Bettina Flitner im Interview: „Es dauert eine Sekunde, und deine Schwester ist tot“
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Hat ein berührendes Buch geschrieben: Bettina Flitner.
© Quelle: Bettina Flitner
Frau Flitner, Sie haben ein bewegendes Buch über den Selbstmord ihrer Schwester geschrieben. Sie beschreiben darin, dass Sie irgendwann Ihren Laptop aufgeklappt und angefangen haben zu schreiben. Wann ist denn die Entscheidung gereift, über dieses sehr persönliche Thema ein Buch zu verfassen?
Tatsächlich beim Schreiben. Ich habe vorher nicht darüber nachgedacht. Eigentlich ist ja die Fotografie mein Metier, und so habe ich etwa zwei Jahre nach dem Tod meiner Schwester überlegt, ob und wie ich diesen Verlust fotografisch aufarbeiten kann. Aber ich habe dann bald gemerkt, dass das nicht geht. Der Gedanke, es schreibend zu versuchen, hat sich tatsächlich erst in dem Moment entwickelt, in dem ich den Laptop aufgeklappt habe. Auch dass es ein Buch wird, wusste ich lange nicht. Ich habe einfach angefangen zu schreiben.
Was ist dieses Buch jetzt für Sie? Ist es ein Abschluss, ist es ein Grabstein, eine Erinnerung oder vielleicht der Anfang von etwas?
Wahrscheinlich alles zusammen. Wenn das zweimal passiert – meine Mutter hat sich ja ebenfalls umgebracht – dann ist das wie ein Schicksalsschlag, wie ein Blitz, der vom Himmel kommt und in dich einfährt. Man fühlt sich so ausgeliefert. Man denkt permanent, alles kann jederzeit passieren. Dadurch, dass ich die Verarbeitung der Situation nach dem Tod meiner Schwester nun selbst in die Hand genommen habe, ist es eine große Befreiung. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass eine solche Tragödie permanent passieren kann. Ich habe die Geschichte mit meinen eigenen Worten geformt und sie mir dadurch angeeignet.
„Der Selbstmord meiner Mutter ist sehr weit weg“
Roger Willemsen hat in seinem Buch „Der Knacks“ den Satz geschrieben: „Mein Vater starb letzten August. Das ist jetzt bald 40 Jahre her.“ Können Sie mit dem Satz etwas anfangen, wenn Sie an Ihre Mutter und an Ihre Schwester denken?
Den Selbstmord meiner Mutter habe ich versucht wegzuschieben. Ich hatte damals nicht nur Trauer, sondern auch Wut gespürt: Wie kann es passieren, dass jemand sich einfach das Leben nimmt, ohne sich zu verabschieden, ohne es zu erklären, und so ungeheuer viele Fragen hinterlässt, die man nie beantworten kann? Meine Mutter starb vor achtunddreißig Jahren, und für mich ist es schon sehr, sehr lange her, es fühlt sich an wie das Doppelte. Es ist sehr weit weg.
„Meine Schwester ist mir wieder ganz nahe gerückt“
Und bei Ihrer Schwester?
Bei meiner Schwester ist es genau das Gegenteil. Indem ich über sie geschrieben habe, ist mir meine Schwester jetzt wieder ganz nahe gerückt. Nach einem solchen Ereignis überdeckt der Tod alles, wie ein Tuch, das über allen Erinnerungen liegt. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Der Tod ist wieder abgelöst worden durch das Leben. Es geht in meinem Buch ja auch sehr viel ums Leben. Der Tod meiner Schwester war zwar der Auslöser, aber es geht auch sehr viel um unsere Kindheit und Jugend. Diese Zeit ist mir jetzt wieder viel näher gerückt, als es noch vor drei Jahren der Fall war.
Ich finde auch, das ist wichtig zu betonen: Es ist ein Buch über das Leben.
Aber auch über den Umgang mit der Trauer, den Umgang mit solchen wirklich existenziellen Situationen. Ich kann jetzt wieder auf die Zeit damals schauen, ich muss sie nicht mehr wegschieben.
In Ihrer Familie wurde schon immer sehr offen über Depressionen gesprochen. In der Zeit Ihrer Kindheit und Jugend war die Krankheit in unserer Gesellschaft ja noch viel mehr ein Tabu als heute. Sind wir heute auf einem guten Weg? Oder sprechen wir noch zu wenig über Depression?
Es geht jetzt ja gerade los, dass Menschen beginnen, über ihre Depressionen zu reden. Für mich war das schon immer ein ganz normales Thema. Ich bin damit groß geworden. In jedem Zweig der Familie meiner Mutter gab es jemanden, der Depressionen hatte, irgendjemand hatte sie immer. Und darüber wurde ganz offen gesprochen. Ich selbst habe nie Depressionen gehabt. Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt, aber ich weiß, wie es sich bei anderen Menschen äußert. Und ja, man sollte überhaupt über solche Themen viel, viel mehr reden und sie nicht wegpacken. Das äußert sich auch in meiner fotografischen Arbeit.
Inwiefern?
In meinen Arbeiten behandle ich lauter Themen, über die viele lieber nicht sprechen möchten. Sei es, warum Männer ins Bordell gehen, sei es, dass Männer ihre Frauen schlagen oder warum junge Männer darauf stolz sind „rechts“ zu sein. Es gibt lauter Tabuthemen, die ich in meinen Arbeiten – fotografisch wie auch als Text – bearbeitet habe. Und das ist hier möglicherweise genauso, es ist wieder ein Thema, über das nicht gern gesprochen wird. Wobei dies gar nicht meine Intention war.
„Ich habe oft versucht, meine Mutter aufzuheitern“
Wenn Ihre Mutter depressiv wurde, hat sich das auch auf Sie ausgewirkt: So haben Sie in diesen Phasen etwa keine Bücher mehr gelesen. Gibt es, ähnlich wie es bei Alkoholikern eine Co-Abhängigkeit gibt, eine Art Co-Depression von Kindern, von Angehörigen?
Das ist eine interessante Frage. Für mich fühlten sich diese Phasen immer wie eine Lähmung an: dieses Gefühl, du kannst jetzt gar nichts tun, du bekommst sie da nicht raus. Kinder übernehmen dann auch Verantwortung. Ich habe in solchen Situationen oft versucht, meine Mutter aufzuheitern. Und ja, vielleicht ist es tatsächlich so, dass eine solche Lähmung eine Co-Depression war, dass depressive Menschen die Angehörigen anstecken können. Das kann ich mir vorstellen.
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Bettina Flitner: „Meine Schwester“. Kiepenheuer & Witsch, 313 Seiten, 22 Euro.
© Quelle: KiWi
Sie haben es bereits gesagt, Sie arbeiten als Fotografin. Eine Formulierung lautet – und Sie gebrauchen Sie auch in dem Buch –, dass man ein Ereignis „fotografisch festhält“. Haben Sie nach dem Schreiben des Buchs das Gefühl, man kann die Vergangenheit tatsächlich festhalten?
Ich habe es ganz offensichtlich versucht. Ich habe versucht, meine Schwester in diesen Geschichten von damals, die ich erzähle, wieder lebendig zu machen und sie aus der Vergessenheit zu zerren. Da war auch der Gedanke: Soll das alles umsonst gewesen sein? Es kann doch nicht sein, dass ich eine Schwester habe und sie von einer Sekunde auf die andere nicht mehr da ist. Sie hatte sich morgens umgebracht, das habe ich am Abend des Tages erfahren. Sie war also den ganzen Tag über in meinem Kopf noch lebendig. Und dann bekommst du einen Telefonanruf. Es dauert eine Sekunde, und deine Schwester ist tot. Vor einer Sekunde war sie noch da. Dagegen anzugehen, sie durch das Schreiben wieder ein wenig lebendig zu machen, das spielte sicher eine Rolle.
„Mäandern durch die Vergangenheit“
Sind Ihnen beim Schreiben auch neue Dinge über sich selbst klar geworden?
Nein, das eher nicht. Aber ich habe meine Schwester noch ein bisschen besser kennengelernt. Es geht in dem Buch ja nicht um mich. Es handelt zwar auch von uns beiden. Aber im Wesentlichen versuche ich, meiner Schwester auf die Spur zu kommen: Was kann der Grund für ihren Selbstmord gewesen sein? Warum ist sie in diese Richtung gegangen? Was ist eigentlich passiert in ihrem Leben? Ich habe mich auch schon vor ihrem Tod immer wieder gefragt, wieso diese ehemals starke, strahlende und lustige, tolle Person sich in ein immer engeres Korsett schnürt. Ihr ganzes Leben ist eigentlich immer enger geworden, immer kleiner. Aber ich komme auf kein richtiges Ergebnis. Es gibt auch jetzt nicht die Erkenntnis, mit der ich sagen könnte: Deswegen hat sie sich umgebracht, sondern mein Buch ist ein Kreisen um sie herum, ein Mäandern durch die Vergangenheit, eine Suche hier und da nach einem Puzzlestück.
Ein Wort, das Sie auch öfter benutzen und das allgemein nach einem Selbstmord sehr oft gebraucht wird, ist „hätte“. Hätte ich was merken können? Hätte ich besser hinhören müssen? Hilft Ihr Buch auch ein wenig, sich von diesem vorwurfsvollen Konjunktiv zu lösen?
Ich warte jetzt ab, ob diese Gedanken auch nach dem Schreiben wiederkommen. Ich habe das natürlich permanent im Kopf gehabt, dieses „Hätte“. Ich fürchte, ein Rest wird immer bleiben von der Frage: Warum habe ich es beim zweiten Mal – meine Schwester hatte schon zehn Jahre zuvor versucht, sich das Leben zu nehmen – nicht geschafft, sie im Leben zu halten? Warum habe ich es nicht gemerkt? Ich denke, weil sie noch mehr versteckt hat als in der Zeit davor. Das ist mir beim Schreiben des Buches klar geworden, dass ich gar nicht wusste, in welcher dramatischen Verfassung sie sich befindet. Meine Schwester hat in ihrem Leben immer sehr viel kaschiert.
Ihr Buch endet mit einer sehr persönlichen Erinnerung.
Ja, meine Schwester hat mir einen Koffer gegeben mit verschiedenen Erinnerungsstücken, von dem ich am Ende des Buchs erzähle. Diesen Koffer habe ich tatsächlich erst am Ende meines Schreibens wieder geöffnet, und plötzlich wurde mir klar, dass er schon eine Art Vermächtnis war. Sie muss ihren Tod schon länger geplant haben, denn sie hat mir den Koffer bereits vier Monate vor ihrem Tod gegeben. Sie hat ihn mir mit den Worten überreicht: „Damit du dich erinnerst“. Und das habe ich jetzt getan.
Hier bekommen Sie Hilfe bei Suizidgedanken
In diesem Artikel geht es um Themen wie Selbstmord und Depression. Wenn Sie in einer psychischen Krise sind und Hilfe brauchen, können Sie sich an die Telefonseelsorge unter 0800 111 0 111 (kostenfrei) wenden. Das Infotelefon Depression ist unter der Rufnummer 0800 33 44 5 33 (kostenfrei) zu erreichen.