Experte: Wartezeiten bei Therapieplatzsuche „inakzeptabel“

Studie: Menschen mit Depression suchen sich im Schnitt erst nach 20 Monaten Hilfe

Die langen Wartezeiten bei der Therapieplatzsuche sind laut des Vorsitzenden der Stiftung Deutsche Depressionshilfe „inakzeptabel“.

Die langen Wartezeiten bei der Therapieplatzsuche sind laut des Vorsitzenden der Stiftung Deutsche Depressionshilfe „inakzeptabel“.

„Ganz plötzlich fühlte sich alles grau an, ich habe keine Freude mehr empfunden“, berichtet Julian Laschewski. Der heute 34‑Jährige hatte erstmals während seines Abiturs bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er verfolgte sogar seine Hobbys nicht mehr, weil sie ihm keinen Spaß mehr bereiteten. Doch zu seinem Hausarzt ging er erst, als er obendrein mit Magenschmerzen, Kopfschmerzen und Schwindelanfällen zu kämpfen hatte. Er war sich sicher: Da muss etwas Organisches dahinterstecken. Nach zahlreichen Arztbesuchen entpuppten sich seine Beschwerden dann nicht als Symptome einer körperlichen Erkrankung, sondern als Folgen einer psychischen Krankheit: einer Depression.

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Doch so schnell, wie Laschewski einen Termin beim Hausarzt bekam, sollte es mit der Suche nach einer Psycho­therapeutin oder einem Psychotherapeuten nicht gehen. Das erzählte er in einer von der Deutschen Depressionshilfe und der Deutsche-Bahn-Stiftung organisierten Pressekonferenz zur diesjährigen repräsentativen Befragung „Deutschland-Barometer Depression“. Er telefonierte zunächst mit seiner Krankenkasse, bekam eine Liste mit Fachärztinnen und Fachärzten und kontaktierte sie nach und nach. „Leider immer mit negativer Resonanz. Die Antwort war immer, dass es ein bis zwei Jahre dauern würde, bis man jemanden aufnehmen könnte“, erinnert er sich. Glücklicherweise bekam er schließlich einen Rückruf mit guten Nachrichten – aber auch dann musste er noch zwei bis drei Monate auf einen Therapieplatz warten.

Fast zwei Drittel nehmen erst nach 30 Monaten professionelle Unterstützung in Anspruch

Ähnliche Erfahrungen machen zahlreiche Menschen in Deutschland. In der am Dienstag vorgestellten Befragung berichten die Betroffenen von wochenlangen Wartezeiten. Im Schnitt waren es zehn Wochen für ein Erstgespräch, das sie erst dann bekamen, nachdem sie durchschnittlich fünf Therapeuten kontaktiert hatten. Bei Fachärztinnen und Fachärzten betrug die Wartezeit acht Wochen. „Da gibt es auch Zahlen, die noch deutlich höher sind“, sagte Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Er betonte: „Auch diese Zahlen sind bereits im Grunde inakzeptabel, wenn jemand eine schwere Depression hat, die mit Suizid­gefährdung einhergeht.“

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Die langen Wartezeiten sind auch deshalb für Betroffene so leidvoll, weil sich viele erst dann Hilfe suchen, wenn sie schon lange mit der Erkrankung gelebt haben. Im Schnitt dauert es 20 Monate, bis Erkrankte professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen, wie aus der Studie hervorgeht. Bei 65 Prozent der Betroffenen dauerte es noch länger, durchschnittlich 30 Monate. Laschewski sagte, dass ihm aufgrund seiner Erkrankung anfangs der Antrieb gefehlt habe, sich Hilfe zu suchen – so gehe es vielen Betroffenen.

„Das schafft man einfach nicht“: Mühselige Suche nach Psychotherapie belastet Betroffene

Auch Martha Wiencke aus Berlin äußerte ihren Verdacht erst nach einem Jahr erstmals gegenüber ihrer Familie. Sie hatte wie Laschewski zunehmend Interesse an allen Aktivitäten verloren – und das als eigentlich „vielseitig interessierter Mensch“. Sie suchte anschließend nach professioneller Hilfe. Nach elf Wochen bekam sie zwar ein Erstgespräch in einer psycho­therapeutischen Praxis, jedoch konnte ihr kein langfristiger Therapieplatz angeboten werden. „Wenn man zum Beispiel von der Krankenkasse so eine Liste bekommt, wo 20, 30 Therapeutinnen und Therapeuten draufstehen, ist das wie ein Berg“, sagte sie bei der Vorstellung der Studie. „Und wenn man grundsätzlich eine sehr geringe Frustrations­schwelle hat, was man bei der Depression nun mal häufig findet, dann kann man sich das einfach nicht leisten, bei jemanden anzurufen, einen Weinanfall zu kriegen und direkt beim nächsten anzurufen. Das schafft man einfach nicht.“

Hegerl betonte, dass die langen Wartezeiten grundsätzlich auf ein Ressourcen­problem zurückzuführen sind. Es mangele an Fachleuten und Angeboten zumal Psycho­therapeutinnen und Psycho­therapeuten in Einzeltherapie nur zwischen 40 und 60 Patientinnen und Patienten betreuen könnten. Deutschland brauche also mehr Angebote und vor allem mehr Fachärztinnen und Fachärzte – beispielsweise Psychiaterinnen und Psychiater –, da sie weitaus mehr Betroffene behandeln könnten.

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Außer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und Fachärztinnen und Fachärzte gebe es zudem auch andere Anlaufstellen für an Depression erkrankte Menschen. Beispielsweise Hausärztinnen oder Hausärzte, bei denen Betroffene viel schneller einen Termin bekommen. „Und wenn die Depression sehr, sehr schwer ist und wenn man vielleicht auch finstere Gedanken hat, kann man sich auch direkt an Ambulanzen wenden“, sagte Hegerl.

Experte: Es gibt keine einzige Ursache für Depression

Für die Untersuchung, die von der Deutsche-Bahn-Stiftung gefördert wird, wurden bundesweit 5050 Erwachsene unter 70 Jahren befragt. Davon gaben rund 1190 Menschen an, schon einmal eine Depressions­diagnose erhalten zu haben.

Zu den Hauptsymptomen einer Depression zählen Fachleute depressive Stimmung und/oder Verlust von Interesse und Freude über mehr als zwei Wochen – plus Nebenkriterien wie zum Beispiel Schlafstörungen, Erschöpfung und Suizidgedanken. Mittlerweile suchten sich mehr Menschen Hilfe als früher, die Erkrankung werde auch besser erkannt, sagte Hegerl. Die Anzahl der Suizide in Deutschland habe sich seit Beginn der 1980er-Jahre deutlich verringert.

Eine einzige Ursache für das Entstehen der Erkrankung gibt es laut Depressionshilfe in der Regel nicht. Die Veranlagung spielt Hegerl zufolge zwar eine große Rolle, die Gene allein erklärten es aber nicht. Auch Faktoren wie frühe Trauma­erfahrungen beeinflussten das Risiko. Die Vorgänge im Gehirn seien noch nicht komplett verstanden.

Hilfe für Betroffene

Sie leiden an Depressionen oder krankhafter Nieder­geschlagenheit oder haben düstere Gedanken? Bitte holen Sie sich Hilfe. Die Suche nach einem Therapieplatz dauert zwar oft lange, aber es gibt auch andere, schneller verfügbare Angebote, die Sie in Anspruch nehmen können.

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Das Infotelefon Depression hat die Telefonnummer (0800) 33 445 33. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar unter den Telefonnummern (0800) 11 10 111 oder (0800) 11 10 222 oder 116 123. Bei Notfällen können Sie unter 112 den Notarzt rufen.

Betroffene können ihre Erfahrungen im moderierten Onlineforum www.diskussionsforum-depression.de austauschen. Weitere Informationen für Betroffene und Angehörige gibt es etwa bei der Stiftung Deutsche Depressions­hilfe im Internet: www.deutsche-depressionshilfe.de.

RND mit Material der dpa

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