Vorbild Taiwan? Was das Land im Kampf gegen Corona anders macht
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Die Taiwan Pride Parade: Mehr als 130.000 Teilnehmer waren am 31. Oktober dieses Jahres bei der Umzug für die Rechte von LGBT auf den Straßen der Hauptstadt Taipeh – trotz Corona.
© Quelle: imago images/ZUMA Wire
Während in Deutschland das öffentliche Leben auf das Notwendigste reduziert ist und an Feiern oder gar Open-Air-Konzerte nicht zu denken ist, haben Zehntausende Menschen am Wochenende in Taiwan ein Festival für elektronische Musik besucht. Am 31. Oktober feierten 130.000 Menschen in der Hauptstadt Taipeh die Taiwan Pride Parade.
Deutschland meldete am heutigen Dienstag 14.419 Neuinfektionen, Taiwan eine. Insgesamt gab es damit in Deutschland seit Ausbruch der Corona-Krise 815.746 Corona-Fälle. 530.200 Menschen sind laut Robert Koch-Institut wieder genesen, 12.814 Tote sind mittlerweile zu beklagen. In Taiwan bietet sich dagegen ein völlig anderes Bild: Der Höhepunkt der zweiten Welle wurde am 13.11. mit acht Neuerkrankungen an einem Tag erreicht. Seit April gab es keinen einzigen registrierten inländischen Krankheitsfall mehr.
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Die Pandemie und wir
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Taiwan, um die Zahlen in Relation zu setzen, ist kein Zwergstaat. Auf einer Fläche von 36.179 Quadratkilometern – das entspricht in etwa der Größe Baden-Württembergs – leben 23.574.274 Einwohner. Das sind 651 Einwohner pro Quadratkilometer. In Deutschland beträgt die Bevölkerungsdichte 233 Menschen pro Quadratkilometer. Mehr Menschen auf kleinerem Raum sind theoretisch gleichbedeutend mit einem besseren Nährboden für Pandemien. Doch warum widerlegt der Inselstaat sämtliche statistischen Wahrscheinlichkeiten, während Corona in großen Teilen des Rests der Welt wütet?
Taiwan hat Vorerfahrung mit Pandemien
Als zwischen 2002 und 2004 die erste Sars-Epidemie auftrat, war Taiwan mit 73 Toten einer der am stärksten betroffenen Staaten. Daraufhin wurde die gesamte Kriseninterventionsstruktur des Landes überdacht und neu aufgesetzt. Es wurden Notfallpläne und Szenarios entwickelt, um auf eine wesentlich dramatischere pandemische Lage reagieren zu können, als sie das Sars-Virus damals darstellte. Zudem sind Präventivmaßnahmen wie Maskentragen in Asien schon bei normalen Erkältungswellen Usus und gelten als selbstverständliche Höflichkeit und Rücksichtnahme den Mitmenschen gegenüber.
Masken sind Alltag
„Von Anfang an war es unsere Idee, es drei Vierteln der Bevölkerung zur Routine werden zu lassen, Masken zu tragen und sich die Hände zu reinigen", sagte Audrey Tang, Taiwans Ministerin für Digitales, der Zeitschrift „Wired“. So wie Impfungen bei hinreichender Abdeckung für eine Herdenimmunität sorgen, könne mehrheitliches Maskentragen für einen ähnlichen Effekt sorgen, sagte die 39-Jährige.
Damit die Masken auch dorthin gelangten, wo sie am meisten gebraucht wurden, wurden die Lieferkettendaten veröffentlicht. Das staatliche nationale Krankenversicherungssystem verfügt über eine zentrale Datenbank sämtlicher Produkte, die das nationale Apothekennetz auf Lager hat. Bestände können in Echtzeit abgefragt werden. Tang ließ darüber hinaus ein Maskenrationalisierungssystem entwickeln, das nach Bedürftigkeit gestaffelt war. Indem man seine Karte durch das Lesegerät zieht, bekommt man die zugewiesene Anzahl an Masken.
Nachdem das Projekt beschlossen war, ließ Tang die Quellcodes veröffentlichen und lud sozial eingestellte Hacker zur Kooperation ein. Daraus entstanden mehr als 140 Apps, die anzeigten, welche Apotheken noch Masken hatten sowie Visualisierungen der Anzahl und Verteilung ausgegebener Masken und Sprachassistenten für Sehbehinderte.
Taiwan reagierte schnell
Aufgrund der Vorerfahrungen und des neu strukturierten Krisenmanagements reagierte man in Taiwan blitzschnell auf Sars-CoV-2. Bereits am 31. Dezember vergangenen Jahres war man an den Taiwan Centers for Disease Control (CDC) über die Vorgänge in China informiert und vorbereitet. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurden Passagiere aus dem Corona-Epizentrum Wuhan im Flugzeug auf Covid-19-Symptome hin untersucht. Und bereits am 20. Januar, als China schließlich eingestanden hatte, dass Corona von Mensch zu Mensch übertragen werde, wurde das Krisenzentrum installiert.
Fallhäufungen konnten frühzeitig identifiziert und behandelt werden, zu einer Zeit, als man bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch darüber debattierte, ob man einen medizinischen Notstand deklarieren solle oder nicht. Weil die Infektionszahlen in Taiwan im März trotzdem auf 100 Fälle anstiegen, wurde das Land komplett abgeriegelt. Nur noch Diplomaten und Einheimische konnten einreisen.
Taiwan setzt auf Quarantäne
Taiwan ist eine Insel, das ist Großbritannien allerdings auch. Das Pauschalargument, Inseln könnten sich besser abschotten als Binnenstaaten, stimmt also nicht. So hatten etwa die total isolierten Färöer Inseln im Nordatlantik im August 2020 eine Inzidenz von 281,4 auf 100.000 Einwohner – bei einer Gesamtbevölkerung von 52.656 Menschen. In Taiwan hingegen werden von außen eingeschleppte Infektionen rigide bekämpft. Jeder, der in das Land kommt, muss in Quarantäne. Das gilt auch für Menschen, die Umgang mit einem Infizierten hatten. Und Quarantäne bedeutet auch Quarantäne: Wie der Journalist Klaus Bardenhagen, der seit zehn Jahren in Taiwan lebt, gegenüber dem Fernsehsender „ntv“ schilderte, bedeutet das, dass man während der Quarantänezeit seinen Quarantäneort nicht verlassen darf. „Damit man keinen Fuß vor die Tür setzt, wird das Mobiltelefon während dieser Zeit überwacht – ohne App oder GPS, sondern per Funkzellenortung. Entfernt es sich zu weit vom Fleck, wird es abgeschaltet oder beantwortet man einen täglichen Kontrollanruf nicht, klopft jemand an die Tür“, schildert Bardenhagen die Situation.
Zum Ausgleich gibt es Lebensmittellieferungen und für Einheimische ein Tagegeld. 14 Tage dauert die strenge Überwachung gemeinhin – danach folgt allerdings keine Überwachung mehr. Rund 350.000 Menschen haben diese Quarantäne bisher durchlaufen – die restlichen gut 23 Millionen Bürger allerdings waren und sind keinen Restriktionen unterworfen.
Taiwan setzt auf Daten
Wie in Südkorea auch, wird in Taiwan staatlicherseits auf die Handydaten der Bürger zugegriffen, um Corona unter Kontrolle zu haben. Es werden Bewegungsprofile erstellt, auf die man im Infektionsfall zurückgreifen kann. In Südkorea werden diese Daten mit Kreditkartenabrechnungen, Chatverläufen und Aufnahmen öffentlicher Überwachungskameras abgeglichen. Wo immer man sich aufhält – vom Büro bis zur Bar, registriert man sich mit einem QR-Code.
Alle Gefährdungspotenziale in Sachen Corona wurden analysiert. Auf diese Weise kam man natürlich auch schnell auf Nachtclubs. Die Regierung in Taipeh wollte die populären Clubs und Diskos aber nicht einfach schließen, um eine Abwanderung in die Illegalität und somit den Verlust einer Nachverfolgbarkeit von Infektionen zu vermeiden. Also musste man die Nachtclubbesitzer und -Angestellten davon überzeugen, bei der Kontaktnachverfolgung zu kooperieren – und dadurch auch auf Datenschutz zu verzichten.
„Es klingt wie ein Kompromiss“, so Audrey Tang gegenüber “Wired”. „Aber es ist nur ein Kompromiss, solange man nicht erfinderisch ist.“ Die Regierung bot den Nachtclubs an, sie könnten geöffnet bleiben, sofern sie ein „Echtkontakt“-System entwickelten, das ihnen erlaubt, auf Klarnamen und Identitäten der Gäste zu verzichten, solange sie eine effektive Art der Gästeerreichbarkeit garantieren können. So entstanden in kürzester Zeit Systeme für Codenamen, Einmal-Emails und Einmal-Telefonnummern.
Nach Überzeugung von Audrey Tang geht der gesellschaftliche Profit solcher Maßnahmen über die aktuelle Pandemie hinaus. Statt nur Daten und Nachrichten in einer technisch hochgerüsteten Gesellschaft abzugeben, können Bürger an den Prozessen zur Bekämpfung von Corona teilhaben. Oder, in den Worten von Tang: „Verlässliche Daten sind das Fundament von Vertrauen.“