Als Elfjähriger zum Jugendamt: “Ich will weg von meinen Eltern”

Jeremias Thiel

Jeremias Thiel

Herr Thiel, es gibt immer noch Menschen, die sagen, dass es keine wirkliche Armut in Deutschland gibt. Was entgegnen Sie denen?

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Erst mal würde ich denen den grundsätzlichen Unterschied zwischen absoluter und relativer Armut erklären. Und dann würde ich ihnen sagen, dass Armut selbstverständlich in Deutschland existiert. 21 Prozent der Kinder leben dauerhaft in Armut, 10 Prozent machen temporäre Armutserfahrungen. Das sind mehr als 30 Prozent insgesamt! Sie bekommen die Bildung ihrer Eltern vererbt, werden oft von Institutionen benachteiligt, leiden tendenziell unter Übergewicht. Armut ist sehr sichtbar und präsent in Deutschland. Wie gesagt, wir reden über jedes dritte Kind.

Ihre Eltern sind beide psychisch krank, Ihr Elternhaus war und ist von Armut geprägt. Vor acht Jahren sind Sie gemeinsam mit Ihrem Zwillingsbruder zum Jugendamt gegangen und haben gesagt: Holt uns von zu Hause raus! Da waren Sie elf Jahre alt. Waren Sie sich damals der Tragweite dieser Entscheidung bewusst?

Natürlich wusste ich damals nicht, dass ich eines Tages Abitur mache und in den USA studieren werde. Aber es gibt ja auch noch eine andere Dimension, etwa wie ich zu meiner Familie und zu meiner eigenen emotionalen Entwicklung stehe, und da hätte ich mir nie träumen lassen, dass die Tragweite so groß sein würde. Ich schreibe ja in meinem Buch: Der Moment, zum Jugendamt zu gehen, war gleichzeitig der Tiefpunkt und der Höhepunkt in meinem Leben. Tiefpunkt, weil ich zu dem Zeitpunkt mit meiner Familie ganz unten war. Höhepunkt, weil es der Wendepunkt in meinem Leben war.

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Er hat den Weg aus der Armut geschafft, sein Zwillingsbruder nicht

Was fühlen Sie gegenüber Ihrer Familie heute?

Ich habe ein sehr objektives und rationales Verständnis für die Situation meiner Eltern. Insofern habe ich ihnen gegenüber kein schlechtes Gewissen. Was mich aber beschäftigt, ist mein Zwillingsbruder, der immer noch bei meinen Eltern lebt. Wir haben ja als Zwillingsbrüder quasi die gleichen Grundvoraussetzungen, allerdings mit einem Unterschied: Mein Bruder hat ADHS, ich nicht.

Wie konnten denn Ihrer beider Leben so unterschiedlich verlaufen?

Man merkt an unserem Fall, wie viel davon abhängt, in welcher Jugendhilfeeinrichtung man untergebracht ist. Ich habe in einem SOS-Kinderdorf gelebt, er in einer unterfinanzierten Einrichtung. Und so absurd das auch klingen mag: Es gibt auch unter Jugendhilfeeinrichtungen so etwas wie eine Klassengesellschaft. Dass sich für uns beide daraus so unterschiedliche Chancen ergeben haben – deshalb habe ich definitiv ein schlechtes Gewissen.

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Sie studieren mittlerweile in den USA. Würden Sie sagen, dass die soziale Durchlässigkeit, der reichlich klischeehafte Weg vom Tellerwäscher zum Millionär, in den USA einfacher ist als in Deutschland?

Auf keinen Fall! Ein solcher Aufstieg ist in beiden Ländern nahezu unmöglich. Deutschland ist eines der Länder, in denen man am allerschlechtesten den Aufstieg durch Bildung schaffen kann, wenn man durch Armut benachteiligt ist. In den USA wiederum gibt es den Fehlglauben, dass man durch Arbeit alles erreichen kann. Man schafft aber eindeutig einen gesellschaftlichen Aufstieg in den USA nicht allein durch Arbeit, sondern durch Kontakte und auch durch Netzwerke.

“Unsere Gesellschaft ist nicht sozial durchlässig”

Aber ist Ihre Geschichte nicht eigentlich ein wunderbares Beispiel dafür, dass unsere Gesellschaft doch sozial durchlässig ist?

Nein, da muss ich widersprechen: Unsere Gesellschaft ist nicht sozial durchlässig. Auch wenn es Einzelfälle wie mich gibt. Sie müssen sich doch nur die Bildungsstatistiken anschauen. Nach 1968 wurde sich bemüht, dass auch Kinder aus Nichtakademikerfamilien Abitur machen und studieren. Aber das ist heute doch längst nicht mehr so. Heute gehen wieder viel mehr Kinder aus Akademikerfamilien studieren.

Sie sind einer der Betroffenen der Hartz-IV-Gesetzgebung. Warum sind Sie trotzdem in die SPD eingetreten?

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Erst einmal: Es gibt ja auch viele Kritiker von Hartz IV in der SPD. Unabhängig von der Hartz-IV-Kommission, die ja nicht allein aus SPD-Mitgliedern bestand und unter anderem von der Bertelsmann Stiftung unterstützt wurde, ist die SPD in meinen Augen die Partei, die die Frage der sozialen Gerechtigkeit am besten lösen und die die Mitte-links-Gesellschaft in Deutschland am besten repräsentieren kann.

Macht die SPD momentan Ihrer Meinung nach wirklich linke Politik?

Es gibt momentan eine linke Doppelspitze in der Partei und einen tollen Fraktionsvorsitzenden. Daher bin ich der Meinung, dass wir Kräfte in der SPD haben, die für linke Politik stehen und sie bündeln können. So hat die SPD in meinen Augen gerade eine wunderbare Forderung eingebracht, die auch vom Parteivorstand verabschiedet wurde: nämlich die Kindergrundsicherung, die in keiner Art und Weise auf das Hartz IV angerechnet wird. Ich identifiziere mich sehr mit der Partei.

Das nächste Ziel: Thiel will es an die Harvard-Universität schaffen

Gibt es in der Politik zu wenige Menschen, die einen Lebenslauf wie Sie vorzuweisen haben und die, wenn Sie über Armut und soziale Ungerechtigkeit sprechen, aus eigener Anschauung wissen, wovon sie reden?

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Schauen Sie doch nur mal in den Bundestag. Früher waren es viele Lehrer, die in den Bundestag kamen, heute sind es vorwiegend Juristen. Wir werden durch eine Akademikerschicht repräsentiert, es gibt ganz wenige Menschen aus der Arbeiterschicht in der Bundes- oder Landespolitik. Aber ich finde, es müssen viel mehr Menschen politisch aktiv sein, die Erfahrungen gesammelt haben wie ich, oder Menschen, die statt eines Studiums eine Ausbildung absolviert haben. Davon gibt es viel zu wenige im Deutschen Bundestag.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Aktuell wünsche ich mir, dass ich gesund bleibe und mein Studium in den USA bald weitergeht. Und ich strebe ein Harvard-Studium an. Aber ob das was wird, hängt natürlich von meinen Noten ab.

Das Buch des 19-jährigen Jeremias Thiel, “Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance” (224 Seiten, 16 Euro), ist im Piper-Verlag erschienen.

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