Warum immer mehr Menschen ihre Romane selbst verlegen
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Der Wunsch vieler Schreibender: Ein eigenes Buch veröffentlichen.
© Quelle: Jan Woitas/dpa
Hannover. Dieser Satz, den Tamara Leonhard sagt, den hört man von fast allen Autorinnen und Autoren: „Ich habe immer schon geschrieben.“ Sie habe früh eine Leidenschaft fürs Geschichtenerzählen entwickelt, für Musik, überhaupt für alles Kreative. Als sie elf war, rettete Leonhard eine alte Schreibmaschine vor dem Sperrmüll und erklärte, dass sie jetzt einen Pferderoman schreiben wolle. Auf ihrer Website sieht man ein Foto der elfjährigen Tamara an einer grauen Schreibmaschine. Selbst für die nicht sonderlich große Maschine wirken ihre Finger viel zu klein. Am Schreiben der Pferdegeschichte hat es das Mädchen nicht gehindert.
Mittlerweile lebt Leonhard, geboren 1982 in der Schweiz, in Frankreich, ein paar Kilometer entfernt von der Grenze zum Saarland, wohin sie als 13-Jährige mit ihren Eltern gezogen ist. Sie hat Germanistik und Anglistik studiert und dann im Marketing gearbeitet, sie hat Theater gespielt und gesungen – und sie hat weiterhin geschrieben. Bis heute.
Die Zahl derjenigen, die schreiben, ist immens. Es gibt die professionellen Autoren und Autorinnen. Und es gibt daneben viele weitere Männer, Frauen und auch Jugendliche mit literarischen Ambitionen. In zahlreichen Städten existieren regelmäßige Schreibtreffs, und auch Volkshochschulen bieten mittlerweile Schreibworkshops an. Dort treffen sich vorwiegend Menschen, die nach einem einschneidenden Erlebnis – sei es nach einer Krankheit oder dem Verlust eines Angehörigen – ihre Erfahrungen reflektieren und zu Papier bringen möchten. Und ziemlich viele von ihnen träumen davon, ihr Manuskript auch zu veröffentlichen, am liebsten bei einem renommierten Verlag.
Text muss ins Programm passen
Das jedoch ist alles andere als einfach – auch wenn die Zahl der Neuerscheinungen enorm ist. Im Jahr 2021 kamen nach Angaben des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels 71.640 Titel neu auf den Markt, davon waren 63.992 Erstauflagen. Die Belletristik macht davon knapp 32 Prozent aus. Und selbst das ist nur ein Bruchteil dessen, was an Texten in Deutschland entsteht. Die Verlage prüfen sehr genau, welche Bücher in ihre Programme passen und Erfolg versprechen. Der Traum mancher Schreibender, ein Manuskript einfach mal so an einen Verlag zu schicken, dort auf Begeisterung zu stoßen und bald drauf das gedruckte Buch in der Buchhandlung zu finden, bleibt in den allermeisten Fällen genau das: ein Traum.
„Im Regelfall gelangen Manuskripte heute über eine literarische Agentur an einen Verlag“, sagt Marcel Hartges, der 2016 seine Agentur in München gegründet hat. Mehrere Jahre leitete der 60-Jährige zuvor den Rowohlt-Taschenbuch-Verlag in Reinbek, wechselte dann als Chef des Dumont-Buchverlags nach Köln und anschließend zum Münchner Piper-Verlag. Seine Agentur vermittelt nicht nur Autoren und Autorinnen an Verlage, sondern handelt dort auch die Veröffentlichungskonditionen aus und kümmert sich um jegliche Fragen zu Rechten, etwa für Übersetzungen oder auch Podcasts. Hartges vertritt Bestsellerautoren und -autorinnen wie das Duo Volker Klüpfel und Michael Kobr, Ildikó von Kürthy und Ferdinand von Schirach und auch Debütantinnen wie Claudia Schumacher, die gerade mit ihrem Roman „Liebe ist gewaltig“ für Aufmerksamkeit sorgt.
Agenturen sortieren vor
Pro Jahr kämen drei, vier neue Autoren in seine Agentur, sagt Hartges. Auf die meisten von ihnen werde er durch sein „Netzwerk“ aufmerksam, etwa durch Empfehlungen von anderen Schriftstellern. Mit unverlangt eingesandten Manuskripten arbeite er kaum. Grundsätzlich habe sich die „Gatekeeping-Funktion“ von Verlagen auf Agenturen verlagert, meint er. Das heißt: Die Vorsortierung, was für eine Veröffentlichung in Frage kommen könnte, liegt weitgehend bei Agenturen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass aus einem auf gut Glück bei einem Verlag eingeschickten Manuskript ein Buch wird, ist sehr gering. In seiner Zeit als Piper-Chef sei von 5000 unverlangt eingesandten Texten vielleicht einer genommen worden, so Hartges. Doch er ist überzeugt: „Autoren und Autorinnen, die wirklich gut sind, finden den Weg zum Verlag.“
Bei Verena Keßler funktionierte das über eine Empfehlung. Die gebürtige Hamburgerin, Jahrgang 1988, hatte an einem Textworkshop teilgenommen. Die Dozentin war von dem Manuskript, an dem die junge Autorin arbeitete, überzeugt und empfahl sie dem Verlag Hanser Berlin. Dort ist im August 2020 Keßlers Debütroman „Die Gespenster von Demmin“ erschienen. Zum einen ist das Buch eine klassische Coming-of-Age-Geschichte einer 15-Jährigen aus der vorpommerschen Kleinstadt. Zum anderen erzählt der Roman von einer alten Frau, die mit ihrer Schwester den Massenselbstmord von Demmin überlebt hat. Bei dem Massensuizid, der tatsächlich geschah, haben sich Ende April, Anfang Mai 1945 Hunderte von Frauen und Kindern aus Angst vor der heranrückenden Roten Armee das Leben genommen. „Die Gespenster von Demmin“ wurde hoch gelobt und mit dem Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium ausgezeichnet.
Auch Verena Keßler schreibt schon lange. Nach dem Abitur hat sie als Texterin bei einer Werbeagentur gearbeitet und später am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Dort haben Schriftsteller und Schriftstellerinnen wie Juli Zeh, Nora Bossong und Clemens Meyer ihren Abschluss gemacht. Am Institut hat die Hamburgerin auch ein Seminar besucht, in dem es um die Tücken des Autorenalltags ging – von der Steuererklärung bis zur Aufnahme in die Künstlersozialkasse, in der selbstständige Kunstschaffende versichert sind. Auch Literaturtheorie wird in Leipzig gelehrt, doch vor allem „setzt man sich dort drei Jahre lang intensiv mit dem Schreiben auseinander“, schildert die Autorin, die mittlerweile in Leipzig lebt. „Ich habe gelernt, einen Text daraufhin zu lesen, ob er funktioniert. Man liest den eigenen Text quasi mit der Brille eines Lektors.“
Ihr sei während des Studiums geraten worden, zu einer literarischen Agentur zu gehen, erzählt sie. Bei ihrem ersten Buch habe sie das nicht gemacht; für ihrem zweiten Roman, der im Frühjahr 2023 ebenfalls bei Hanser Berlin erscheinen wird, aber sei sie dann doch zu einer Agentur gegangen. Sie wolle das einfach mal ausprobieren, sagt Keßler.
Weiterbilden und verbessern
Wenn die Autorin von ihrer Studienzeit erzählt, wird klar: Das Leipziger Institut trägt zur Professionalisierung junger Schreibender bei. Nachwuchsautoren und ‑autorinnen können sich dort ausprobieren, weiterbilden, verbessern. Ähnlich wie an der Universität Hildesheim in den Studiengängen Literarisches Schreiben und Kulturjournalismus, Kulturwissenschaft und Künstlerische Praxis sowie im Masterstudiengang Literarisches Schreiben und Lektorieren. „Niemand, der oder die zu uns kommt, will lernen, einen Roman zu schreiben – alle bringen ja schon Schreiberfahrung mit, oder zumindest das Bedürfnis, sich schreibend mit der Gegenwart zu beschäftigen“, sagt Professorin Annette Pehnt, Leiterin der Studiengänge. „Mit dieser Grundausstattung ausgerüstet, schulen sie ihre Kenntnisse, ihre Selbstbeobachtung, ihr Gespür für Schreibweisen, ihr Formbewusstsein.“
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Reichlich Interessierte auf der Buchmesse: Das erhoffen sich Autoren und Selfpublisher.
© Quelle: dpa
Das bedeutet nicht, dass man sich fern aller Realitäten des Literaturbetriebs bewegt. „Viele junge Autoren und Autorinnen haben den literarischen Markt genau im Blick – und kennen sich oft besser aus als die Lehrenden“, sagt Pehnt. Zugleich solle das Literaturinstitut aber auch in gewisser Weise ein Schutzraum sein. „Nicht alles, was man ausprobiert, muss funktionieren; es gibt die Freiheit zu scheitern, und Marktgängigkeit ist kein guter Ratgeber, wenn man sich ausprobieren möchte“, findet die Professorin. „Aber naiv ist bei uns niemand, wir analysieren den Markt kritisch, haben immer wieder Gäste aus dem Literaturbetrieb und bieten Seminare in Literaturbetriebswirtschaft an.“ Wer an den Instituten in Hildesheim und Leipzig studiert, scheint zumindest leichter Kontakte zu Agenturen und Verlagen knüpfen zu können, es scheint leichter möglich zu sein, sich zu vernetzen.
Annette Pehnt kennt den Betrieb auch aus der Perspektive der Schreibenden; seit 2001 veröffentlicht sie Romane und Erzählungen. „Und ich war von Anfang an bei einer Agentur, so wie fast alle Autoren und Autorinnen heutzutage“, sagt sie. Sie hatte damals das Glück, sofort einen Verlag zu finden, „dem ich die Treue gehalten habe, und er mir“, so die 55-Jährige. Selbstverständlich sei das alles nicht. „Sehr viele Menschen schreiben, aber nicht so viele Menschen finden sich auf den verschlungenen Pfaden des Literaturbetriebes zurecht.“ Die Hildesheimer Debütanten und Debütantinnen seien schon ganz gut ausgerüstet – „sie sind sozusagen literarisch sozialisiert, können sich im Betrieb bewegen“. Doch Pehnt weiß auch: Gerade jetzt – „nach oder in Corona-Zeiten“ – sei es nicht so leicht. „Kleine Verlage haben wenig Spielraum zu experimentieren, und die großen Verlage haben durchkommerzialisierte Programme mit wenig Mut zum Risiko. Dafür gibt es online neue Möglichkeiten.“
Die Autorin als Verlegerin
Von diesen Onlinemöglichkeiten profitiert auch Tamara Leonhard. Vor ein paar Jahren entstand ihr Roman „Memories of your Smile: Ein Song für Jessica“, der die Liebesgeschichte zwischen einer Uniprofessorin und einem „charmanten Weltenbummler“ erzählt, wie es in der Ankündigung heißt. 2018 hat sie ihren Roman als sogenannte Selfpublisherin herausgegeben, das heißt: Das Buch ist nicht in einem Verlag erschienen, sondern die Autorin hat das Manuskript eigenhändig auf den Markt gebracht, als ihre eigene Verlegerin. Nach einem Verlag habe sie damals gar nicht erst gesucht, erzählt Leonhard. Sie habe einfach zu viele Geschichten darüber gehört, dass Manuskripte abgelehnt werden – selbst J. K. Rowling habe mit ihrem späteren Weltbestseller „Harry Potter“ erst kein Glück bei Verlagen gehabt.
Leonhard hat sich online weitergebildet, sie habe nahezu alles, was sie im Internet über das eigenständige Verlegen an Berichten, Videos und Tutorials gefunden habe, „inhaliert“, wie sie es nennt. Seit 2018 hat sie mehrere Bücher veröffentlicht und ist seit Anfang dieses Jahres erste Vorsitzende des Selfpublishing-Verbands, der rund 1000 Mitglieder hat.
Das Selfpublishing funktioniert, vereinfacht ausgedrückt, so: Autoren und Autorinnen laden ihre Textdateien bei einem oder mehreren Dienstleistern hoch. Dort sind sie dann als E-Book abrufbar oder als gedrucktes Buch verfügbar.
„Es ist reine Typsache, ob man ein Buch als Selfpublisherin herausgibt oder nicht“, meint Leonhard. Ihr gefalle es, alle Entscheidungen eigenständig zu treffen – vom Inhalt über die Covergestaltung bis zur Werbung. Wer sich für dieses Modell entscheide, sollte allerdings dem Digitalen gegenüber aufgeschlossen sein, Spaß daran haben, sich in den sozialen Medien zu präsentieren, und bereit sein, sich ständig weiterzubilden – das betrifft technische Innovationen ebenso wie die Präsentation auf Internetplattformen. Denn die Autorenverleger sind auch ihre eigenen Marketingleute, und die meiste Aufmerksamkeit erzielen sie in sozialen Medien. „Man muss viel investieren, zeitlich und finanziell“, sagt die Autorin.
Vor allem Thriller und Fantasyromane
Die Selfpublisher veröffentlichen auffällig viel in den Genres Thriller, Fantasy oder Liebesromane. Vieles aus dem Bereich sei durchaus ernst zu nehmen, sagt Literaturagent Hartges. Wenn man auch beim Selfpublishing seiner Einschätzung nach nur ein bestimmtes Publikum erreiche – eben die digitalaffinen Leserinnen und Leser von Thrillern, Fantasy oder Liebesromanen. Zudem seien die selbst verlegten Titel im Buchhandel wenig sichtbar.
Es spricht also einiges dafür, bei einem klassischen Verlag unterzukommen – von einem fundierten Lektorat über das professionell gestaltete Cover bis zu der Tatsache, dass dort Presseabteilungen tätig sind, die Lesereisen organisieren und einiges dafür tun, ein neues Buch bekannt zu machen.
Verena Keßler fühlt sich bei einem klassischen Verlag gut aufgehoben. Außerdem sei sie nicht der Typ, sich selbst zu verlegen und zu vermarkten. „Aber wenn es für andere Autoren funktioniert – warum nicht?“, meint sie. „Es sind einfach andere Autorentypen, mit anderen Geschichten und auch einer anderen Zielgruppe.“
Auf dem riesigen Literaturmarkt kann die Welt der Selfpublisher ebenso existieren wie die der klassischen Buchverlage. Jede Sphäre hat allerdings ihre Probleme: Der klassische Buchmarkt und vor allem die Buchhändler kämpfen – trotz eines zwischenzeitlichen Hochs in der ersten Corona-Zeit – mit schwindenden Umsätzen und einer immer stärkeren Konzentration auf wenige Bestseller, die das Geld bringen. Die Selfpublisher damit, dass weite Teile einer traditionellen Leserschaft sie nicht wahr- oder ernst nehmen. Denn auch wenn viele Selbstverleger erfahrene Autoren sind, gibt es zahlreiche Hobbyautoren unter ihnen, deren Texten eine Qualitätskontrolle gutgetan hätte. Manches in diesen Welten läuft getrennt voneinander, doch manchmal berühren die beiden Welten sich und erfolgreiche Selfpublisher wie Nele Neuhaus wechseln zu einem klassischen Buchunternehmen.
Verdienst ist selten hoch
So hart viele Schreibende auch für ihren Traum vom Buch arbeiten: Überdurchschnittlich verdient in Deutschland kaum ein Schriftsteller – das schaffen nur wenige Bestsellerautoren, deren Romane in mehrere Sprachen übersetzt, verfilmt und für die Bühne bearbeitet werden und als Hörbuch erscheinen. Bei einem klassisch verlegten Buch wollen viele mitverdienen, neben dem Verleger auch der Buchhändler. Nach Auskunft des Deutschen Schriftstellerforums bekommt eine literarische Agentur, wenn sie einen Titel erfolgreich bei einem Verlag platziert hat, eine Provision von 15 bis 20 Prozent der gesamten Erlöse. Der Autor erhält schließlich – je nach Vertrag – etwa 10 Prozent von jedem verkauften Buch. Der Jahresdurchschnittsverdienst eines Schriftstellers lag hierzulande laut dem Branchenblatt „Buchreport“ 2020 bei 18.620 Euro.
Manche Selfpublisher können von ihrer Arbeit gut leben. Schon 2015 erreichte die deutsche Autorin Poppy J. Anderson mit ihren Liebesromanen über US-Footballspieler mehr als eine Million Downloads. Dabei geht – je nachdem, bei welchem Distributor Selfpublisher veröffentlichen – der größte Teil des Umsatzes an die Autoren selbst.
Vom Verkauf ihrer Bücher könne sie zwar nicht existieren, sagt Tamara Leonhard, wohl aber von ihrer Tätigkeit im Literaturbereich. Sie arbeitet unter anderem als Lektorin und produziert einen Literaturpodcast. Die neue Autorengeneration muss sich breit aufstellen – nur schreiben zu können, reicht nur selten.