lied / Nur die Musik.

„Wir sind zur Gemeinschaft geschaffen“

Nur die Musik. Und die anderen. Der Mensch ist ein Herdentier. In seinem Innern läuft ein Programm ab, das älter ist als er selbst, viel älter als ein paar Jahrzehnte Erfahrung. Im Kern ist er Jäger und Sammler geblieben. „Wir sind zur Gemeinschaft geschaffen, wie Füße, wie Hände, wie die untere und die obere Zahnreihe“, schrieb der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel vor 2000 Jahren.

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Wie recht Marc Aurel hatte, spüren nicht nur Verbrecher in Einzelhaft. Das spüren wir alle, wenn uns Corona seit Monaten so vieles von dem verweigert, was dem Leben in normalen Zeiten all die kleinen sinnstiftenden Herzwärmmomente abringt: eine überraschende Begegnung, ein zufällig entdeckter Zauberort, gemeinsame Freude, singen, tanzen. Die zufälligen Glückssekunden des Menschseins entstehen meist in Gemeinschaft. Der Mensch „für sich allein“ sei nur ein „verlassener Robinson“, schrieb Arthur Schopenhauer. „Nur in der Gemeinschaft mit den andern ist und vermag er viel. „Und schon Aristoteles stellte fest: Wer nicht in Gemeinschaft leben könne, sei „entweder ein Tier oder ein Gott“, sicherlich aber nicht: ein Mensch.

Im Spiegel der anderen verorten wir uns selbst

Gewiss, die anderen können „die Hölle“ sein, wie Jean Paul Sartre schrieb, der große Gemeinschaftsskeptiker, der dem existenzialistischen Glauben anhing, der Mensch könne sich selbst nur im Erleben seiner selbst verstehen, alles Weitere seien Selbsttäuschung und Unaufrichtigkeit. Das kommt schon mal vor. Wer wüsste das nicht besser als Familien zu Weihnachten? Manche Eskalation unterm Tannenbaum kündet davon. Denn niemand quält sich gegenseitig so zielgenau und wirkungsvoll wie eine Familie. Warum? Weil sie exakt weiß, welche Punkte zwicken. Im Kern aber brauchen wir die Herde – als soziale Wesen, die wir sind. Die Herde gibt Sicherheit. Hier trainieren wir soziale Normen, hier bekommen wir glaubwürdige Überlebenstipps, hier vermischen sich die Auren zu etwas Neuem.

Die Sehnsucht nach Gemeinschaft hat evolutionäre Gründe. Im Spiegel der anderen verorten wir uns selbst. Wir brauchen ein Gegenüber – als soziales Korrektiv, als emotionalen Sicherheitsanker. Gemeinsam jagen, gemeinsam leben. Wer lange allein lebt, neigt zur Verzauselung. Denn das Gehirn ist darauf spezialisiert, Gruppendynamiken zu entschlüsseln: Worum geht es gerade? Was ist das Ziel? Wie kann ich helfen? Unser ganzer Körper ist als Kommunikationsapparat gestaltet: mit klarer Stimme, ausdrucksvollem Gesicht, hellem Augenweiß, aufrechtem Gang, freien Händen und wenig Behaarung, die Gestik und Mimik kaschieren könnte. Botenstoffe wie das Kuschelhormon Oxytocin lehren uns, dass Nähe Wohlgefühl erzeugt. Oxytocin schützt vor Stress, Infektionen, Schmerzen, Herzerkrankungen und seelischen Tiefs. Denn „in jedem Gemeinschaftserlebnis schmecken wir etwas von dem Wunder und der Jugend des ersten Schöpfungstages“, wie der deutsche Schriftsteller und Diplomat Gerhard von Mutius notierte.

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Unsere ganze Kultur ist auf Gruppen ausgelegt

Verantwortlich für unsere Kuschelsehnsüchte ist der Hirnstamm, der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil des Gehirns. Er regelt die Basisfunktionen: Automatismen wie Atmung und Verdauung, aber auch das menschliche Bedürfnis nach Anschluss. Diese tief liegende Hirnregion hat größeren Einfluss auf uns als die Großhirnrinde, die eher logisches und bewusstes Denken steuert.

Der Mensch für sich allein vermag gar wenig und ist ein verlassener Robinson: nur in der Gemeinschaft mit den andern ist und vermag er viel.

Arthur Schopenhauer,

Philosoph

Wenn das tiefe Bedürfnis nach Nähe aber keine Nahrung bekommt, wenn Menschen einsam bleiben, können sie krank werden, seelisch wie körperlich. Auch das ist ein Grund, warum die Coronazeit auf Geist und Glieder so schlauchend und tief erschöpfend wirkt. Es hilft, über das sprechen zu können, was einen umtreibt. In „mitteilen“ steckt eben auch „teilen“. Und: Im Bermudadreieck zwischen Sofa, Bett und Homeoffice fehlt die belebende Kraft von Erlebnissen. Menschen wollen Teil einer Gemeinschaft sein. Unsere ganze Kultur ist auf Gruppen ausgelegt: Familie, Kollegien, Arbeitsgruppen, Kindergartengruppen, Vereine, Schulklassen, Parteien, Organisationen, Musikensembles – überall feilen wir evolutionspsychologisch unbewusst an unserer sozialen Identität. Und sich ausgeschlossen fühlen kann sehr wehtun.

Männer, speziell weiße, sind die einsamsten Menschen der Welt

Platon im antiken Griechenland hielt die tiefe Freundschaft, die über alles Begehren weit hinausreicht, für die erfüllendste, wertvollste Beziehung eines Menschen überhaupt. Auch Männer, die über die drei großen Tabus ihrer Existenz sonst kein Sterbenswörtchen verlieren – Gefühle, Gemüse und Geld – kompensieren ihre Intimitätsbedürfnisse beim halb lockeren Schulterklopfen, beim Faust-an-Faust-Fistbump oder in den verschwitzten Jubeltrauben beim Fußball.

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Wir dachten lange, Männer bräuchten einfach nicht so viel Nähe und Rückhalt wie Frauen. Aber das stimmt nicht. Sie sehnen sich genauso nach seelischer Intimität. Sie wissen bloß nicht, wie das geht.

US-Autorin und Soziologin Lisa Wade

Ihre Not ist besonders groß. Frauen haben beste Freundinnen, man redet, hadert, testet. Männer aber, speziell weiße, mittelalte Exemplare, sind soziologisch gesehen die einsamsten Menschen der Welt. Keine andere Gruppe hat weniger enge Freunde, keine ein weitmaschigeres soziales Netz. Freundschaften aber sind gesund. Menschen mit guten Freunden haben gegenüber Einsamen eine um bis zu 60 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit, in den nächsten zehn Jahren zu sterben. Und: Die Männer ahnen das. „Wir dachten lange, Männer bräuchten einfach nicht so viel Nähe und Rückhalt wie Frauen“, schreibt die US-Autorin und Soziologin Lisa Wade. „Aber das stimmt nicht. Sie sehnen sich genauso nach seelischer Intimität. Sie wissen bloß nicht, wie das geht.“

„Niemand ist eine Insel“

Im Moment geht: fast nichts. Corona pflockt uns im Leben an wie eine Ziege. Plötzlich ist unser Erlebnisradius kaum größer als der eines Menschen im 17. Jahrhundert. Der Mensch ist aber nicht zum Alleinsein gemacht. Die empirische Forschung zeigt, dass Eheleute länger und gesünder leben. Und dass Kinder aus stabilen Familien größere Chancen auf Glück haben. Die Zahl der Einpersonenhaushalte in Deutschland aber stieg seit 1991 von 11,8 auf 17,3 Millionen.

Die hoffnungsfrohen Bilder der ekstatisch tobenden jungen Australier zeigen: „Niemand ist eine Insel“, wie der englische Poet John Donne im 17. Jahrhundert schrieb. Die Gruppe bietet Futter und Schutz – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Das Futter der Anregung, die Nahrung der Nähe, aus der Glück entstehen kann, ist ein knappes Gut in diesen seltsamen Weihnachtstagen 2020. Aber so viel scheint sicher: Eines Tages werden auch wir wieder tanzen. In meinem Kopf nur dieses Lied / Nur die Musik.

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