Vierte Welle: Die Warnungen der Wissenschaft waren da – doch die Politik hat sie ignoriert
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Viele Bundesländer haben die Maskenpflicht gelockert, vor allem in den Schulen, obwohl die Infektionszahlen gestiegen sind.
© Quelle: Fabian Sommer/dpa
Es ist ein schwerer Vorwurf, den CSU-Chef Markus Söder gegen die Corona-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler erhoben hat. In der BR-Fernsehsendung „Kontrovers – Das Politikmagazin“ vom vergangenen Mittwoch lastete er ihnen Versäumnisse bei der Bewertung der Infektionsdynamik an. „Es ist sehr beeindruckend, dass nahezu alle Virologen, Epidemiologen und Wissenschaftler die Wirkung dieser neuen Welle in ihrer Wucht und Geschwindigkeit nicht richtig eingeschätzt haben“, sagte Söder.
Die Aussage des bayrischen Ministerpräsidenten macht fassungslos – weil sie alles andere als zutreffend ist. Schon Ende Juli hatte das Robert Koch-Institut (RKI) vor einem baldigen, teils beschleunigten Anstieg der Corona-Neuinfektionen im Herbst und Winter gewarnt. Die Behörde hatte in einem zehnseitigen Leitfaden dazu geraten, die sommerliche Corona-Pause zu nutzen, um Vorkehrungen für die kommenden Wochen und Monate zu treffen. Das Ziel: die Zahl schwerer Krankheitsverläufe und Todesfälle begrenzen, die Belastung des Gesundheitswesens klein halten und mit so wenigen Maßnahmen wie möglich durch den Winter kommen.
Wieder ist Deutschland nicht vorbereitet für den Winter
Dieses Ziel hat Deutschland eindeutig verfehlt. Alle wichtigen Corona-Kennzahlen – darunter die Zahl der Neuinfektionen, die Sieben-Tage-Inzidenz, die Zahl der Covid-Intensivfälle und Todesfälle – sind in den vergangenen Tagen rasant gestiegen. Die Entwicklung erinnert an vergangenes Jahr, als Deutschland ähnlich unvorbereitet in den Winter gestolpert ist.
Dabei hätte es dieses Mal anders laufen können. Nicht nur das RKI hatte frühzeitig auf ein solches dynamisches Infektionsgeschehen hingewiesen, sondern – anders als CSU-Chef Söder behauptete – auch führende Corona-Expertinnen und -Experten. Warnungen gab es aus der Wissenschaft genug. Das Problem ist, dass die Politik diese ignoriert hat: Stattdessen lockerten mehrere Bundesländer ihre Corona-Regeln. Bayern hob die Maskenpflicht im Unterricht für Schülerinnen und Schüler auf, Nordrhein-Westfalen diskutierte sogar über eine Lockerung der Maskenpflicht im Einzelhandel, während das Saarland sogar die verpflichtende Abstandsregelung abschaffte.
Und dann verkündete im Oktober noch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dass er die epidemische Notlage von nationaler Tragweite auslaufen lassen will. Ein Schritt, den am 25. November auch die möglichen künftigen Regierungspartner SPD, Grüne und FDP gehen wollen. Angesichts rapide steigender Fallzahlen ist dieses Zeichen durchaus gefährlich. Denn die Pandemie ist alles andere als vorbei, das Coronavirus immer noch da.
Gegenseitige Schuldzuweisungen helfen nicht weiter
Experten und Expertinnen geben nun ihrerseits der Politik die Mitschuld an der aktuellen Corona-Lage. Frank Ulrich Montgomery warf den verantwortlichen Politikern etwa vor, „in Worten und Handeln an vielen Stellen versagt“ zu haben. Obwohl diese Kritik – im Gegensatz zu der des bayerischen Ministerpräsidenten – durchaus ihre Berechtigung hat, ist eines klar: Gegenseitige Schuldzuweisungen helfen nicht dabei, die vierte Welle zu brechen. Was es jetzt braucht, sind stringente Maßnahmen wie etwa eine gut organisierte, schnelle Booster-Kampagne. Letztere hatte das RKI schon in seinem Leitfaden von Ende Juli gefordert.
Menschen, deren Impfschutz nachlässt, müssen sich schnellstmöglich mit einer weiteren Impfdosis auffrischen lassen. Ebenso gilt es, Ungeimpfte von der Corona-Impfung zu überzeugen, um so die Impfquote zu erhöhen. Für beides braucht es eine verstärkte Aufklärungsarbeit – sowohl vonseiten der Wissenschaft als auch der Politik. Beide Seiten müssen nun an einem Strang ziehen, um Deutschland sicher durch den Corona-Winter zu bringen.