Weiteres Hauptsymptom? Zahlreiche Covid-19-Intensivpatienten erleiden Delir
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Problematisch ist laut Claudia Spies von der Berliner Charité vor allem ein Besuchsverbot in Krankenhäusern: Delirpatienten brauchen den Kontakt zu Angehörigen, um sich zu reorientieren.
© Quelle: Manu Fernandez/AP/dpa
Die typischen Symptome der Lungenkrankheit Covid-19 reichen von Husten und Fieber bis hin zu schweren Symptomen wie einer Lungenentzündung. Schon seit Mitte des Jahres nehmen Forscher jedoch auch Hirnschäden ins Visier, da vermehrt Patienten von Beschwerden wie Gedächtnisverlust und Schlaganfällen berichten. Vor allem ein Symptom ist dabei zunehmend in den Fokus gerückt: das Delirium.
Auch in Deutschland sind inzwischen viele Fälle bekannt: „Bis zu 80 Prozent der Patienten, die auf der Intensivstation behandelt werden, bekommen ein Delir“, berichtet Prof. Claudia Spies dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Sie ist Direktorin der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin der Berliner Charité. Ihre Klinik hat Erfahrungen mit 600 Covid-19-Patienten gemacht.
Halluzinationen, Wahrnehmungsstörungen: Tagelanger Verwirrungszustand bei Delir
Als Delirium (kurz Delir) wird ein akuter Zustand von psychischer Verwirrtheit bezeichnet. Dabei treten bei Betroffenen oft Halluzinationen sowie Störungen der Wahrnehmung, Orientierung, des Bewusstseins und des Gedächtnisses auf. „Delirien haben bei Patienten einen wellenförmigen Verlauf: Mal stabilisiert sich alles wieder, mal tritt das Delir wieder auf“, sagt Spies. Im Schnitt könne ein Delirium sechs bis sieben Tage andauern, es gebe jedoch auch kürzere Episoden von drei und längere von bis zu zehn Tagen. Auslöser sind häufig fieberhafte Infekte, aber auch Erkrankungen des zentralen Nervensystems wie Parkinson, Epilepsie oder Demenz. Auch Drogen, Alkohol und einige Medikamente werden in Verbindung mit der Entstehung von Delirien gebracht. Gelegentlich treten Delirien auch nach Operationen auf: Die Quote liegt bei etwa 5 bis 15 Prozent, berichtet Spies.
Delirium ein „Hauptsymptom“ bei älteren, gebrechlichen Covid-19-Patienten
Nun verhärtet sich der Verdacht, dass auch eine Covid-19-Infektion ein Delir auslösen kann. Eine Studie des King’s College in London wertete die Daten von 322 stationär behandelten Covid-19-Patienten und 535 weiteren Patienten aus, die ihre Daten über die im Vereinigten Königreich erhältliche „Covid Symptom Study App“ vermittelt haben. Alle Patienten waren 65 Jahre alt oder älter. Die Forscher fanden in der Studie heraus, dass vor allem Gebrechlichkeit bei älteren Patienten mit einem höheren Risiko verbunden ist, ein Delir zu erleiden. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Delirium ein Hauptsymptom in dieser Gruppe ist“, sagte Studienleiterin Dr. Rose Penfold.
Spies stimmt dieser Aussage zu: Bei schweren Covid-19-Krankheitsverläufen komme es häufig zu Organversagen – und ein Risikofaktor für ein Delirium sei ein schweres Lungenversagen, das durch eine Infektion mit dem Coronavirus verursacht werden kann. „Dabei kommt es zu einem Sauerstoffmangel, der auch das Gehirn betrifft“, betont die Charité-Direktorin. An dieser sogenannten Hypoxie leiden viele Patienten schon, bevor sie in die Intensivstation kommen. Ob ein Delirium entsteht, hänge allerdings stark vom Schweregrad der Erkrankung ab.
Delirpatienten brauchen Angehörige – schwere Folgen bei Besuchsverbot wegen Corona
Delirien können bei den Betroffenen schwere Folgeschäden verursachen: Dazu gehören Mobilitätseinschränkungen, Angststörungen, Panikstörungen bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen. 25 Prozent der Patienten haben nach Informationen von Expertin Spieß danach eine kognitive Einschränkung, die so hoch sei wie bei einer milden Alzheimer-Demenz. „Ein Delir ist eine schwere Organfunktionsstörung, ähnlich wie ein Kreislaufschock oder Nierenversagen. Es führt teils auch Jahre nach der Intensivbehandlung zu einer erhöhten Sterblichkeit“, betont Spies. Ziel sei es deshalb, die Delirphasen durch die richtige Behandlung kurz zu halten, zumal der Verwirrungszustand eine schwere Belastung für die Betroffenen darstellt.
Neben der Ursachenbehandlung müsse dem Patienten dabei geholfen werden, sich zu reorientieren. „Bei älteren Patienten ist es deshalb auch sehr wichtig, dass man in Krankenhäusern kein Besuchsverbot festlegt. Eine Reorientierung gelingt teilweise nur durch sehr enge Angehörige, man nennt das ‚one-face-policy‘, da die Betroffenen sich hoffnungslos verloren fühlen“, sagt Spies. Sie könne nicht verstehen, wenn Krankenhäuser keine Besuchsoptionen haben. Delirpatienten sind auf den Austausch mit Bezugspersonen angewiesen, sonst könnten sie schwere Folgen davontragen. Ein Besuch müsse unter Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln daher möglich gemacht werden.
Sauerstoffmangel im Gehirn verursacht Entzündungen
Doch was genau passiert bei einem Delir im Gehirn? Durch die Hypoxie erleiden Patienten oft ein Entzündungsschocksyndrom, wie Spies erklärt. Dabei werden vermehrt Botenstoffe im Kampf gegen die Infektion ausgeschüttet. „Bei einer vermehrten Ausschüttung von Botenstoffen versuchen die sogenannten Mikroglia, also die ‚Fresszellen‘ des Gehirns, diese Botenstoffe zu beseitigen. Doch dazu fehlt ihnen bei einer schweren Erkrankung oft die Energie – und so kann es zu weiteren Entzündungsreaktionen kommen“, sagt Spies. Und genau diese Entzündungen führten zu Veränderungen im Gehirn. „Normalerweise sind die Gehirnströme gut und koordiniert aufeinander abgestimmt und miteinander verbunden. Durch die Entzündungen geraten sie jedoch durcheinander, woraufhin es zu Delirien mit Halluzinationen, Albträumen und Verwirrungszuständen kommen kann“, sagt die Charité-Ärztin.
Antidepressiva und Antibiotika: Einige Medikamente begünstigen Delir bei Covid-19-Erkrankung
Insbesondere Menschen, die Medikamente mit sogenannten anticholinergen Medikamenten nehmen, seien einem höheren Deliriumrisiko ausgesetzt. Zu dieser Gruppe gehörten unter anderem Antidepressiva, einige Antibiotika und Parkinsonmittel. „Diese Medikamente können dazu führen, dass es zu einem Stressüberfluss im Gehirn kommt“, betont Spies und erklärt weiter: „Die durch den Stressüberfluss ausgeschütteten sogenannten Katecholamine (wichtige Wirk- und Botenstoffe, Anm. d. Red.) werden durch das Enzym Tyrosinhydroxylase verstoffwechselt – und diese Verstoffwechselung schüttet den Botenstoff Dopamin aus, der wiederum Halluzinationen verursachen kann.“
Es gelte daher, nur Medikamente einzusetzen, die notwendig sind. Zur Beruhigung der Patienten bei einem schweren Covid-19-Verlauf werden sie nicht selten in ein künstliches Koma versetzt – doch auch dabei sei laut Spies Vorsicht geboten, da diese die Delirentstehung fördern können. Zudem müssten die Mehrzahl der Patienten nicht zwingend in ein künstliches Koma versetzt werden.
Auch jüngere Corona-Patienten können Delir erleiden
„Delirien treten häufiger bei älteren Patienten auf. Die Gehirnströme sind im höheren Alter verändert, vor allem wenn man Vorerkrankungen hat“, sagt Spies. Zudem sei ihr System ist nicht mehr so flexibel und auch die „Fresszellen“ reagierten anders, da sie in ihrer Funktion oft schon eingeschränkt seien. Delirien könnten jedoch in jeder Altersstufe auftreten, auch bei Kindern: „Auch im Zusammenhang mit einer Covid-19-Erkrankung leiden jüngere Patienten daran. Sie haben teils schwerste Halluzinationen erlitten und etwa Monster gesehen“, berichtet Spies.
Inzwischen gilt es als bekannt, dass das Virus Sars-CoV-2 auch Hirnschäden verursachen kann. Studien berichten von Patienten mit neurologischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schwindel und Gedächtnisverlust. Mediziner nennen gar Fälle von Hirnentzündungen, Nervenschäden und Schlaganfällen. Einige Schäden blieben auch langfristig. Noch ist jedoch unklar, ob das Virus das Gehirn selbst anfällt oder die neurologischen Symptome ein Resultat des durch den Infekt überstimulierten Immunsystems sind. Nach Ansicht von Wissenschaftlern handelt es sich bei schweren Hirnschäden nicht um ein Massenphänomen, sondern um einzelne schwere Fälle.
RND