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Vierte Welle: Welche Corona-Indikatoren braucht es für den Herbst?

Der Verlauf der täglichen Fallzahlen könne irgendwann an Aussagekraft verlieren, meint der Epidemiologe Christian Althaus.

Der Verlauf der täglichen Fallzahlen könne irgendwann an Aussagekraft verlieren, meint der Epidemiologe Christian Althaus.

Die vierte Corona-Welle hat Deutschland erreicht. Tagtäglich verzeichnet das Robert Koch-Institut (RKI) wieder mehr Neuinfektionen. Die Berliner Behörde hat auf der Basis von Modellierungen errechnet, wie sich das Infektionsgeschehen weiter entwickeln wird. Ihre Prognose: Bis Oktober wird die Zahl der Hospitalisierungen und Corona-Intensiv­patienten sowie die Sieben-Tage-Inzidenz erst langsam und dann schneller steigen, ehe im Januar und Februar schließlich bei allen Indikatoren mit Höchstwerten zu rechnen ist.

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Während der zweiten und dritten Welle bedeutete ein Anstieg der Fallzahlen vor allem eine Mehrbelastung für die Krankenhäuser. Infizierten sich mehr Menschen mit dem Virus, nahm gleichzeitig auch die Zahl der Intensiv­patientinnen und ‑patienten zu. Zu Höchstzeiten mussten Ärztinnen und Ärzte knapp 5800 Infizierte bundesweit auf den Intensivstationen behandeln. Droht mit der vierten Welle nun eine ähnliche Belastung des Gesundheits­systems?

Schweizer Forscher: Hospitalisierungen als Indikator wählen

„Zu einem gewissen Zeitpunkt wird die Inzidenz relativ hoch sein“, ist sich Prof. Christian Althaus, Leiter der Forschungsgruppe Immuno-Epidemiologie am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern, sicher. Es sei schwierig abzuschätzen, wie stark dadurch das Gesundheits­system belastet werde. „Aber ein sehr deutlicher Indikator sind die Hospitalisationen“, sagte er gegenüber dem Science Media Center (SMC).

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Genauer gesagt soll die Zahl der täglichen stationären Neuaufnahmen als Corona-Indikator gelten. „Anhand dieses Faktors kann man ziemlich gut abschätzen, wie man die nächsten Wochen und Monate verfahren möchte“, so Althaus. Die Schweiz habe hierbei einen Schwellenwert von 120 Neuaufnahmen pro Tag festgelegt. Auf Deutschland bezogen seien das etwa 1200 tägliche Hospitalisierungen.

Krankenhäuser müssen mehr Patientendaten melden

Auch die Bundesregierung hatte sich dafür ausgesprochen, die Corona-Lage nicht mehr allein anhand der Sieben-Tage-Inzidenz zu bewerten, sondern die Zahl der Krankenhaus­einweisungen von Covid-19-Erkrankten als zusätzlichen Parameter heranzuziehen. Eine neue Verordnung verpflichtet nun die Kliniken, mehr Daten zu melden, zum Beispiel zum Alter, zur Art der Behandlung und zum Impfstatus der Patientinnen und Patienten.

„Wir brauchen Hospitalisierungs- und Intensivraten als Parameter, um bei fortschreitender Durchimpfung der Bevölkerung eine Aussage über die Bedeutung der täglichen Melderaten treffen zu können“, sagte Prof. Matthias Schrappe, Infektiologe an der Universität Köln, Mitte Juli dem Redaktions­Netzwerk Deutschland (RND).

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Anteil der intensiv­pflichtigen Infizierten gesunken

Prof. Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin und Co-Direktor des European Observatory on Health Systems and Policies, verwies in Zusammenhang mit der Hospitalisierungs­rate jedoch auf eine noch unzureichende Datenlage. Mit der Verordnung sei man nur „einen halben Schritt“ gegangen. „Wir wissen zwar in Zukunft potenziell besser und schneller, welche Personen überhaupt ins Krankenhaus kommen, aber ob sie dann einen Tag oder 20 Tage dort sind, ob sie zwischendurch auf die Intensivstation kommen und beatmet werden, das wird nicht erfasst“, sagte er dem SMC.

Busse, der auch Mitglied des Fachbeirates des Bundes­gesundheits­ministeriums ist, hat sich die Auslastung der Krankenhäuser während der Pandemie genauer angeschaut. Im Zeitraum von März bis Mai 2020, also während der ersten Welle, seien 6 Prozent aller Infizierten auf die Intensivstationen gekommen. Während der zweiten Welle (Oktober bis Dezember 2020) seien es 2,3 Prozent gewesen, in der dritten Welle (März bis Mai 2021) nur noch rund 2 Prozent.

Weniger Intensivpatienten trotz hoher Inzidenzen

Vergleicht man diese Werte mit denen aus anderen europäischen Ländern wie Großbritannien oder Frankreich, zeigt sich, dass die Quote der intensiv­pflichtigen Infizierten in Deutschland verhältnismäßig hoch ist. „Die Koppelung von Inzidenz zu Krankenhaus­fällen beziehungsweise Inzidenz zu Intensivfällen in anderen Ländern können wir also nicht eins zu eins nach Deutschland übertragen“, erklärte Busse.

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Was im Fall von Großbritannien deutlich wird, ist, dass während der vierten Welle, die dort nun begonnen hat, insgesamt weniger Corona-Infizierte im Krankenhaus behandelt werden müssen. Ähnliches zeigt sich auch in den Niederlanden. Trotz einer Sieben-Tage-Inzidenz, die noch höher ist als während der zweiten und der dritten Welle, gibt es weniger Covid-Patientinnen und ‑Patienten, die eine intensiv­medizinische Behandlung brauchen.

Busse: Positivenrate entscheidend

„Wir sehen, dass die täglichen Neuaufnahmen um den Faktor drei etwa niedriger liegen als in den letzten Wellen“, so Busse. „Ob sich das in Deutschland genauso widerspiegelt, hängt auch davon ab, wie von den Ärzten hierzulande die Entscheidung getroffen wird, Patienten auf die Intensivstation zu legen.“

Er selbst hält die Positivenrate bei der Bewertung des Infektions­geschehens für einen wichtigen Faktor. Sie gibt an, wie viele der durchgeführten Corona-Tests tatsächlich positiv ausfallen. „Wenn sie hoch geht, dann sieht man, dass sich das Testen auf die tatsächlich Kranken konzentriert, wenn sie heruntergeht, dann wird mehr Normal­bevölkerung mitgetestet.“

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Vor allem junge Menschen infizieren sich

Besonders häufig positiv getestet werden zurzeit die jüngeren Altersgruppen. So liegt die Sieben-Tage-Inzidenz in der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen bei 40, bei den 20- bis 24-Jährigen sogar bei 45, wie aus dem wöchentlichen Lagebericht des RKI vom 29. Juli hervorgeht. Dass sich vor allem junge Menschen mit dem Coronavirus infizieren, dürfte etwa daran liegen, dass die Impfquote in den genannten Altersgruppen noch gering ist.

Prof. Andreas Schuppert, Arbeitsgruppenleiter am Institute for Computational Biomedicine und Direktor des Joint Research Center for Computational Biomedicine an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, geht davon aus, dass Infektionen auch auf andere Altersgruppen überspringen werden. „Man müsste schon eine extrem gute Brandmauer aufbauen, um das abschirmen zu können“, sagte er dem SMC. „Das wird sehr wahrscheinlich nicht gelingen.“

Je höher die Impfquote, desto höhere Inzidenzen sind verkraftbar

Weil die Mehrheit der Älteren bereits vollständig geimpft ist, sei es allerdings unwahrscheinlich, „dass sich innerhalb dieser Altersgruppe eine eigenständige Welle aufbauen kann“. Die Impfquote ist laut Schuppert einer von insgesamt fünf Faktoren, der über die Höhe der Fallzahlen entscheiden. Es gebe immer noch „eine erschreckend große Zahl von Menschen“, die nicht ausreichend vor einer Infektion mit dem Coronavirus geschützt ist. Bei den 18- bis 59-Jährigen seien es rund 200.000 Menschen, bei den über 60-Jährigen circa 182.000, „die, wenn alle infiziert werden, nicht durch Impfung oder Genesung geschützt sind und im Laufe der Zeit noch auf der Intensivstation landen“.

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Je höher die Impfquote ausfällt, desto höhere Inzidenzen könne Deutschland verkraften, so Schuppert. Mit der derzeitigen Impfquote könne eine Reduktion der Hospitalisierungen um den Faktor 2,5 bis 3 erzielt werden. Wären in der Altersgruppe der 35- bis 60-Jährigen 75 Prozent vollständig geimpft und bei den über 60-Jährigen rund 85 Prozent, ließe sich dieser Faktor auf 3 bis 4 steigern.

Schuppert: Inzidenzen sind „ein gutes Maß“

Wir wären klug beraten, die Sommermonate jetzt zu nutzen, um uns für den Herbst vorzubereiten und wirklich belastbare Daten kontinuierlich zu erfassen, sodass wir dann auch rechtzeitig Maßnahmen ergreifen können.

Andreas Schuppert,

Mathematikprofessor an der RWTH Aachen

Neben der Impfquote spiele nach Einschätzung des Mathematikers auch der Impfschutz vor einer Infektion eine Rolle für den Pandemieverlauf. Dieser schwanke zwischen 70 und 90 Prozent. „Das heißt, selbst bei einer hundertprozentigen Impfung werden wir immer noch mit der Delta-Mutante Menschen haben, die sich infizieren können, wir werden Inzidenzen haben, aber es wird von denen praktisch niemand mehr so schwer erkranken, dass er auf der Intensivstation behandelt werden muss“, sagte Schuppert. Berücksichtigt werden müsse auch die Altersverteilung der Infektionen, die Genesenenquote und die Dunkelziffer.

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Angesichts der vierten Welle glaubt Schuppert, dass die Inzidenzen weiterhin „ein gutes Maß“ sein werden. Vor allem in Deutschland, wo die Daten zu Krankenhaus­aufnahmen nicht in guter Qualität vorliegen würden, seien sie „ein guter, schneller Marker, den man nicht vernachlässigen sollte“. Er mahnte ferner: „Wir wären klug beraten, die Sommermonate jetzt zu nutzen, um uns für den Herbst vorzubereiten und wirklich belastbare Daten kontinuierlich zu erfassen, sodass wir dann auch rechtzeitig Maßnahmen ergreifen können.“

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