Weit schlimmer als Corona: Als die spanische Grippe über Europa hinwegfegte
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Aufnahme von 1918: Patienten, die an der Spanischen Grippe erkrankt sind, liegen in Betten eines Notfallkrankenhauses in der Militärbasis Fort Riley in Kansas (USA).
© Quelle: National Museum of Health and Medicine/dpa
Vor 100 Jahren ging ein Massenmörder um, der sogar den Ersten Weltkrieg in den Schatten stellte. Er raffte zunächst die Soldaten in den Schützengräben und ab Oktober 1918 die kriegsmüden Deutschen in der Heimat zu Hunderttausenden dahin. Der Killer hatte viele Namen. Französische Militärärzte nannten ihn “Krankheit elf”, mehr ließ die Zensur nicht zu.
Im Senegal hieß die Seuche “Brasilianische Grippe”, in Brasilien “Deutsche Grippe”. Die Igbo im Senegal verballhornten die Influenza zu “Ifelunza”. Hängen blieb: “Spanische Grippe”. Damit wurde ein historischer Irrtum zementiert. Weil das neutrale Spanien, anders als die kriegführenden Nationen, offen über das Sterben im eigenen Land berichtete, glaubten die Zeitgenossen, “Patient Null” wäre ein Spanier gewesen.
Coronavirus und Spanische Grippe im Vergleich
Jetzt verbreitet sich wieder ein gefährlicher Erreger über den Globus: Sars-CoV-2 – das Coronavirus. Und wieder wird ihm ein nationales Etikett aufgepappt: “Made in China” titelte der “Spiegel”. Eine Zuordnung, die mehr Berechtigung hat als vor 102 Jahren. Liegt der Ursprung der Epidemie doch wohl auf einem Tiermarkt in Wuhan. Möglicherweise war auch 1918 ein chinesischer Reisbauer “Patient null”. Ist die Krankheit also ein Wiedergänger des fahlen Reiters? Oder nur eine Gefahr im Bonsai-Format? Ein Blick zurück auf die Spanische Grippe kann helfen, die “Panikdemie” zurückzuschrauben.
Anders als beim Coronavirus lässt sich für die Pandemie von 1918 nicht mehr sagen, wer sie in die Welt brachte. Der erste Infizierte könnte auch ein rekrutierter Bauernsohn aus Kansas oder ein britischer Soldat an der Westfront gewesen sein. “Wer weiß es schon?”, sagt Dr. Wilfried Witte. Der Privatdozent ist Oberarzt an der Berliner Charité und hat zur Spanischen Grippe geforscht.
Spanische Grippe tötete über 20 Millionen Menschen
Oft wird die Seuche als Randnotiz des Weltkriegs abgehandelt. Dabei infizierte die spanische Gruppe in nur anderthalb Jahren jeden dritten Menschen, tötete mindestens 20 Millionen – genannt werden aber auch 50 bis 100 Millionen Opfer. Trifft die höchste Schätzung zu, hätte die Pandemie mehr Menschen getötet, als beide Weltkriege zusammen.
Das Grauen war im Herbst 1918 global. Amerikaner, Deutsche, Inuit in Alaska, südafrikanische Xhosa und Samoaner in der Südsee bekamen schlagartig Fieber und wurden kurzatmig. Oft erschienen innerhalb eines Tages mahagonifarbene Flecken auf ihren Wangen, Hände und Füße verfärbten sich bläulich-schwarz. Die Menschen rangen vergeblich um Atem. Die Leichen sahen wie verzerrte Dämonen aus., schilderten Zeitzeugen.
Bei der Autopsie entdeckten Ärzte geschwollene, mit blutigem Schaum gefüllte Lungen. Die Opfer waren ertrunken. Ein Anblick, bei dem der renommierte US-Mediziner William Henry Welch ausrief: “Das muss irgendeine neue Infektion sein. Eine Art Pest.”
Die Seuche tötete viele Soldaten
Große Menschenansammlungen unter hygienisch zweifelhaften Bedingungen – wie in Rekrutenlagern – boten dem Virus perfekte Möglichkeiten.
Dr. Wilfried Witte, Oberarzt an der Berliner Charité
Tatsächlich war die Krankheit vertraut. Nur war das Virus, das normalerweise die saisonale Grippe auslöste, zu einer Bestie mutiert. Aber das wusste man damals noch nicht. In den USA hielt man deshalb den Pharmakonzern Bayer für den Schuldigen. Die Deutschen hätten die Kopfschmerztablette Aspirin zu einer Waffe umfunktioniert.
Beunruhigend war, dass die Seuche nicht vor allem die ganz Jungen und ganz Alten tötete, sondern auch die vitalen 20- bis 40-Jährigen – unter ihnen sehr viele Soldaten. Roy Grist, Militärarzt in Camp Devens, Massachusetts, schrieb am 29. September 1918 an einen Kollegen: “Es dauert nur einige wenige Stunden, bis der Tod kommt. Und es ist ein einziger Kampf um Luft, bis sie ersticken. Es ist schrecklich.”
Der Grund, weshalb es die Soldaten traf: Der Tod exerzierte mit, wie Charité-Experte Wilfried Witte heute, 100 Jahre später, weiß: “Große Menschenansammlungen unter hygienisch zweifelhaften Bedingungen – wie in Rekrutenlagern – boten dem Virus perfekte Möglichkeiten.”
Westsamoa verlor 22 Prozent seiner Einwohner
Das Robert Koch-Institut (RKI) schätzt, dass 426.600 Todesfälle in Deutschland auf das Konto der Pandemie gingen – mehr, als Rostock und Lübeck heute zusammen Einwohner haben. Die USA verloren 675.000 Menschen. Die Insel Westsamoa verlor 22 Prozent seiner Einwohner.
Doch die Zahlen verbergen auch den Blick auf die Schicksale: Im Oktober 1918 steckte das Virus in Wien die Familie des Malers Egon Schiele an. Der 28-Jährige bangte um seine schwangere Frau Edith und ihr ungeborenes Kind. Als Ediths Atem immer keuchender wurde, zeichnete er mit Kreide das Porträt “Die Familie”, die so im Leben nie zusammen finden konnte. Kaum hatte er Frau und Kind beerdigt, legte er sich mit Schüttelfrost ins Bett. Drei Tage nach den beiden starb auch er an dem Virus.
Trumps Großvater wurde zum Halbwaisen
Millionen Familien verloren ihren Ernährer und ihre Zukunft. Nur wenigen eröffneten sich neue Möglichkeiten. So kassierten die Witwe und der Sohn eines nach Amerika ausgewanderten Pfälzers, der an der Grippe gestorben war, die Lebensversicherung. Sie investierten das Geld in Grundbesitz. Heute ist der Enkel des Einwanderers Präsident der Vereinigten Staaten. Sein Großvater hieß Friedrich Trump, nannte sich in den USA Frederick.
Dank der Erfolge der Bakteriologen hatten viele geglaubt, dass die Infektionskrankheiten ausgerottet werden könnten.
Dr. Wilfried Witte, Oberarzt an der Berliner Charité
Die Ärzte waren hilflos – und das obwohl die Medizin in den Vorjahren große Fortschritte gemacht hatte. “Dank der Erfolge der Bakteriologen hatten viele geglaubt, dass die Infektionskrankheiten ausgerottet werden könnten.” Sie hatten sich getäuscht. “Zudem war die Euphorie der Jahre zuvor verflogen”, sagt Dr. Witte.
Hoffnungsträger Homöopathie – und Zigaretten
Vor 100 Jahren wandten sich verängstigte Patienten alternativen Heilmethoden zu. Der Aufstieg der Homöopathie begann. Und die Gesellschaft dachte um. Wo körperliche Anstrengung vorher als plebejisch galt, erhielt Sport nun königliche Weihen. Der von der Grippe genesene spanische König Alfons XIII gab der Gründung eines Fußballclubs seinen Segen – den Real (königlichen) Madrid FC.
Neben Fußball kam in den 20er-Jahren auch Rauchen in Mode, weil manche Militärärzte, glaubten, es würde die – erst 1933 entdeckten – Krankheitserreger ausräuchern. Ein schwacher Nachhall des mittelalterlichen Glaubens, Miasmen, also üble Ausdünstungen der Erde, würden Seuchen auslösen und Kräuterqualm könne den Pesthauch bannen.
WHO: Viele Krankheiten haben Pandemie-Potenzial
Ist die Zeit der apokalyptischen Reiter, des fahlen Pferdes, auf dem der Tod sitzt, vorbei? Keinesfalls. Die WHO listet jährlich Krankheiten auf, die das Potenzial zur Pandemie haben, und “für die es keine oder unzureichende Gegenmaßnahmen gibt”. Die im Februar 2018 aktualisierte Liste nennt sieben Infektionskrankheiten, darunter fünf hämorrhagische, also mit schweren Blutungen einhergehende, Fieber: Ebola, Marburg, Lassa, Krim-Kongo, Rift-Valley.
Das in Indien vorkommende Nipah- sowie das eng verwandte Hendra-Virus, die tödliche Gehirnentzündungen auslösen. Das von Mücken übertragene Zika-Virus, dass bei Ungeborenen Hirnfehlbildungen bewirkt. Das von Dromedaren auf den Menschen übergesprungene Mers-Coronavirus, das grippeähnliche Symptome und Lungenentzündungen auslöst. Laut RKI verliefen 40 Prozent der erstmals 2012 in Saudi-Arabien aufgetretenen Infektionen tödlich. Sars, eine schwere Atemwegserkrankung, die oft mit Durchfall einhergeht, wurde erstmals 2002 in China beobachtet.
“Krankheit X”: Der nächste große Ausbruch
Das Ende der Liste krönt eine “Krankheit X”. Sie steht für die Angst vor einer Pandemie durch einen unbekannten Erreger. Gegenüber dem britischen “Telegraph” rechtfertigte John-Arne Rottingen, WHO-Berater und Leiter des norwegischen Wissenschaftsrates, die beunruhigende Maßnahme: “Die Geschichte lehrt uns, dass der nächste große Ausbruch wahrscheinlich etwas sein wird, was wir bislang noch nicht gesehen haben.” Also müsse die Welt ihre diagnostischen Tests und Impfmittel-Produktion flexibel planen.
Der Gedanke mag angesichts des uns umgebenen Asphalts, Betons und Chroms befremdlich sein, aber der Mensch kann sich nicht außerhalb der natürlichen Grenzen stellen. Wir bleiben Teil der Nahrungskette. Wir fressen und wir werden zerfressen.
Influenza – auch ein Killer
Aber das Coronavirus taugt nicht zum globalen Sensenmann, zumindest, wenn es nicht noch zu einem mutiert. Bisher dürften sich in China Zehntausende angesteckt haben. Bei 1,4 Milliarden Chinesen ist die Virulenz gegenüber dem Grippevirus von 1918 sehr viel schwächer. Damals dürfte sich fast jeder dritte Mensch angesteckt haben. Die Sterblichkeitsrate liegt derzeit geschätzt bei 2 Prozent. Zum Vergleich: An Sars starben 9,5 Prozent der Erkrankten, an Mers knapp 40 Prozent.
Und ein sehr viel furchteinflößender Killer als Sars-CoV-2 ist schon unter uns: das Influenza-Virus. Pro Saison erkranken nach Angaben des Robert Koch-Institutes zwei bis 14 Millionen der 82 Millionen Deutschen an der Grippe, Zehntausende sterben. Bei der schlimmsten Epidemie der vergangenen Jahre, 2017/18, waren es 25.000.
“Die Grippe werden wir nicht besiegen können”, sagt auch Dr. Witte. “Wichtig aber wird sein, wie wir Risiken in instabiler werdenden Gesellschaften kommunizieren. Vor 100 Jahren hat das Kaiserreich die Bürger sich selbst überlassen. Heute könnte man mit vorschnellen Warnungen in den sozialen Medien eine Panik auslösen. Dabei ist es nie der Erreger allein, der Gefahr heraufbeschwört. Es ist immer dessen Zusammenspiel mit der Gesellschaft.” Wird uns der Fortschritt vor neuen Seuchenzügen bewahren? Wohl kaum. Es ist eine Ironie der Menschheitsgeschichte, dass Fortschritt oft eher das Problem zu sein scheint als die Lösung.
Exotisches Tierfleisch ist die Gefahr, nicht der asiatische Tourist
So wurde der größte gesellschaftliche Entwicklungssprung gleich zum Sündenfall. Vor etwa 14.000 Jahren tauschten einige Sippen im fruchtbaren Halbmond des Nahen Ostens ihr Leben als Sammler und Jäger ein gegen ein Leben auf der Scholle. Sie bauten Einkorn an, statt wildes Getreide abzuernten. Und sie züchteten Schafe, Ziegen, Schweine und Enten. Das Schlachtfest verdrängte die Jagd. Die ständige Verfügbarkeit von Nahrung ließ die bäuerlichen Gemeinschaften wachsen. Es zogen nicht länger einzelne Familienverbände mit nur sporadischem Kontakt zu anderen Menschen durch die Weite.
Es entstanden Dörfer und Städte. Der Preis war hoch: Die Viren, denen bisher nur Tiere als Wirte zur Verfügung standen, nutzten das erweiterte All-you-can-infect-Büffet. Mumps, Pocken, Tuberkulose und Influenza pflügten durch die Massen. Krankheiten wie Masern sprangen sogar endgültig vom Tier auf den Menschen über.
Gefährlich sind also beim Coronavirus nicht Päckchen aus China oder der asiatische Tourist. Als gefährlich erweist sich immer wieder Hang zu exotischem Tierfleisch auf dem Teller. Und gefährlich ist auch die stetige Ausweitung des menschlichen Lebensraums in die Wildnis. So gelang 2005 Forschern der Nachweis, dass der Ursprung des HIV-Virus beim Affen liegt.
Überfüllte Städte als Brutstätten von Krankheiten
Gelangen Viren in den Wirtskörper, nötigen sie diesen, Unmengen neuer Viren zu produzieren. Dabei kommt es oft zu Kopierfehlern beim Erbgut. So verhindert das Virus, dass sich das Immunsystem des Wirts zu gut auf ihn einschießt. Und so entstehen aus lästigen Plagegeistern wie der saisonalen Grippe mörderische Plagen wie die Spanische Grippe.
Die Industrialisierung führte den Viren in den pulsierenden Städten ständig neue Beute zu. Die Slums waren Krankheitsbrutstätten. Die Sterblichkeit etwa in London war so hoch, dass die Metropole an der Themse erst ab 1900 ihre Einwohnerzahl auch ohne stetigen Zuzug stabil halten konnte. Nicht anders sieht es heute in den Slums von Mexiko-City, Kingston, Buenos Aires, Nairobi, Bogota oder Mumbai aus.
An diesen Orten ist der Immunisierungsgrad durch Impfungen gering. Keine Mutter dort wird Masern als “Kinderkrankheit” verniedlichen, weil sie damit rechnen muss, die Hälfte ihrer Kinder an Krankheiten wie die Masern zu verlieren. An diesen Orten erheben auch noch die alten Geißeln Cholera und Diphtherie ihre Häupter.
Optimal für Viren: Die Welt wächst zusammen
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Dank Flugreisen sind große Distanzen in wenigen Stunden überbrückt – allerdings auch von Viren.
© Quelle: imago images/Olaf Schuelke
In der Gegenwart lassen neue Verkehrsmittel die Welt zum globalen Dorf schrumpfen. Ein weiteres Geschenk für Viren, die schon immer zum Jetset gehörten. Während die Pest mit der Geschwindigkeit von Segelschiffen und Ochsenkarren reiste, war die Spanische Grippe so schnell wie die Truppentransporter. Das HIV-Virus nahm den Lkw. In den frühen 80er-Jahren erfuhr es seine schnellste Verbreitung entlang der Fernstraße von Kampala nach Mombasa, dem sogenannten Aids-Highway. Das Sars-Virus ist dagegen in der Miles-and-more-Fraktion angekommen, umrundete die Welt mit dem Flugzeug in nur drei Tagen.
Der Einsatz moderner Erntemaschinen in den 60er-Jahren führte in Südamerika zum erstmaligen Auftreten des oft tödlichen Machupo-Fiebers. Mäuse hatten symptomfrei mit den Viren gelebt. Als sie von den Erntemaschinen zerhäckselt wurden, arbeiteten die Landarbeiter unwissentlich in einem Blutnebel. Dabei gelang dem Virus der Sprung über die Artengrenze. Als Ägypten in den 70ern und Mauretanien in den 80ern Staudämme bauten, um Bewässerung und Stromversorgung sicherzustellen, begünstigten sie zugleich die Ausbreitung des Rift-Valley-Fiebers, das von Mücken übertragen wird.
Das Marburg-Fieber kam 1967 in die gleichnamige Stadt, als Grüne Meerkätzchen importiert wurden, die man zum Testen des Polio-Impfstoffes haben wollte. Aids und Ebola kamen über die Menschheit, weil diese ihren Lebensraum bis in den Dschungel hinein verlegt hat. Kein Wunder, dass die US-National Academy of Medicine 2016 kritisierte, dass die Welt zu wenig mache, um sich auf den Ausbruch von Seuchen vorzubereiten. Zugleich sagte sie voraus, dass es innerhalb von hundert Jahren mit 20-prozentiger Wahrscheinlichkeit vier oder mehr Pandemien geben wird, wobei es sich bei einer davon um eine Influenza handeln wird – wie im Jahr 1918.