„Roter Himmel“ und „Music“ – zwei deutsche Filme im Rennen um den Goldenen Bären
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Langston Uibel, Thomas Schubert, Regisseur Christian Petzold, Paula Beer, Matthias Brandt und Enno Trebs auf dem roten Teppich zur Premiere von „Roter Himmel“ während der 73. Berlinale in Berlin.
© Quelle: Getty Images
Berlin. Aus deutscher Sicht nimmt sich der diesjährige Wettbewerb der Berlinale schon fast wie ein Klassentreffen aus. Gleich drei der insgesamt fünf deutschen Filme im Rennen um den Goldenen Bären können der „Berliner Schule“ zugerechnet werden – jener stilprägenden Richtung des deutschen Kinos, die mit formaler Strenge und unkonventionellen, verknappten Erzählformen seit den 90ern auch auf internationalen Festivals große Aufmerksamkeit bekommen hat. Christian Petzold, Angela Schanelec und Christoph Hochhäusler bilden das schulische Dreigestirn.
Mit „Roter Himmel“ ist Petzold nun schon zum sechsten Mal im Wettbewerb. Auf den ersten Blick ein klassischer Sommerfilm, wie man ihn aus dem französischen Kino kennt.
„Roter Himmel“ und eine tief verunsicherte Männerseele
Im Wald unweit des Ostseestrandes steht das Ferienhaus der Familie, in dem Felix (Langston Uibel) seine Bewerbungsmappe für das Fotografiestudium und sein Freund Leon (Thomas Schubert) den zweiten Roman fertigstellen wollen. Aber wie bei „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ ist das Haus bereits von einer Fremden bewohnt. Die Waschmaschine läuft, die Lasagne von gestern steht auf dem Tisch, Handtücher hängen über den Stühlen zum Trocknen. Aber es dauert fast 25 Filmminuten, bis Nadja (Paula Beer) zum ersten Mal ins Bild kommt. Zuvor hören die beiden jungen Männer durch die dünne Schlafzimmerwand nur ihre Stimme beim vergnüglichen Sex.
Dass Leon schon nach der ersten Begegnung mehr als fasziniert von ihr ist, versucht er ungelenk zu verbergen. „Die Arbeit lässt es nicht zu“ sagt er zu ihr, als Nadja ihn auffordert, zum Baden mitzukommen. Am Wochenende wird sein Verleger Helmut (Matthias Brandt) anreisen und ihm wahrscheinlich sein Manuskript um die Ohren hauen.
Während die Emotionen in und ums Ferienhaus zu schwelen beginnen, brennen die trockenen Wälder dreißig Kilometer weiter schon lichterloh. Durchdrungen von einem angenehm unaufdringlichen Humor lässt Petzold die äußeren und inneren Ereignisse kulminieren. Im Zentrum steht dabei die tief verunsicherte Männerseele des kriselnden Autoren, den Thomas Schubert wunderbar linkisch verkörpert. Seinem temporären Vorbild Eric Rohmer kommt Petzold mit „Roter Himmel“ sehr nah, auch wenn dieser konzentriert inszenierte Sommerfilm durchaus tragische Implikationen entwickelt.
„Music“: ein Film zwischen intellektueller Filmkunst und Hardcore-Arthaus
Von einer solchen erzählerischen Nonchalance ist Angela Schanelecs neuer Film „Music“ weit entfernt. Die Regisseurin, die 2019 für „Ich war zuhause, aber …“ mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, inszeniert hier eine sehr freie Variation des Ödipus-Mythos.
Verheißungsvoll ziehen zu Beginn Nebelschwaden über die Bergwipfel, um sich zu einem Gewitter zu verdichten. Ein Säugling wird in einem Ziegenstall gefunden und von fremden Eltern aufgezogen. Nur wenige Schnitte später ist dieser Jon (Aliocha Schneider) schon ein junger Mann, der einen Mord begeht und im Gefängnis landet, wo Iro (Agathe Bonitzer) ihm die wunden Füße verbindet, um ihn bald darauf zu heiraten und eine Tochter zur Welt zu bringen. Die Erzählung erstreckt sich von der Peloponnes bis zum Berliner Potsdamer Platz in zumeist lang gezogenen, starren, klar kadrierten Kameraeinstellungen, in die sich das Geschehen hinein- und wieder hinausbewegt.
In „Music“ perfektioniert Schanelec die formale Strenge ihrer Inszenierung, in der die Ellipse zum wichtigsten Stilmittel wird. Zweifellos erschafft sie hier immer wieder Bilder von poetischer und mythischer Schönheit, versteht das Kino zuerst als Kunst- und erst danach als Erzählform, verliert sich aber auch etwas selbstverliebt in der eigenen Verschlüsselungstechnologie. Für die einen ein Meisterwerk hochintellektueller Filmkunst, für die anderen prätentiöses Hardcore-Arthaus – die Meinungen gingen wohl bei kaum einen Film so weit auseinander.
Große Siegchancen für Filme aus Mexiko, Südkorea und Spanien
Ans ganz andere Ende des cineastischen Universums konnte man mit dem mexikanischen Wettbewerbsbeitrag „Totem“ von Lila Avilés reisen. Mit der Kamera kriecht sie fast hinein in die Großfamilie der siebenjährigen Sol, die gerade dabei ist, ihren krebskranken Vater zu verlieren. Die Tante organisiert eine letzte Geburtstagsparty für den kranken Bruder, auch um das Geld für die medizinische Behandlung zusammenzubekommen. In emotionaler Hinsicht sicherlich einer der stärksten Filme des Wettbewerbs, der im wahrsten Sinne des Wortes hautnah an den Figuren entlang erzählt wird, ohne in Rührseligkeiten zu verfallen.
Ähnliches lässt sich von der hinreißenden koreanisch-amerikanischen Produktion „Past Lives“ von Celine Song sagen, die über zwei Jahrzehnte die Geschichte einer Kinder- und Jugendliebe im Zeitalter der Migration erzählt, und auch von „20.000 Species of Bees“ der Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren über ein achtjähriges Mädchen im Jungenkörper.
Diesen drei Filmen dürfte man im Moment wohl die größten Chancen auf den Goldenen Bären einräumen, weil sie mit visueller Kraft gesellschaftliche Themen in intimen Geschichten absolut überzeugend verdichten.
Steven Spielberg: „Ich bin noch längst nicht fertig“
„Filme zu machen ist ein Risiko, bei dem einem das Herz brechen kann“, sagte U2-Sänger Bono, der am Dienstagabend im Berlinale Palast die gelungene Laudatio für den Goldenen Ehrenbären an Steven Spielberg für dessen Lebenswerk vortrug. Von den Dinosauriern bis zur künstlichen Intelligenz habe Spielberg in seinen Filmen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausgelotet.
„Je älter ich werde, desto mehr Erinnerungen an Verstorbene begleiten mich“, sagte Spielberg in seiner Dankesrede. Dies habe zu seinem neuen Film „The Fablemans“ geführt, in dem er sich mit seiner Kindheit und seiner Familie auseinandergesetzt habe. Eben die sei der Grundstein für jenes Lebenswerk, für das er heute ausgezeichnet werde. „Aber mit diesem Lebenswerk bin ich noch längst nicht fertig“, sagte der sichtlich vitale 76-Jährige. Sein Vater Arnold sei schließlich 103 Jahre alt geworden.