Virologin Brinkmann: „Die Delta-Variante wird nach den Sommerferien sehr schnell durch die Schulen rauschen“
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Virologin Melanie Brinkmann ist in Sorge. Ohne bessere Testkonzepte, Belüftungssysteme und Masken werde die Delta-Variante zeitnah die Schulen treffen.
© Quelle: imago/ZUMA Wire/dpa/RND-Montage Behrens
Melanie Brinkmann ist in dieser Pandemie für ihre deutlich mahnenden Worte bekannt. Die Virologieprofessorin, die am Helmholtz-Institut für Infektionsforschung (HZI) und an der Technischen Universität in Braunschweig forscht, berät seit der Krise mit weiteren Forschenden die Bundesregierung – und macht sich für eine Bekämpfungsstrategie stark, bei der das Ziel eine möglichst niedrige Inzidenz sein sollte.
Im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) zeigt sich die Virologin hingegen resigniert. Erneut würden ähnliche Fehler gemacht wie im vergangenen Pandemiejahr. Dabei gebe es sinnvolle Konzepte – gerade, um die Kinder und Jugendlichen an den Schulen vor der vierten Infektionswelle durch die Delta-Variante zu schützen.
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Trotz Impfungen sei es nach wie vor keine sinnvolle Option, die Gesellschaft durchseuchen zu lassen, betont die Virologin Melanie Brinkmann.
© Quelle: Verena Meier
Frau Prof. Brinkmann, Sie sind eine viel gefragte Virologin, haben die No-Covid-Strategie zur Pandemiebekämpfung mitentwickelt und auch Bund und Länder in der Krise beraten. Wie geht es Ihnen gerade?
Ich stehe seit mehr als einem Jahr unter Daueranspannung und war in den vergangenen Monaten häufig etwas verzweifelt, wie die Pandemie gemanagt wurde. Für mich persönlich war der schlimmste Moment Ende Februar, als die Zahl der belegten Intensivbetten täglich nach oben kletterte und seitens der Politik wochenlang nichts passierte. Da dachte ich: Wir haben aus dem Herbst nichts dazugelernt.
Denn eigentlich wussten wir ja, dass zögerliches Handeln in dieser Pandemie nicht von Erfolg gekrönt sein wird. Und dass uns das Virus früher oder später zu starken Kontaktbeschränkungen zwingen wird. Es hat einfach keinen Sinn gemacht, die Zahl der Infizierten, Erkrankten und Verstorbenen erst einmal in die Höhe klettern zu lassen.
Und welches vorläufige Fazit ziehen Sie zum gegenwärtigen Umgang mit der Pandemie?
Momentan fehlt erneut eine einheitliche Linie. Jetzt ist eigentlich der beste Zeitpunkt, um die Inzidenzen ganz nach unten zu drücken, um sie nachhaltig dort zu stabilisieren. Mit den Werkzeugen die wir als No-Covid-Gruppe vorgeschlagen haben – Impfen, Testen, Masken, effiziente Kontaktnachverfolgung – ist das ein realistisches Ziel.
Braucht es nach den Sommerferien noch den Infektionsschutz an den Schulen? Die meisten Lehrkräfte, viele Eltern und einige Kinder sind dann schließlich geimpft.
Ich finde es wichtig, auch Kinder und Jugendliche vor einer Infektion mit Sars-CoV-2 zu schützen. Gerade jetzt, denn die Delta-Variante wird nach den Sommerferien sehr schnell durch die Schulen rauschen, wenn wir keine Vorsorge treffen. Leider gibt uns dieses Virus keine Verschnaufpause.
Und wer weiß, mit was für Varianten wir uns in Zukunft noch beschäftigen müssen. Denn weltweit ist die Pandemie noch lange nicht unter Kontrolle und neue Varianten können uns immer wieder vor neue Herausforderungen stellen. Von daher ist es essentiell, Strukturen zu schaffen, die eine effiziente Infektionskontrolle ermöglichen, mit so wenig Einschnitten für unser gesellschaftliches Leben wie möglich.
Ohne zusätzliche Maßnahmen werden die Infektionen wieder zunehmen, es wird zu Quarantäneschleifen kommen, wie man es jetzt schon in Großbritanniens Schulen beobachten kann.
Was ist Ihre Sorge, wenn die Delta-Variante durch die Schulen kursiert?
Wir wissen noch viel zu wenig über dieses Virus und die Langzeitfolgen, die es auslösen kann. Das gilt für Erwachsene, Jugendliche und für Kinder. Von daher ist es nach wie vor keine sinnvolle Option, die Gesellschaft durchseuchen zu lassen. Zumal wir fantastische Impfstoffe haben und weitere folgen werden. Daten aus England zeigen, dass Kinder, wenn auch selten, an einer Sars-CoV-2-Infektion erkranken können. Mediziner und Medizinerinnen warnen zum Beispiel vor dem PIMS-Syndrom und dem Post-Covid-Syndrom, auch Long Covid genannt.
Über Hygienekonzepte an Schulen wurde seit Pandemiebeginn stark gestritten. Nun wird auf Lüften, Abstand, Tests und das Tragen von Masken im Unterricht angesichts niedriger Inzidenzen teilweise bereits wieder verzichtet.
Nach den Ferien werden die Klassen wieder voll besetzt sein – was wichtig ist, denn der Wechselunterricht stellt eine große Belastung für Familien dar. Ohne zusätzliche Maßnahmen werden die Infektionen wieder zunehmen, es wird zu Quarantäneschleifen kommen, wie man es jetzt schon in Großbritanniens Schulen beobachten kann. Deshalb müssen wir uns jetzt bereits auf den Schulbeginn vorbereiten und eine klare Linie entwickeln: Kinder und Jugendliche müssen weiterhin regelmäßig getestet werden, um Infektionen frühzeitig zu erkennen und um Infektionsketten frühzeitig zu unterbrechen.
Außerdem sollten wieder Masken getragen werden, um die Infektionswahrscheinlichkeit zu senken. Und wir müssen für gut durchlüftete Klassenzimmer sorgen. Viele Kinder und Jugendliche haben bereits massiv unter der Pandemie gelitten. Unsere teils halbherzigen Maßnahmen im vergangenen Herbst und Winter, die zu monatelangen Schulschließungen geführt haben, waren daran ganz maßgeblich beteiligt.
Corona-Herbst: Statt Schnelltests lieber Lollitests in Schulen
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Mit der Delta-Variante werden die Schulen zum möglichen Hotspot während der Herbstwelle. Sie sollten sich gut vorbereiten, betont Virologin Brinkmann.
© Quelle: Frank Rumpenhorst/dpa
Gibt es denn Alternativen, um den Infektionsschutz an Schulen gewährleisten zu können?
Ventilatoren direkt in den Fensterscheiben wären zum Beispiel eine gute Lösung. Spezielle Luftfiltergeräte können ergänzen, müssen aber auch gewartet werden, sonst funktionieren sie nicht richtig. Aber mal ehrlich: Dass jedes Klassenzimmer deutschlandweit bis nach den Ferien ein individuell zugeschnittenes Belüftungssystem hat, halte ich für illusorisch.
Um früh genug sehen zu können, dass sich Infektionen anbahnen, plädiere ich deshalb für ein besseres Testsystem an den Schulen. Es gibt zwar die Antigenschnelltests, mit denen sich jeder und jede selber zu Hause testen kann, das ist schon mal ein gutes Tool. Aber die haben auch ihre Grenzen.
Wie meinen Sie das?
Bei den Tests gilt: Je einfacher die Probenentnahme und Durchführung für den Einzelnen ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass viele mitmachen. Und das ist eine wichtige Voraussetzung für die Wirksamkeit der Tests. Das Problem bei den derzeitigen Selbsttests ist, dass es keine Kontrolle gibt, ob der Abstrich korrekt durchgeführt wird. Etwas unangenehm ist die Probennahme auch, und sie springen nur an, wenn eine Person in genau diesem Moment relativ hohe Virusmengen an der Abstrichstelle hat.
Viel einfacher ist der sogenannte Lollitest oder ein Gurgeltest. Das spart Kosten und kann per PCR ausgewertet werden. Ein fantastisches Tool bei der derzeitigen niedrigen Inzidenz, das sehr effektiv ist, wenn es regelmäßig durchgeführt wird.
Wie funktionieren solche Tests genau?
In Nordrhein-Westfalen werden die Lollitests seit einiger Zeit landesweit an Grund- und Förderschulen durchgeführt. Die Schülerinnen und Schüler nehmen die Probe selbst, indem sie an einem Wattestäbchen lutschen und es in einen kleinen Becher werfen – im Klassenzimmer. Dieser Becher, in den bis zu 25 Wattestäbchen passen, wir sprechen hier von „pooling“, wird dann vom Labor abgeholt und die PCR wird durchgeführt. Idealerweise kommt das Ergebnis am gleichen Tag.
Ist dieser „Pool“ positiv, wird er aufgelöst, um herauszufinden, wer in der Klasse infiziert ist. Und logistisch klappt das sehr gut in NRW. Das ist alles eine Frage des Willens und der Organisation. Der große Vorteil dabei ist, dass der PCR-Test schon sehr früh anschlägt, also sensitiver ist als die Antigenschnelltests. Auch asymptomatisch infizierte Kinder können dann frühzeitig erkannt werden, ein größerer Ausbruch kommt gar nicht erst zustande. Das gleiche gilt auch für Unternehmen – ich kann da nur raten, weiterhin auf gute Testsysteme zu setzen, auch wenn schon viele geimpft sind.
Kinder gegen Covid-19 impfen? Die Daten sprechen dafür
Die Ständige Impfkommission (Stiko) hat den Weg dafür freigemacht, Kinder ab zwölf Jahren impfen lassen zu können – empfiehlt das aber nur bei bestimmten Vorerkrankungen. Wie sollen Eltern da entscheiden?
Die Impfung wirkt und ist der beste Schutz. Die Stiko verbietet die Impfung der Zwölf- bis 15-Jährigen auch nicht – sie sagt nur, dass es für eine grundsätzliche Empfehlung noch mehr Daten zur Impfung und zur Häufigkeit von PIMS- und Long-Covid-Fällen in dieser Altersgruppe braucht. Ich kann Eltern verstehen, die zögerlich sind und noch etwas abwarten wollen. Ich gehe aber davon aus, dass die Stiko ihre Entscheidung in naher Zukunft zugunsten der Impfung ändern wird.
In einigen Ländern werden die Jugendlichen bereits im großen Stil geimpft. Die neusten Daten aus den USA haben mich zumindest überzeugt, dass es keine gute Option ist, dass meine Kinder sich infizieren. Die Daten sprechen meines Erachtens klar für eine Impfung und gegen die natürliche Infektion.
Deshalb halte ich es für sinnvoll, dass Geimpfte noch so lange Maske tragen und Abstand halten, bis der Großteil der Bevölkerung geschützt ist, also mindestens ins Jahr 2022 hinein, vor allem in Innenräumen und im Winterhalbjahr.
Der Schutz vor schwerer Erkrankung ist bei der Delta-Variante noch gegeben. Aber können Geimpfte wegen der Varianten einfacher das Virus an Nichtgeimpfte weitergeben?
Ja, der Impfschutz ist nicht perfekt und wird durch neue Virusvarianten noch verringert. Es wird trotz Impfungen weiterhin zu Infektionen kommen. Und das ist, zumindest im Moment noch, die große Gefahr: Auch infizierte Geimpfte ohne Krankheitssymptome können vielleicht noch unbemerkt Nichtgeimpfte infizieren. Wir wissen momentan noch nicht, wie viele Viren Geimpfte noch ausscheiden können. Deshalb halte ich es für sinnvoll, dass Geimpfte noch so lange Maske tragen und Abstand halten, bis der Großteil der Bevölkerung geschützt ist, also mindestens ins Jahr 2022 hinein, vor allem in Innenräumen und im Winterhalbjahr.
Unklar ist auch noch, wie lange die Impfungen ausreichend vor Covid-19 schützen werden. Warum ist es so schwierig, das herauszufinden?
Die Forschung dazu ist sehr aufwändig. Und die mRNA-Impfstoffe sind die ersten, die im vergangenen Sommer mit klinischen Studien gestartet haben. Das ist also der früheste Startpunkt für Untersuchungen. Jetzt, nach einem Jahr, kann man erstmals zeigen, dass die T-Zell-Antwort solide ausfällt und auch noch neutralisierende Antikörper gebildet werden. Bislang sieht das sehr gut aus. Zumindest bei den Jüngeren könnte der Immunschutz nach den neueren Daten lange anhalten. Es wäre wirklich großartig, wenn der Impfschutz viele Jahre anhalten würde und wir nicht alle jährlich eine Auffrischimpfung benötigen würden, sondern vielleicht nur die Risikogruppen.
Vorerst beruhigt mich, dass das Coronavirus es noch nicht geschafft hat, dass die Impfungen nicht mehr wirken.
Wenn da nicht die große Unsicherheit mit den Virusvarianten wäre …
Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir noch einmal ohne jeglichen Immunschutz dastehen werden. Am wahrscheinlichsten ist, dass das Virus irgendwann nur noch leichte Erkältungen auslöst. Natürlich werden immer wieder Menschen schwer erkranken und an dieser Infektion sterben, aber die Dynamik, die wir in einer ungeschützten Bevölkerung gesehen haben, werden wir so nicht mehr erleben. Aber dieses Virus ist immer wieder für eine Überraschung gut – durch den ansteigenden Selektionsdruck, den eine gute Immunantwort auf das Virus ausübt, kann es schon passieren, dass sich dieser Erreger noch etwas Neues einfallen lässt. Das spricht wieder dafür, die Inzidenzen so niedrig wie möglich zu halten.
Welche Tricks könnte das Virus da nutzen?
Es könnte passieren, dass die neutralisierenden Antikörper gegen das Spikeprotein nicht mehr ausreichend greifen, das sehen wir jetzt bereits mit einigen Varianten. Aber vielleicht muss das Virus dafür anderswo einen Preis zahlen, kann dann vielleicht nicht mehr so gut in die Zellen eintreten und ist womöglich nicht mehr so ansteckend. Aber es ist schwer vorherzusagen, wie sich das entwickelt. Vorerst beruhigt mich, dass das Coronavirus es noch nicht geschafft hat, dass die Impfungen nicht mehr wirken.
Vielleicht existiert das nächste Pandemievirus schon, vielleicht taucht es auch erst in 20 Jahren auf.
Das heißt, die Pandemie wird uns wahrscheinlich auch 2022 weiterbeschäftigen?
Ich gehe davon aus, dass auch 2022 unsere Aufmerksamkeit auf das Coronavirus gerichtet sein wird. Die Pandemie muss weltweit unter Kontrolle kommen. Es ist dramatisch, wie lange und stark das Virus noch in den ärmeren Ländern wüten wird, weil es dort nicht genügend Impfstoff gibt. Die Weltgemeinschaft muss die Impfstoffe nun schnell produzieren und fair verteilen.
Und wer weiß, welcher Erreger mit Pandemiepotenzial als nächstes auftaucht.
Vielleicht existiert das nächste Pandemievirus schon, vielleicht taucht es auch erst in 20 Jahren auf. Die Corona-Pandemie hat auf jeden Fall gezeigt, dass die Weltgemeinschaft bessere Systeme braucht, um früher von besorgniserregenden Ausbrüchen mit neuen Erregern zu erfahren. Das war beim Coronavirus alles viel zu langsam. Solche Entwicklungen müssen gleich zu Beginn im Keim erstickt werden, was in unserer globalisierten Welt eine große Herausforderung ist. Deshalb braucht es eine koordinierte und schnelle Antwort, um das Schlimmste zu verhindern. Eine klare Linie, ein einheitliches Vorgehen und eine enge Koordination der Länder wären hier essentiell – mit nationalem Denken allein kommen wir nicht weiter.